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05 June 2025

Verordnete Krise oder Krise geordnet?

Zum möglichen Ende mitgliedsstaatlicher Alleingänge in der europäischen Asylpolitik

Das Asyl- und Migrationsrecht kommt aus der „Krise“ nicht heraus. Das Jahr 2015 ging aufgrund der damals rapide ansteigenden Asylantragszahlen in Europa als die „Flüchtlingskrise“ in die Geschichte der europäischen Migrations- und Asylpolitik ein. Damals beriefen sich mehrere Mitgliedstaaten der EU auf Artikel 72 AEUV als Ordre public-Klausel, um ein nationales Abweichen vom Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) zu rechtfertigen. Obwohl dieses Vorgehen der gerichtlichen Überprüfung nicht standhielt (siehe z.B.  C‑643/15 und C‑647/15 und C‑823/21), blieb das Narrativ der Krise als Rechtfertigung der Migrations- und Asylpolitik. Die seither vorherrschende Krisenrhetorik (siehehier, hier und hier) führte in den letzten zehn Jahren zu einem immer weiteren Zerfall der europäischen Integration im Asylbereich. Dies wirkt sich nicht nur negativ auf schutzsuchende Menschen aus sondern auch auf andere Bereiche des Unionsrechts – allen voran auf die Freizügigkeit innerhalb des Schengen-Gebiets sowie die Außenpolitik in der EU-Nachbarschaft.

Die 2024 beschlossene GEAS-Reform geht wesentlich auf diese Entwicklung zurück. Ziel der Reform ist insbesondere, nationale Alleingänge in Derogation des GEAS einzudämmen, indem sie europäische Prozesse für bestehende Probleme schafft. Es mag viele legitime Kritikpunkte an der Reform geben. Dennoch ist die neue Krisenverordnung (VO (EU) 2024/1359, KVO) und das damit geschaffene Rechtssystem für ein gemeinsames Vorgehen in Zeiten besonderer und spezifischer Belastungen eine der wesentlichen Errungenschaften der gesamten Reform. Zur Funktionalität des Krisen-Mechanismus siehe vorweg bereits hier und hier. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit seiner inhaltlichen Bewertung und zeigt auf, dass die Krisenverordnungen keinen asylrechtlichen Ausnahmezustand oder ein generelles Abweichen vom GEAS gewährt, sondern durchaus auch Chancen für einen besseren, geordneten Umgang mit Krisen ermöglichen könnte.

Eingrenzung von Ordre public-Argumenten

Der zentrale Ausgangspunkt der Krisenverordnung in Artikel 1 ist die Definition dreier verschiedener Situationen als Tatbestände der „Krise“: a) außergewöhnliche Massenankünfte, b) Instrumentalisierung und c) höhere Gewalt. Die Verordnung adressiert dabei die beiden ersten Tatbestände als „Krisensituation“, welche von der „höheren Gewalt“, wie Pandemien oder Naturkatastrophen (EG 20 KVO), abzugrenzen ist. Die konkrete Definition der drei Tatbestände bleibt in Teilen vage. So bleibt unklar, ab wann ein betroffenes System nicht mehr funktional ist. Stellte man beispielsweise lediglich auf ein dysfunktionales Rückkehrsystem ab, ließe sich wohl in den meisten Mitgliedsstaaten unter aktuellen Bedingungen jederzeit eine Krise herbei argumentieren.

