25 November 2022

Dem Ingrimm keinen Freibrief

Es war einmal ein alter König namens Lear, der hatte drei Töchter: Goneril, Regan und Cordelia hießen sie, und weil der alte Mann sein Ende nahen spürte und er in seiner verbleibenden Lebensspanne gerne noch ein bisschen die Sau raus lassen und Gas geben und unbeschwert von Zukunfts- und anderen Sorgen einfach eine gute Zeit haben wollte, ließ er seine Töchter kommen und setzte sie in Kenntnis, dass er die Last der Verantwortung fortan auf ihre Schultern zu laden gedenke. Zuvor aber versäumte er nicht, sie noch mit einer jener Double-Bind-Fragen zu konfrontieren, mit denen er seit jeher schon ihre zarten Seelen verdorben hatte: Sagt mir, meine Töchter, sprach er, da wir uns jetzt entäußern der Regierung, des Landbesitzes und der Staatsgeschäfte, welche von euch liebt uns nun wohl am meisten?

Ich!, schrie Goneril, nein, ich! schrie Regan, nur Cordelia schwieg, denn sie war Papas Liebling gewesen und durch seine Erziehungsmethoden nicht ganz so arg deformiert worden wie ihre Schwestern. Aber das half allen dreien nicht viel, denn über kurz oder lang kam des Vaters Zorn über sie alle. Hundert Ritter wollte er um sich haben, und keinen weniger. Das wollte er eben, denn er war der König. Naja, der Ex-König. Aber doch irgendwie immer noch der König. Wozu er die brauche? Was für eine unverschämte Frage! Gib der Natur nur das, was nötig ist, wütete er, so gilt des Menschen Leben wie des Tiers! Aber Papa, sagten die Töchter, jetzt sei doch mal vernünftig. Das ist doch kein nachhaltiger Umgang mit den knappen Ressourcen, die uns nach deiner langen und herrlichen Herrschaft noch verbleiben. Sie hatten dafür ja schließlich jetzt die Verantwortung. Sie hatten für die Zukunft Sorge zu tragen, die nicht mehr die seine war.

Oh, ihr Götter, rief der Alte, weckt in mir edlen Zorn! Und wie sie das taten. Rasend und völlig von Sinnen rannte der König hinaus auf die Heide in die Nacht und den Sturm, wo das Klima sich bereits radikal verschlechtert hatte: Blast, Wind’, und sprengt die Backen, schrie er gegen den Jahrhundertorkan an, bereits den dritten in diesem Winter, wütet, blast! – Ihr Katarakt’ und Wolkenbrüche, speit, bis ihr die Türm’ ersäuft, die Hähn’ ertränkt! Ihr schweflichten, gedankenschnellen Blitze, vortrab dem Donnerkeil, der Eichen spaltet, versengt mein weißes Haupt! Du Donner schmetternd, schlag’ flach das mächt’ge Rund der Welt; zerbrich die Formen der Natur, vernicht’ auf eins den Schöpfungskeim des undankbaren Menschen! So nimmt die Geschichte einen maximal fürchterlichen Verlauf, und erst als – trüb alles, tot und trostlos! – sämtliche drei Töchter nebst allen möglichen weiteren Chargen mausetot sind, haucht schließlich ganz am Ende auch dieser Grässlichste aller Väter endlich sein Lebenslicht aus.

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Auch in diesem Jahr werden wieder Dissertationen mit gesellschaftlicher Relevanz gesucht: Promovierte aller Fachrichtungen, die ihre Dissertation 2022 mit magna oder summa cum laude abschließen, sind aufgerufen sich bis zum 01. März 2023 für den mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung zu bewerben.

Detaillierte Informationen zum Wettbewerb sowie den Teilnahmebedingungen finden Sie hier. 

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Zorn ist ein heißes Gefühl. Es brennt und lodert, es spendet Energie und Kraft, es sengt weg, was man sonst vielleicht Bedrückendes empfinden müsste. Es ist ganz nach außen gerichtet, weg von sich selbst. Man ist nicht ganz bei sich, während man es empfindet, man ist wie verrückt, nicht Herr seiner Sinne. Als könne man nichts dafür. Ob Recht oder Unrecht: soll unsre Macht willfahren unserm Zorn, was man zwar tadeln, nicht hindern mag! All das hält der Zorn dem Zornigen vom Leib, was eine große Versuchung sein, ja, einen regelrecht süchtig machen kann nach diesem heißen, blutvollen Gefühl in diesen kalten, trüben und trostlosen Zeiten.

