Über den US Supreme Court und warum es so nicht weiter geht. |
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So geht das nicht weiter mit diesem Richtern, sagen sie. Dass diese elitäre Juristen- und Expertokratenkaste sich fortwährend herausnimmt, sich dem Willen des Volkes in den Weg zu stellen, sagen sie – das ist nicht demokratisch. Dass die einfach unsere Gesetze als menschenrechts- und verfassungswidrig erklären und unser Programm, wofür wir gewählt sind, durchkreuzen – das müssen wir uns nicht bieten lassen, sagen sie. Wenn wir gewählt sind und zur Ausübung von Macht legitimiert, dann werden wir unsere Macht einsetzen, ihren Widerstand zu brechen.
Es ist der autoritäre Populismus, der dies sagt: in Ungarn, in Polen, in so vielen anderen Ländern inner- und außerhalb Europas. Autoritarismus und Verfassungsgerichte, so scheint es, sind natürliche Feinde, und man erkennt die autoritäre Gefahr geradezu daran, dass sie sich mit der Unabhängigkeit der Justiz im Allgemeinen und der ihrer Macht, Gesetze aufzuheben, im Besonderen absolut nicht abfinden kann. Wo immer der autoritäre Populismus an die Macht gelangt, ist es das Verfassungsgericht, das er sich als erstes vor die Flinte nimmt.
Die USA sind indessen das erste und bislang einzige Land, in dem der autoritäre Populismus die Macht auf demokratischem Weg nicht nur errungen, sondern sie auf dem gleichen Weg auch wieder verloren hat (vorläufig jedenfalls). Trump ist abgewählt, die Republikaner von der Macht vertrieben – und jetzt sind es ihre Gegner, die in scheinbar in ganz ähnlichen Worten ganz ähnliche Dinge ankündigen: So geht das nicht weiter mit diesen Richtern, ihr Widerstand ist undemokratisch und nicht länger hinnehmbar usw.. Im Visier haben sie dabei insbesondere den Obersten Gerichtshof. Alle möglichen mehr oder minder radikalen Optionen werden seit Monaten diskutiert, wie man sich die dort von den Republikanern während der vier Trump-Jahre und zuvor geschickt und gezielt fest zementierten rechten 6:3-Mehrheit wieder loswerden könnte. Um diese Optionen und die jeweils für und wider sie sprechenden Argumente zu sichten, zu analysieren und zu Vorschlägen zu verdichten, hat US-Präsident Joe Biden drei Dutzend der angesehensten liberalen Juraprofessor_innen des Landes in eine Kommission berufen. Die hat am letzten Mittwoch öffentlich getagt.
Eine Stellungnahme, die dabei für besonders viel Aufsehen gesorgt hat, kam von dem jungen Harvard-Professor Nikolas Bowie: Aus dessen Sicht ist die Zurichtung des Supreme Court als Instrument rechter Politik nur ein Symptom eines viel tiefer liegenden Problems, nämlich des Rechts der Justiz, Gesetze außer Kraft zu setzen, die sie für verfassungswidrig hält. Die gängige Orthodoxie, die sog. judicial review sei förderlich für Demokratie, Gerechtigkeit und zum Schutz von Minderheiten vor der Tyrannei der Mehrheit, bestreitet Bowie so passioniert, glashart und schonungslos wie schon lange niemand mehr. Praxis wie Theorie sprächen für das Gegenteil: Dass die Meinung von fünf Harvard- oder Yale-Absolvent_innen auf der Washingtoner Richterbank ausschlaggebend dafür sein soll, ob ein Gesetz gilt oder nicht, hält Bowie für einen Anschlag auf die demokratische Gleichheit. Was die Interessen von Grundrechtsträger_innen und Minderheiten betrifft, so zeige die Erfahrung überdeutlich, dass diese bei der Kongressmehrheit jedenfalls nicht schlechter aufgehoben seien als bei einem Gericht, das in seiner langen Geschichte dem Gesetzgeber gerade und vor allem immer dann in den Arm gefallen ist, wenn er tatsächlich mal gegen die Diskriminierung und Drangsalierung verletzlicher Minderheiten vorgehen wollte.