Einer ausufernden Anwendung der Krisenbestimmungen wird jedoch durch prozedurale Regelungen entgegengewirkt: Eine unabgestimmte und uferlose Aussetzung der GEAS-Regelungen soll nach dieser Konzeption in Zukunft nicht mehr vorkommen. Insbesondere gehen mit der Definition einer Krise auch gezielte Begründungserfordernisse an jene Mitgliedsstaaten einher, die behaupten, sich in einer solchen Krise zu befinden. Der jeweilige Mitgliedsstaat muss ein begründetes Ersuchen (Art. 2 KVO) an die Kommission stellen. In diesem soll der Mitgliedsstaat konkret darlegen, inwiefern er von einer Krisensituation betroffen ist, welche die Anwendung einzelner Ausnahmebestimmungen notwendig macht. Die Belastung muss zudem über jene „alltäglichen“ Situationen hinausgehen, die künftig schon durch den regulären Solidaritätsmechanismus für Mitgliedsstaaten unter Migrationsdruck gemäß der Asylmigrationsmanagement-Verordnung (VO (EU) 2024/1351, AMMVO) aufgefangen werden (siehe dazu in diesem Symposium Pichl/Steurer).

Hinsichtlich der Begründung von außergewöhnlichen Massenankünften, müssen Mitgliedsstaaten außerdem aufzeigen, dass Vorkehrungen für Zeiten höherer Auslastung getroffen wurden. Solche Maßnahmen der Mitgliedsstaaten zur Krisenvorsorge und Risikominimierung sind auch explizit in den Artikeln 7 und 16 Krisenverordnung vorgeschrieben, welche zur Konkretisierung auf die Empfehlung der Kommission von 2020 über einen Vorsorge- und Krisenmanagementmechanismus für Migration verweisen. Dabei unterstützt werden die Mitgliedsstaaten durch den EU-Solidaritätskoordinator und die Notfallpläne der EUAA und Frontex. Auch diese Vorschriften können positiv bewertet werden, insofern sie die Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Krisenprävention in die Verantwortung nehmen.

Zentrale Deutungshoheit über die Krise

Gemeinsam mit dem institutionell doppelt verankerten Auslösemechanismus, der eine Bewertung und Feststellung der Krise sowohl durch die Kommission (Art. 3 KVO) als auch eine entsprechende Beschlussfassung des Rats (Art. 4 KVO) vorsieht, ist damit ein engmaschiges, zentralisiertes System der Kontrolle hinsichtlich der Ausrufung einer Krise geschaffen. Nach dem neuen System legt die Kommission für jeden Einzelfall fest, welche konkreten Maßnahmen angewendet werden können. Darunter kann die Kommission auch die Gewährung von internationalem Schutz für bestimmte Kategorien von Antragstellern prima facie empfehlen (Art. 14 KVO). Damit wurde eine Alternative zurMassenzustrom-Richtlinie geschaffen – wobei Artikel 14 Krisenverordnung für Schutzsuchende keinen Sonderstatus bedeutet, sondern durch die direkte Gewährung von internationalem Schutz langfristigen statt nur temporären Schutz bietet. Die Ausnahmebestimmungen dürfen außerdem maximal ein Jahr lang (Art. 5 KVO) bei regelmäßiger Überprüfung (Art. 6 KVO) angewendet werden. Damit ist auch zeitlich ein strenger Rahmen geschaffen, der beispielsweise bestehende Probleme in den Ausnahmebestimmungen des Schengener Grenzkodex vermeidet. Selbst wenn der Krisenmechanismus zukünftig vermehrt eingesetzt werden sollte, ist das skizzierte gemeinsame Vorgehen unter den Regeln der KVO einem nationalen Alleingang, welcher in der Vergangenheit oft chaotisch-willkürliche Abweichungen vom GEAS bedeutete (siehe z.B. Finnland, Polen, Lettland, Litauen, Deutschland, Österreich, Ungarn, Griechenland,Irland und Belgien), in jedem Fall vorzuziehen.

