Konsequente Liberalität – Ernst-Wolfgang Böckenförde zur Religionsfreiheit
Eine wichtige Facette des Wirkens von Ernst-Wolfgang Böckenförde ist die Entfaltung des freiheitlichen Charakters des Grundgesetzes. Sein zentrales Anliegen war es, Freiheitlichkeit nicht nur auf Angehörige des Mainstream zu beschränken, sondern auch die Freiheit der Andersdenkenden zu schützen. Gerade in den 1960er und 1970er Jahren war diese konsequente Liberalität von kaum zu unterschätzender Bedeutung, denn es gab nicht viele, die sich in diesem Sinne äußerten. Damals war die Staatsrechtslehre äußerst konservativ. Schon der SPD anzugehören, war eine große Ausnahme. Das Recht, auch das Verfassungsrecht, wurde häufig geradezu als Bollwerk gegen die Ideen der 1968er-Revolution eingesetzt.
Doch der Beitrag von Ernst-Wolfgang Böckenförde hat nicht nur historische Bedeutung. Das von ihm entwickelte liberale Fundament ist aktueller denn je: In den Debatten um den Umgang mit religiösen Minderheiten ist seine konsequent liberale Haltung von höchster Relevanz. Er selbst hat seinen Ansatz noch in die Debatten um das Kopftuch der muslimischen Lehrerin eingebracht und im Sinne der Liberalität Position bezogen.
Religionsfreiheit als Unterfall der Gewissensfreiheit
Ernst-Wolfgang Böckenförde entwickelte sein Verständnis von der Religionsfreiheit als starkem Grundrecht in seinem Staatsrechtslehrer-Vortrag zum Grundrecht der Gewissensfreiheit im Jahr 1970. Böckenförde konzipiert darin die Religionsfreiheit als Unterfall der Gewissensfreiheit, seine Ausführungen über die Gewissensfreiheit beziehen die Religionsfreiheit stets mit ein. Das Gewissen als „innerstes Zentrum der Persönlichkeit und ihrer Freiheit“ sei dem Staat „vorgegeben, ‚unverletzlich‘ und daher soweit nur irgend möglich zu respektieren.“ Versuchen, den Schutzbereich der Religionsfreiheit auf das forum internum, das bloße Haben eines Glaubens, zu reduzieren, trat er entschieden entgegen: „Aber man kann Gewissen und Sich-dem-Gewissen-gemäß-Verhaltenkönnen nicht trennen, wenn die Gewissensfreiheit des Art. 4 I einen realen und den gemeinten Sinn behalten und nicht auf ein Maß reduziert werden soll, das auch jeder Diktator gewähren kann, sofern er sich nur Orwell’scher Methoden enthält“.
Entsprechend erteilte er auch der Auffassung, die Gewissensfreiheit könne aufgrund eines einfachen Gesetzesvorbehalts für jeden öffentlichen Zweck eingeschränkt werden, eine klare Absage: „Die unüberschreitbaren Grenzen der Gewissensfreiheit sind vielmehr erst dort anzusetzen, wo die elementaren, letzten Zwecke … unmittelbar bedroht sind: der innerstaatliche Friedenszustand, der Bestand des Staates und die Möglichkeit seiner Sicherung nach außen, die Sicherung von Leben und Freiheit der Person, die unbedingt zu schützenden Rechte der einzelnen.“ Selbst wenn eine Beschränkung der Gewissensfreiheit unerlässlich scheine, verlangte Böckenförde, „den Respekt vor solcher Gewissensüberzeugung, auch wenn man sie nicht nachvollziehen kann,“ zu bekunden. Unter Berufung auf den sozialdemokratischen Rechtspolitiker Adolf Arndt propagierte Böckenförde ein „System von Toleranzen und partiellen Entpflichtungen“. Der Respekt vor der Gewissensfreiheit verlangt also nach Böckenfördes Auffassung, – wenn möglich – Ausnahmen zuzulassen, um Bürgerinnen und Bürgern den Konflikt zwischen Handeln nach ihrem Gewissen und Handeln nach den Geboten des Staates zu ersparen oder wenigstens zu erleichtern.
Religionsfreiheit und Neutralitätskonzepte
Religionsfreiheit als ein starkes Grundrecht zu verstehen, hat Folgen für das Verständnis staatlicher Neutralität. Böckenförde unterschied zwei Konzepte von Neutralität, ein distanzierendes und ein offenes. Während distanzierende Neutralität Religion tendenziell in den privaten und privat-gesellschaftlichen Bereich verweise – Böckenförde sah dieses Modell exemplarisch in der französischen laicité verwirklicht –, sei nach dem Konzept offener, übergreifender Neutralität „das Bekenntnis und die Lebensführungsmöglichkeit gemäß der Religion auch im öffentlichen Bereich, soweit mit den weltlichen Zwecken der staatlichen Ordnung vereinbar, durch die Rechtsordnung zugelassen und in sie hineingenommen“. Böckenförde propagierte dieses zweite Verständnis als das der Religionsfreiheit angemessene. Religionsfreiheit als starkes Grundrecht verträgt sich seines Erachtens nicht mit einem distanzierenden Verständnis staatlicher Neutralität.
Für Böckenförde muss Religion daher auch Entfaltungsraum im öffentlichen Bereich, wie beispielsweise Bildungseinrichtungen, insbesondere der Schule, haben. Dabei hebt er hervor, dass dies ohne Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion geschehen muss. Hier wirkt sich sein Konzept des säkularisierten Staates aus: Der säkularisierte Staat hat als solcher keine Religion, er gibt der Religion zwar Raum zur Entfaltung, verwehrt ihr aber den Zugriff auf staatliche Institutionen und Ämter.
