23 August 2019

Öffentliches Recht als öffentliches Gut

Der Verfassungsblog ist ein Glücksfall. Für die Rechtswissenschaft, für die Öffentlichkeit. Und auch für mich ganz persönlich. Denn die Entwicklung von Max Steinbeis’ Verfassungsblog ist eine von den Unternehmungen, bei denen man stolz und froh ist, (fast) am Anfang dabei gewesen zu sein. Glücklich darüber, was aus einer zunächst noch vagen Idee geworden ist und wie viel man dabei gelernt hat. Und dankbar dafür, dass Max Steinbeis mit journalistischer Leidenschaft, verfassungspatriotischem Idealismus und bajuwarischer Resilienz nun über zehn Jahre an diesem stets prekären Vorhaben festgehalten und es nicht nur in einem überschwänglichen Moment, sondern täglich gewagt und gestaltet hat. 

Der Verfassungsblog ist ein Glücksfall. Die Konstellation von Personen und Institutionen, die seine Entwicklung zu einem transnationalen Debattenforum in Sachen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik ermöglichte und weiter ermöglicht, inzwischen erweitert um das WZB und das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht – sie mag auf den ersten Blick ganz zufällig erscheinen. Am Wissenschaftskolleg zu Berlin hatte sich ein Forschungsprojekt konstituiert, dessen Beteiligte bei ihrem Versuch einer Neuverortung des Rechts im Kontext seiner Nachbarwissenschaften von Anfang an auf neue, auch digitale Formate setzten. Schon seit einer Weile hatten sie das Aufblühen der Blawgs, der juristischen Blogs, in der anglo-amerikanischen Blogosphere beobachtet – und dabei immer wieder gerätselt, warum die Zahl der verfassungsrechtlich interessierten und ausgewiesenen juristischen Blogger im deutschen Sprachraum so überschaubar geblieben war. Waren es nicht immer wieder Juristen gewesen, die sich in der Mediengeschichte durch publizistische Experimentierfreude hervorgetan und neue Entwicklungen angestoßen hatten? Schon die juristischen Zeitschriftengründungen des  neunzehnten Jahrhundert gaben davon Zeugnis. Und das turbulente Jahr 1968 war auch ein Jahr zahlreicher juristischer Publikationsprojekte gewesen, die das Recht neu und ambitioniert in der Gesellschaft zu verorten suchten – manchmal mit nachhaltigem Erfolg, mitunter schon in der Planungsphase gescheitert, aber fraglos immer als Teil eines höchst lebendigen und synergetischen diskursiven Experimentierfelds. 

Das Zögern der Staatsrechtslehrer

Doch wo waren sie jetzt, die Verfassungsrechtler*innen? War es nicht Zeit für neue mediale Formen des Verfassungsdiskurses? Schließlich war der offene Zugang zu juristischen Informationen aus aller Welt, den die Digitalisierung ermöglicht hatte, zugleich Folge und Bedingung jenes präzedenzlosen Aufschwungs des globalen Konstitutionalismus, den wir seit 1989 erlebt hatten. Das Ringen um einen europäischen Verfassungsvertrag als neue Grundordnung der EU war zwar gescheitert, aber die Frage nach dem Verhältnis und den Schnittstellen von Recht und Politik blieb unvermindert aktuell und verlangte nach neuen Orten des Gesprächs. Foren, in denen auch vergleichende Blicke gewagt, Methoden und Maßstäbe für den Umgang mit dem kompetitiven, aber auch komplementären Neben- und Miteinander verschiedener Rechtssysteme und normativer Ordnungen entwickelt werden konnten, das mit Globalisierung und Europäisierung des Rechts und der Politik Teil des Alltags geworden war. Warum war die Rechtswissenschaft dennoch so zögerlich, die publizistischen Möglichkeiten des Netzes zu ergreifen? Wie konnte  man Rechtswissenschaftler*innen zum verfassungsrechtlichen Bloggen gewinnen? 

Auch Maximilian Steinbeis stellte sich 2009 diese Fragen. Während wir im Grunewald noch vorsichtig überlegten, hatte er mit dem Verfassungsbloggen einfach schon mal angefangen – und  versuchte nun, sein digitales Tagebuch zu einem mehrstimmigen Forum zu erweitern. Wir kamen ins Gespräch, aus der Konstellation wurde eine Kooperation, die schnell einen illustren Kreis von Autor*innen versammelte, ein unkonventionelles Forschungsprojekt wurde, bald auch neue juristische Blogprojekte anregte und Verbindungen zu anderen europäischen Blogs knüpfte. 