Auf Twitter wird Zorn jetzt wieder billig zu haben sein, nachdem Elon Musk unter Berufung auf die “vox populi” einer völlig groteske Online-Umfrage beschlossen hat, die mühsam gebändigten Katarakt’ und Wolkenbrüche der Desinformation und Hassrede dort wieder loszulassen. Auch bisher schon war das die dunkle Seite der Twitter-Erfahrung: sich triggern zu lassen von der dort unausweichlich anzutreffenden Dummheit und Niedertracht, einzusteigen in den Konflikt, sengend heißen Sarkasmus und Innuendo über diesen ganzen schwachsinnigen Sarkasmus-Innuendo dieser ganzen Schwachköpfe auszuschütten, die Zornschleuse zu öffnen und dieses heiße Gefühl pochend in den Schläfen zu spüren. Der Algorithmus stellt einem fortlaufend Gelegenheiten dazu in die Timeline, dazu ist er programmiert, und so halten wir, laute grüne, zornbebende Mini-Hulks, mit unserer entfesselten Energie die Schwungräder der sozialmedialen Aufmerksamkeitsökonomie am Laufen. Das wird jetzt mit der Rückkehr all der gesperrten Twitter-Accounts alles wohl noch mal um eine Potenz heftiger, so heftig womöglich, dass die ganze Maschine überhitzt, zerbirst und explodiert, und ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob ich das fürchten oder erhoffen soll.

Auf den deutschen Straßen sucht unterdessen der Zorn über die dort und anderswo unverdrossen klebenden und störenden Klimaaktivist*innen weiter nach einem Ventil. Im Freistaat Bayern gibt es seit 2017 eine Norm im Polizeiaufgabengesetz, die sich in dieser Hinsicht anzubieten scheint: Nach Art. 17 Abs. 1, 20 Abs. 2 PAG kann die Polizei Personen für bis zu 30, maximal 60 Tage in Gewahrsam nehmen, wenn das zur Abwehr einer Gefahr unerlässlich ist – entweder einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr einer Straftat (Nr. 2) oder einer nicht unmittelbar bevorstehenden, aber immer noch konkreten Gefahr “für ein bedeutendes Rechtsgut” (Nr. 3). Dass diese Norm nicht nur verfassungsrechtlich höchst fragwürdig, sondern zudem als Rechtsgrundlage, um Klimaaktivist*innen vorbeugend wochen- oder monatelang ins Gefängnis zu stecken, überhaupt nicht taugt, haben Ralf Poscher und Maja Werner in dieser Woche auf dem Verfassungsblog mit, wie ich finde, geradezu zwingenden Argumenten dargelegt. Die bayerische Justiz –jeder Zoll ein König: Blick’ ich so starr, sieh, bebt der Untertan – sieht das einstweilen anders, und bis das Bayerische bzw. Bundesverfassungsgericht darüber entschieden haben, wird sich der Volkszorn vermutlich eh wieder beruhigt haben.

Mitten in Deutschland kann man also, wenn man genügend Autofahrer genügend zornig gemacht hat, über viele Wochen ins Gefängnis gesperrt werden. Das geht hier. Das wird hier gemacht, das gibt der Rechtsstaat hier offenbar her. Warum macht uns das eigentlich nicht zorniger?

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:

RALF POSCHER & MAJA WERNER prüfen, ob das bayerische Gewahrsam als letztes Mittel gegen Aktivist*innen der „Letzten Generation“ eine rechtswidrige Maßnahme darstellt.

TILL ARNE STORZER ordnet das EuGH-Urteil im Fall Deutsche Umwelthilfe vs. Bundesrepublik Deutschland ein und erklärt, warum das Urteil gebietet, das Umweltrechtsbehelfsgesetz zu ändern und Klagemöglichkeiten zukünftig durch Generalklauseln zu sichern.

Was das Wahlalter angeht, herrscht aktuell in Deutschland ein Flickenteppich. THORSTEN FAAS & ARNDT LEININGER argumentieren anhand ihrer eigenen politikwissenschaftlichen Studien, warum eine einheitliche Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre angebracht wäre.

MARTIN MORLOK geht noch einmal die vom Berliner Verfassungsgerichtshof festgestellten Wahlfehler bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl durch und findet das Urteil insgesamt ziemlich fragwürdig.