Fragwürdiges Konzept der Instrumentalisierung

Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass die Aufnahme des Konzepts der „Instrumentalisierung“ als einer der drei Tatbestände der Migrationskrise fragwürdig erscheint. Es geht dabei, gemäß Artikel 1(4)(b) Krisenverodnung, um Situationen, in welchen:

 „ein Drittstaat oder ein feindseliger nichtstaatlicher Akteur Reisen von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen an die Außengrenzen oder in einen Mitgliedstaat fördert oder erleichtert, mit dem Ziel, die Union oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren, wenn solche Handlungen wesentliche Funktionen eines Mitgliedstaats, einschließlich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder des Schutzes seiner nationalen Sicherheit, gefährden könnten.“

Da diese Situation nicht unmittelbar die Aufnahmefähigkeit der Mitgliedsstaaten beeinträchtigt, ist nicht ersichtlich, warum ein Abgehen vom allgemeinen GEAS in solchen Situationen zu rechtfertigen wäre. Eine vollständige Grenzschließung (vgl. den parallel eingeführten Art. 5(4) des Schengener Grenzkodex) und die Abhandlung aller Anträge auf internationalen Schutz im Grenzverfahren (gemäß Art. 11(6) KVO) von Menschen, die ohne eigenes Verschulden von einem Drittstaat instrumentalisiert werden und selbst keinerlei Bedrohung darstellen, scheint unverhältnismäßig und birgt u.a. die Gefahr von Verletzungen des Refoulement-Verbots und der persönlichen Freiheit. Selbst Minderjährige unter 12 Jahren und vulnerable Gruppen müssen nur vom Grenzverfahren ausgenommen werden, wenn ihre Anträge wahrscheinlich begründet sind (siehe Art. 11(7) KVO). Zur Frage, ob ein solches Vorgehen außenpolitisch überhaupt zweckmäßig ist, siehe bereits hier.

Nichtsdestotrotz wäre selbst in diesen Fällen ein Vorgehen nach der Krisenverordnung verfassungsrechtlich gesehen eine Verbesserung zum Status Quo an der belarussischen Grenze, wo Menschen der Zugang zum Verfahren und Aufnahmeeinrichtungen völlig verwehrt wird (siehe dazu die derzeit beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anhängigen Fälle gegen Polen, Lettland und Litauen), sowie auch im Vergleich zum ursprünglichen Kommissionsvorschlag über vorläufige Sofortmaßnahmen zugunsten der betroffenen Mitgliedsstaaten.

Abschottung nach außen

Das bisher Gesagte soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die in der Krisenverordnung vorgesehenen Maßnahmen weitreichende Derogationen von Verfahrensstandards bedeuten können (Kapitel IV KVO). Neben der verlängerten Frist für die Registrierung von Anträgen auf ganze vier Wochen (Art. 10(1) KVO) ist insbesondere die Ausdehnung des – durch die Reform generell stark ausgeweiteten – Verfahrens an der EU-Außengrenze problematisch (Art. 11 KVO). Das alte Bild der „Festung Europa“ wird also weiterhin bedient. Das birgt für alle betroffenen Schutzsuchenden die Gefahr von Rechtsverletzungen, weil im Grenzverfahren u.a. die Aufnahmebedingungen, der Zugang zu Information und Rechtsberatung, sowie der einstweilige Rechtsschutz zumindest faktisch beträchtlich eingeschränkt werden (siehe dazu bereits hier sowie in diesem Symposium Stübinger).

Die genaue Umsetzung der neuen Asylverfahrensverordnung (VO (EU) 2024/1348), und damit die Ausgestaltung des Grenzverfahrens, ist derzeit noch unklar. Sie dürfte die Mitgliedsstaaten aber vor enorme Herausforderungen stellen, beispielsweise hinsichtlich der nötigen Ressourcen für Schulungen des Personals. Im schlechtesten Fall kann die Anwendung der Krisenmaßnahmen monatelange Haft (Art. 10 Aufnahmerichtline, RL 2024/1346/EU) an der Außengrenze bedeuten, weil auch die Entscheidungsfrist im Grenzverfahren auf 18 Wochen ausgedehnt werden kann (Art. 11(1) KVO). In Situationen von Instrumentalisierung können sogar alle Anträge im Grenzverfahren behandelt werden (Art. 11(6) KVO). Nicht nur, aber vor allem in Hinblick auf besonders vulnerable Gruppen, ist es praktisch nicht abzusehen, wie unter solchen Bedingungen die vorgesehenen Unterbringungs- und Verfahrensgarantien gewährleistet werden könnten. Daher ist es bedenklich, dass diese Menschen nicht grundsätzlich von der Anwendung des Grenzverfahrens ausgeschlossen werden (Art. 11(7) KVO). Unter Beachtung der Erforderlichkeit und des Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie es die Krisenverordnung vorsieht (Art. 4(2) KVO), bestehen daher zu diesem Zeitpunkt noch viele Fragezeichen wie die praktische, menschenrechtskonforme Umsetzung der neuen Regelungen aussehen könnte.