Klare Worte im Strukturwandel 

In der Retrospektive verklären sich die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Anfangs zu einem Narrativ des Erfolgs, das fast etwas Zwangsläufiges hat. Der eigentliche Glücksfall war vielleicht, dass es gelang, um Max Steinbeis’ journalistische Leidenschaft herum einen Raum zu schaffen für etwas, das die Wissenschaftstheorie mit dem schwer übersetzbaren Begriff serendipity bezeichnet. Am Beispiel des Verfassungsblogs und seiner Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren wird ganz einfach greifbar, was damit gemeint ist: ein Prozess, in dem sich etwas Neues entfalten kann – weil dafür eine Konstellation und ein Freiraum geschaffen wurde, in dem sich beabsichtigt und zugleich absichtslos Dinge ereignen können, die man vorab für möglich hielt, ohne sie schon genau beschreiben oder gar exakt planen zu können. Wie jeder Text, so hat auch das Unternehmen Verfassungsblog zahllose ungeschriebene Fußnoten, unsichtbare Referenzen, die auf Glücksfälle und Zufälle, Umwege und Pfadabhängigkeiten verweisen – und auf die, deren Unterstützung, Kooperationsbereitschaft, Vertrauen und Engagement, deren Kritik und Möglichkeitssinn an wichtigen Stellen entscheidend waren, auch wenn sie unsichtbar geblieben sind.

Ein Glücksfall war im Rückblick auch die verspätete Rezeption des rechtswissenschaftlichen Bloggens im deutschsprachigen Raum. 2009 waren die Zeiten schon wieder vorbei, in denen „das Internet als Anbruch einer goldenen Ära freier Kommunikation und entmachteter Öffentlichkeit verstanden wurde“. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit in der und durch die Digitalisierung erwies sich als grundlegende Transformation etablierter medialer Strukturen. Als Wandel mit Risiken, in dem jede neue publizistische Initiative nur ein Wagnis sein konnte. Die anhaltende Zeitungskrise (die auch einst stolze Printmedien über kurz oder lang mit dem finalen Redaktionsschluss bedroht), durchgreifende Ökonomisierung und wachsender Aktualitätsdruck, die Konkurrenz durch „Soziale Medien“, das Verschwinden des Journalisten als Gatekeeper, die Debatte um Fake News und ein immer schärferer Ton in der öffentlichen Debatte – in diesem Umfeld hat sich das Experiment Verfassungsblog unerwartet dynamisch weiterentwickelt, wurde besser und interessanter, bunter und gediegener. Ein Ort klarer Worte und fundierter Argumente – so, wie wir es 2013 zu Beginn des Forschungsprojekts an der Humboldt-Universität gewünscht hatten, bei dem es darum gehen sollte „in exemplarischer Weise in der elektronischen Publikationsform des Verfassungsblogs die Möglichkeiten und Grenzen eines rechtswissenschaftlichen Diskurses zu erproben und zu reflektieren, der vom deutschen und europäischen Verfassungsrecht ausgeht und dieses als Kernthema verhandelt, dabei Disziplinen verbindet und nationale Grenzen überschreitet.

Ort öffentlicher (Rechts-)Wissenschaft

Der Verfassungsblog ist indes kein „Wissenschaftsblog“ (und lag schon deswegen stets quer zu den Förderlinien allfällig geforderter „besserer Wissenschaftskommunikation“, die sich meist schnell als brave Forschungs-PR entpuppt – und von ängstlich um ihre Reputation besorgten Akteur*innen immer öfter auch genau so gewollt ist). Er ist ein wissenschaftliches und journalistisches Unternehmen, dessen Herausgeber die pointierte tagespolitische Stellungnahme nicht scheut – und zugleich ein Forum für Wissenschaft in Öffentlichkeit, ein Ort öffentlicher (Rechts)wissenschaft, die sich selbst als Teil der Gesellschaft versteht, in und mit der sie ihre Themen verhandelt. Hier kann man lesen und mitverfolgen, wie Wissenschaftler*innen (und Praktiker*innen) an den Schnittstellen von Recht und Politik Begriffe und Positionen entwickeln, um Argumente ringen, sich kommentieren und kritisieren, Allianzen bilden und Zerwürfnisse austragen. Wer etwas zu sagen hat, kann sich an der Debatte beteiligen – und wird zitiert. Auch in Karlsruhe und Luxemburg. 