Das Berliner Richterdienstgericht hat den Antrag der Justizsenatorin darüber, eine Richterin und ehemalige Bundestagsabgeordnete der AfD nach § 31 DRiG in den Ruhestand zu versetzen, zurückgewiesen. ANDREAS FISCHER-LESCANO hält das für eine Fehlentscheidung.

ANNA-LENA HOLLO gibt einen Überblick über die ersten beiden Hauptsacheentscheidungen des Bundesverwaltungsgericht zu Coronamaßnahmen aus den Anfangszeiten der Pandemie.

Vier Bundesländer haben die Isolierungspflicht für Covid-19-Infizierte abgeschafft. CLARA FOLGER & DANIEL WOLFF halten das für verfassungsrechtlich geboten.

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Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht lädt in Kooperation mit der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart zu der Vortragsreihe „Ukraine?!- Völkerrecht am Ende?” ein. Am 29.11.2022, 18h, widmet sich Florian Kriener der Frage „Sanktionen gegen Russland: Eine völkerrechtswidrige Intervention?”

Informationen zum Programm und zur Teilnahme in der WLB gibt es hier. 

Hier geht es zur Online-Teilnahme. 

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DANIEL RIETIKER untersucht, ob der EGMR beim Schutz der Rechte der Gastarbeiter*innen (und ihrer Familien), die in Katar im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft 2022 gestorben sind, eine Rolle spielen könnte.

Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für den Europäischen Rechtsakt zur Medienfreiheit (EMFA) veröffentlicht, der einen gemeinsamen Rahmen für Mediendienste im Binnenmarkt schaffen soll. JOAN BARATA analysiert die EMFA-Bestimmungen, die auf Online-Dienste abzielen.

ORAN DOYLE analysiert das Urteil Costello v Ireland, in dem der Oberste Gerichtshof Irlands entschied, dass die Ratifizierung von CETA die irische Rechtshoheit verletzen würde.

Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs hat entschieden, dass die schottische Regierung nicht befugt ist, ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten. STEFAN THEIL gibt einen Überblick über die rechtlichen Fragen des Urteils. SIMON JONES erläutert die Hintergründe des Arguments der schottischen Regierung.

Die Parteien der neuen israelischen Koalition wollen alle eine Override-Klausel in das israelische Verfassungssystem einführen, das es der Parlamentsmehrheit erlaubt, künftig von den Verfassungsgesetzen abzuweichen. Vor diesem Hintergrund erklärt RIVKA WEILL, worum es dabei geht und warum das Argument, dass so etwas in Kanada ja auch möglich ist, nicht zieht.

Elon Musk hat Twitter-Nutzer*innen über die Freischaltung von Donald Trumps Account abstimmen lassen. So einfach gehe Plattformdemokratie aber nicht, meint MATTHIAS C. KETTEMANN und fordert eine rationalere Plattform-Governance.

In seinem Bericht von der Konferenz „Künstliche Intelligenz – Herausforderungen und Chancen“ zeichnet ROMAN LEHNER die Debatte um die Verteilung von Verantwortung zwischen Mensch und KI nach.

In der zweiten Staffel unseres RuleOfLaw-Podcast mit dem Anwaltverein ist konzentrieren wir uns auf Angriffe auf Anwält*innen und ihre Arbeit im Kontext des demokratischen Rückschritts. In der zweiten Folge spricht LENNART KOKOTT mit DMITRI LAEVSKI über Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Belarus.

So viel für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Dem Ingrimm keinen Freibrief, VerfBlog, 2022/11/25, https://verfassungsblog.de/dem-ingrimm-keinen-freibrief/, DOI: 10.17176/20221126-001621-0.

3 Comments

  1. Christian Mai Sat 26 Nov 2022 at 04:55 - Reply

    “Warum macht uns das eigentlich nicht zorniger?”
    Mich macht das aber so richtig zornig.

  2. Bruce Sat 26 Nov 2022 at 10:34 - Reply

    Ich wüßte nicht, warum es mich zornig machen sollte, dass man, “wenn man genügend Autofahrer genügend zornig gemacht hat, über viele Wochen ins Gefängnis gesperrt werden” kann, da § 315b – Gefährliche Eingriffe in den Straßenverkehr – insoweit immerhin Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe vorsieht.

    • Maximilian Steinbeis Sat 26 Nov 2022 at 11:50 - Reply

      Hier geht es um Polizeirecht, nicht um Strafrecht. Die Leute werden eingesperrt nicht, weil sie etwas gemacht haben, sondern damit sie nichts tun.

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