Zwar gab und gibt es viele – auch konservative – Staatsrechtslehrer, die die Religionsfreiheit als starkes Grundrecht verstehen. Doch ist dieses Verständnis häufig geprägt von einem Blick auf christliche Interessen, insbesondere jene der beiden christlichen Groß-Kirchen. Böckenförde plädierte demgegenüber dafür, allen religiösen Überzeugungen Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Er verneinte explizit, dass Unterscheidungen gerechtfertigt werden könnten zwischen einer Religion, der nur eine Minderheit der Bevölkerung angehört, und der traditionell verwurzelten Religion der Mehrheit der Bevölkerung. In einem Interview in der SZ von 2006 betonte er, dass das Grundgesetz nicht zwischen privilegierten und weniger privilegierten Religionen unterscheide und damit das Gebot strikter Gleichbehandlung aller Glaubensgemeinschaften gelte. Er trat daher für das Recht muslimischer Lehrerinnen ein, ein Kopftuch zu tragen.
Obwohl als großer Gelehrter allgemein anerkannt, beschränkte sich Ernst-Wolfgang Böckenförde nie nur auf den Elfenbeinturm. Er nahm zu aktuellen Debatten Stellung – ein public intellectual. Auch in der Diskussion um Kopftuchverbote legte er seine Position nicht allein in wissenschaftlichen Aufsätzen nieder, sondern äußerte sich – medienwirksam – in Zeitungsartikeln und Landtagsanhörungen.
Verfechter der pluralen Gesellschaft und des liberalen Staates
Böckenförde war ein entschiedener Verfechter der pluralen Gesellschaft. Zugehörigkeit zum Staat verlange einzig, die Gesetze zu befolgen, eine darüber hinausgehende Loyalitätspflicht der BürgerInnen lehnte er ab: „Zum rechtsstaatlichen Freiheitsprinzip gehört, daß der Bürger, der sich im Rahmen der Gesetze, also legal, verhält, ein loyaler Bürger ist“. Böckenförde blieb diesem Grundsatz auch treu in den Diskussionen um die sogenannten Radikalenerlasse in den 1970er Jahren. Mit den Radikalenerlassen sollten (vermeintliche) Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst herausgehalten werden, indem jeweils der Verfassungsschutz befragt wurde, ob sich die BewerberInnen verfassungsfeindlich betätigt hätten. Der Sache nach handelte es sich im damaligen Kontext um ein Berufsverbot für Linke, das erhebliche Verunsicherung auslöste, da unklar war, was eigentlich „verfassungsfeindliches“ Verhalten darstelle. Auch bei Beamtenverhältnissen sprach sich Böckenförde für „Verhaltensgewähr“ statt „Gesinnungstreue“ aus ‑ in der damaligen Zeit ein bemerkenswertes Zeichen. Dem Grundsatz, dass der freiheitliche Staat nicht mehr verlangt, als die Bereitschaft, die Gesetze zu befolgen, blieb Böckenförde auch als Richter des Bundesverfassungsgerichts treu. Die Entscheidung zu den Zeugen Jehovas trägt seine Handschrift. Den Zeugen Jehovas war in letzter Instanz vom Bundesverwaltungsgericht der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verwehrt worden, weil sie ihren Mitgliedern die Teilnahme an Wahlen verbiete und damit die Legitimationsbasis des Staates schwäche. Das Bundesverfassungsgericht hielt dem entgegen, dass es ausreiche, wenn eine Religionsgemeinschaft rechtstreu sei: „Eine darüber hinausgehende Loyalität zum Staat verlangt das Grundgesetz nicht“.
Dieser Gedanke erklärt auch, weshalb das Interview mit Böckenförde in der SZ 2006 den – auf den ersten Blick überraschenden – Titel trägt: „Das Kopftuch ist ein Stück Integration“. Die Frage, ob das Kopftuch ein Mittel der Desintegration darstelle, verneinte er: „In der Tat, das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin, die diese gemeinsame Ordnung anerkennt und sich entsprechend verhält, ist ein Stück Integration“.
Dieses Zitat bringt Böckenfördes liberales Denken auf den Punkt: Der Staat darf von seinen BürgerInnen verlangen, dass sie die demokratisch erlassenen Gesetze anerkennen. Mehr nicht. Umgekehrt muss der Staat die inneren Überzeugungen der Einzelnen respektieren. Beschränkungen der Religionsfreiheit sind nur zulässig, wenn sie, an einem strengen Maßstab gemessen, notwendig sind. Der Umstand, dass religiöse Überzeugungen von traditionellen Vorstellungen abweichen, rechtfertigt ihre Beschränkung nicht. Diese Kernsätze sind heute – unter Bedingungen noch größerer Pluralität als in den 1970er Jahren – für einen freiheitlichen Staat erst recht unverzichtbar.
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Die im Text verwendeten Zitate entstammen folgenden Schriften von Ernst-Wolfgang Böckenförde:
Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, in: VVdStRL 28 (1970), 33.
Verhaltensgewähr oder Gesinnungstreue? Sicherung der freiheitlichen Demokratie in den Formen des Rechtsstaates (1978), wiederabgedruckt in: Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, 277.
Der säkularisierte Staat, 2006.
Das Kopftuch ist ein Stück Integration. Interview mit Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 17.7.2006.