Aus deutscher Sicht liest sich das schockierender als aus amerikanischer. In Deutschland ist die Orthodoxie vom Bundesverfassungsgericht als "Bürgergericht", bei dem die von der Staatsgewalt bedrängten Grundrechtsträger_innen Zuflucht finden, weiterhin mächtig, und nicht ohne Grund (wenngleich mir darin gelegentlich noch zu viel muffiges Ressentiment gegenüber Politik und Parlamentarismus mitschwingt). In den USA dagegen ist Kritik am judicial review nicht so neu. Warum das so ist, kann man an einem Urteil sehen, das der Supreme Court just am Tag nach der Kommissionssitzung verkündete und wie darauf angelegt erscheint, die ärgsten Befürchtungen seiner Kritiker zu bestätigen. |
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Im Fall Brnovich v. DNC geht es um die jüngsten Verschärfungen der Regularien für die Stimmabgabe bei demokratischen Wahlen im republikanisch regierten Bundesstaats Arizona. Überall im republikanisch regierten Teil der USA erlassen die Staaten gerade Gesetze, die darauf abzielen, Minderheiten die Stimmabgabe überproportional zu erschweren. Schwarze Amerikaner an der Stimmabgabe zu hindern und so ihr kraft Verfassung garantiertes Bürgerrecht hinterrücks zu entwerten war in weiten Teilen des Landes bekanntlich über viele Jahrzehnte geübte Praxis. Es war der Gesetzgeber und nicht die Justiz, der dieser Praxis mit dem Voting Rights Act von 1965 schließlich ein Ende bereitete. Der Supreme Court war es hingegen, der 2013 die zentrale Norm dieses Gesetzes zertrümmerte mit der Begründung, der Kongress habe ihren Anwendungsbereich zu lange nicht mehr überprüft.
Im jetzigen Fall ging es um eine weitere Norm dieses Gesetzes, die es den Staaten verbietet, das Recht, an Wahlen teilzunehmen, aufgrund Rasse oder Hautfarbe zu verweigern oder einzuschränken. Samuel Alito unterzieht im Namen der rechten Mehrheit auf der Richterbank diese Norm einer Auslegung, die darauf hinausläuft, dass jedenfalls in Arizona und auch sonst schon alles in bester Ordnung ist. Was mir noch bemerkenswerter erscheint, ist aber das Minderheitsvotum der drei liberalen Richter_innen, verfasst von Elena Kagan. Dieses Votum ist viel mehr als eine abweichende Meinung zur juristisch korrekten Anwendung und Auslegung geltenden Rechts. Es ist eine Anklageschrift. Es klagt die Richtermehrheit an, den Voting Rights Act, ein "Monument amerikanischer Größe", das die Nation vor seinen "niedrigsten Impulsen" schütze, "umgeschrieben" zu haben – um ihn "zu schwächen" und zu "beschädigen" (3).
Man erkennt ein funktionierendes Verfassungsgericht nicht notwendig daran, dass es der progressiven Sache dient. Ein Verfassungsgericht ist nichts Progressives und nichts Konservatives, sondern eine Institution, die idealerweise beiden das Koexistieren erleichtert. Gut funktionierende Verfassungsgerichte sind "Deutungsöffner" (Anuscheh Farahat). Sie sind Orte, an denen sich die Verfassungsinterpreten als Verschiedene begegnen und ihre Verschiedenheit prozessieren können: Opposition und Regierung, Bürger_innen und Bürokratie, Ohnmächtige und Mächtige, Minderheit und Mehrheit, Progressive und Konservative – Verschiedene mit verschiedenen Interessen, Prioritäten und Präferenzen, die ihre Verschiedenheit als verschiedene Deutungen der gleichen Verfassung artikulieren, argumentativ verteidigen und zur Entscheidung bringen können. Das ist auch das Tolle an Minderheitsvoten: Bis in die Entscheidung selbst hinein wird die Deutungsoffenheit der Verfassung sicht- und erfahrbar.