Die virtuelle Öffentlichkeit im Netz lässt sich nicht gegen Fachzeitschriften, Monographien und Tagespresse ausspielen. Sie erweitert unsere Gesprächs- und Lernräume, bietet neue Möglichkeiten des Streits und der Selbstvergewisserung, ist Bar und Bühne. Hier lässt sich etwas lernen über die Verfassung des Staates und der Gesellschaft.“ Ich zögere, hier aus dem Archiv vollmundiger Verfassungsblog-Selbstdarstellungen zu zitieren – aber es ist eben einfach wahr geworden, was wir vor ein paar Jahren imaginierten:  Der Verfassungsblog hat den Kommunikationsraum deutschsprachiger Rechtswissenschaft nicht nur erweitert, sondern auch vertieft. Eine eng an die deutsche Sprache gebundene Disziplin wurde dem transnationalen Austausch geöffnet. Sicher, die „forcierte Mehrsprachigkeit“, die sich die Beteiligten der ersten Kooperationsphase auf die Fahnen geschrieben hatten, erwies sich im schnell getakteten verfassungspolitischen Alltagsgeschäft als kaum realisierbar. Häufig laufen die transnationale englischsprachige Debatte zu Themen des europäischen Verfassungsrechts und der mitgliedstaatlichen Verfassungspolitik und die deutschsprachige Befassung mit Themen des nationalen Verfassungsrechts parallel und scheinbar unverbunden nebeneinander her. Natürlich gibt es Querverbindungen und explizite Bezugnahmen. Aber schon die Präsenz eines „anderen“, anderssprachigen, die nationalen Verfassungskultur überschreitenden Diskurses erlaubt eine Verortung in der eigenen Rechtskultur, die Autor*innen und Leser*innen den kritisch-reflexiven Blick auf sich selbst und das konstruktive Gespräch mit anderen erlaubt. 

Kontroversen kultivieren

Ist das Medium des wissenschaftlichen Blogs geeignet, die intra- und interdisziplinäre Kommunikation im Bereich der Rechtswissenschaft und ihrer geistes- und sozialwissenschaftlichen „Nachbarwissenschaften“ zu verbessern?“. Antworten auf diese forsche Ausgangsfrage überlasse ich gern Verfassungstheoretikern, Rechts- und Medienhistorikern künftiger Generationen. Festzustellen ist: das neue Medium hat – nicht nur im Verfassungsblog-Seminar  – ein Nachdenken über Formate und Textsorten, Zitierweisen und Stilfragen angeregt, und ist ein Ort geworden, an dem „Rechtswissenschaft ihren Ansprüchen an Originalität, Relevanz sowie gedankliche Eigenständigkeit in der Erkenntnisproduktion gerecht werden kann.“ Der Verfassungsblog ist aber auch Auftrag, hier und anderswo Orte intensiver, kontroverser und gründlicher Auseinandersetzung und Debatte zu erhalten, Meinungsvielfalt zu kultivieren und jenseits allfälliger Verengungen des öffentlichen Diskurses robuste Freiheitsräume zu ermöglichen. Natürlich gibt es auch hier thematische Schwerpunktsetzungen, politische Positionierungen und redaktionelle Entscheidungen, über die man streiten kann. Ein publizistisches Medium ist eben keine Modelleisenbahn, die Welt wird nicht eins zu eins abgebildet. 

Der Verfassungsblog bleibt ein prekäres Unternehmen, angewiesen auf die Courage und den Möglichkeitssinn des Anfangs, nicht nur wegen der ungelösten Finanzierungsfragen, die uns alle umtreiben sollten. Ohne Max Steinbeis und seine Mitstreiter*innen im Maschinenraum des Blogs, ohne fleißige Redakteur*innen und umtriebige Netzwerker*innen, ohne die, die ihre Zeit einsetzen, ihre Reputation und ihre Kompetenzen – ohne die gäbe es den Blog nicht. Der Verfassungsblog ist ein öffentliches Gut. Unsere wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeiten profitieren jeden Tag davon. Er bleibt Glücksfall, Wagnis und Aufgabe. Erhalten wir ihn als unabhängige Diskursplattform. Wir machen uns damit selbst ein Geschenk. 


SUGGESTED CITATION  Kemmerer, Alexandra: Öffentliches Recht als öffentliches Gut, VerfBlog, 2019/8/23, https://verfassungsblog.de/oeffentliches-recht-als-oeffentliches-gut/, DOI: 10.17176/20190823-201017-0.

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