Der US Supreme Court ist schon längst kein Deutungsöffner mehr. Minderheit und Mehrheit streiten sich nicht um verschiedene Deutungen des gleichen Gesetzes, sondern die Minderheit wirft der Mehrheit unverhohlen vor, in bösem Glauben zu handeln und in Wahrheit das Gesetz "schwächen" und "beschädigen" zu wollen – und wer wollte ihr angesichts der Justizpolitik der Republikaner der letzten Jahre diesen Vorwurf mitsamt dem unfassbar bitteren und sarkastischen Tonfall, in dem er vorgebracht wird, verübeln. Diese Justizpolitik hat mit der aller autoritär-populistischen Regierungen gemeinsam, auf eine "Deutungsschließung" abzuzielen, auf dass der eigenen Deutung der Verfassung eben niemand Verschiedenes mehr in die Quere kommt, und die Justiz personell und programmatisch voll in den Dienst dieser Absicht zu zwingen. Sie macht die Gerichte kaputt, während diejenigen, die diese autoritär-populistische Justizpolitik rückabwickeln oder revidieren wollen, sie reparieren wollen. So gesehen ist die vermeintliche rhetorische Parallele zwischen beiden nichts als ein Bluff.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
In Ungarn könnte im nächsten Frühjahr ebenfalls der autoritäre Populismus eine Wahlniederlage erleiden, wenn es der vereinigten Opposition gelingt, eine Mehrheit im Parlament zu erringen. Nur hat Viktor Orbán für diesen Fall konstitutionell vorgesorgt. Solange die Verfassung, die er sich und seiner Fidesz-Partei mittels ihrer Zweidrittelmehrheit auf den Leib geschneidert hat, in Geltung ist, hat die Regierung gewordene Opposition kaum eine Chance zum Erfolg. Vor diesem Hintergrund ist die Debatte, wie und unter welchen Bedingungen die Regierung auf den konstitutionellen Reset-Knopf drücken darf, voll entbrannt. Die Präsidenten von Verfassungsgericht und Oberstem Gerichtshof, beides getreue Orbán-Gefolgsleute, warnen vor einem drohenden Staatsstreich, was RENÁTA UITZ analysiert. ANDREW ARATO und GÁBOR HALMAI plädieren dafür, die Verfassung Ungarns mit Hilfe eines Runden Tisches nach dem Vorbild von 1989 zu erneuern.
In Polen hat der EGMR erst vor wenigen Wochen mit seinem Xero-Flor-Urteil dem PiS-hörige Verfassungsgericht seinen Status als Gericht abgesprochen. Jetzt hat der Straßburger Gerichtshof nun einen neuen Schlag gegen die polnischen Justizreformen geführt: Es geht um die Absetzung von Gerichtspräsident_innen und -vizepräsident_innen auf Befehl des Justizministeriums. MATHIEU LELOUP befürchtet jedoch, dass das Urteil wenig Folgen haben wird: too little, too late. |
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In der Gemeinsamen Erklärung der EU zur Konferenz zur Zukunft Europas werden Richter nicht als Interessenvertreter erwähnt. MAX STEUER bespricht, warum die Justiz ein vernachlässigter, aber wirkungsvoller Akteur ist, die Zukunft Europas zu gestalten.
In Berlin sind die Weichen für das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ gestellt. Doch tausende Unterschriften von in Berlin wohnenden ausländischen Staatsbürgern sind ungültig. TIMUR HUSEIN fragt, ob dieser Ausschluss auch in Zukunft gelten muss.
Das war's schon wieder. Sie sehen: der Sommer ist da, das Wetter ist extrem, die Themenlage dünn und wir sind alle urlaubsreif. Ihnen alles Gute! Nächste Woche gibt's noch ein Editorial, dann brauche ich auch mal eine Pause.
Einstweilen: eine tiefe Verbeugung vor allen unseren Steady-Mitgliedern, ohne die wir all dies hier nicht machen könnten.
Ihr
Max Steinbeis |
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