Solidarität nach innen

Neben den Abschottungsmaßnahmen nach außen werden Krisensituationen von besonderen Solidaritäts- und Unterstützungsmaßnahmen (Kapitel III KVO) nach innen begleitet. Diese verzahnen die Maßnahmen der Krisenverordnung mit jenen nach der Asylmanagementverordnung.  Die Unterstützung kann einerseits in Form der Aufnahme von Schutzsuchenden oder -berechtigten, andererseits in Form von Finanzbeiträgen für die Bewältigung der Krise im Mitgliedsstaat oder in Drittländern, und alternativen Solidaritätsmaßnahmen (etwa der Lieferung von benötigten Gütern) geleistet werden (Art. 8 KVO). Diese Maßnahmen werden von der Kommission innerhalb eines Krisenbewältigungsplans (EG 29 KVO) auf Basis freiwilliger Beiträge der Mitgliedsstaaten orchestriert. Angesichts der bisherigen Schwierigkeiten beim Thema Solidarität wird abzuwarten sein, ob der neue Umverteilungsmechanismus sich durchsetzen kann (vgl. dazu in diesem Symposium Pichl/Steurer). Auch hier ist bei der Umsetzung zu beachten, dass sowohl die Verwendung von Finanzbeiträgen als auch alternativer Solidaritätsmaßnahmen innerhalb wie außerhalb der EU unter uneingeschränkter Achtung der Menschenrechte erfolgen muss (Art. 8(1) KVO). Eine willkürliche Überstellung von Schutzberechtigten bis zu drei Jahre nach ihrer Anerkennung erscheint zudem nicht menschenwürdig.

Die Krisenverordnung als Chance

Die Regulierung eines gemeinsamen Vorgehens für verschiedene Arten von „Migrationskrisen“ ist grundsätzlich begrüßenswert. Die finale Deutungshoheit darüber, was eine Krise in diesem Sinne ist und welche Maßnahmen für ihre Bewältigung notwendig sind, liegt nun eindeutig und zentralisiert bei der Kommission. Das sorgt für Klarheit über das notwendige Handeln und kann dem krisentypischen Chaos mittels vordeterminierter Prozesse vorbeugen. Auch die Möglichkeit der mitgliedsstaatlichen Inszenierungen von Krisensituationen wird damit eingeschränkt.

Auch auf Rechtsfolgenseite wird die Rechtssicherheit gestärkt, indem konkrete Maßnahmen im Katalog der Krisenverordnung vorgesehen sind, die für Migrationskrisen angemessen erscheinen und eine auf den Einzelfall abgestimmte, abgestufte Aktivierung im Sinne einer „Toolbox“ erlauben. Das bietet einerseits die notwendige Flexibilität im Krisenmanagement. Denn jede Krise hat ihre Besonderheiten. Andererseits sieht die Krisenverordnung vor, dass das bestehende Rechtssystem, inklusive der Berücksichtigung von menschenrechtlichen Verpflichtungen, bewahrt wird. Der EU-Solidaritätskoordinator (Art. 7 KVO) koordiniert die Auslastung der Mitgliedsstaaten, sodass allgemein das Informationsniveau sowie die Möglichkeit präventiver Maßnahmen erleichtert werden. Auch die Verantwortlichkeit der Mitgliedsstaaten wird in dieser Hinsicht weiter institutionalisiert. Das bisherige Vorgehen, bei dem Regierungen oft sehenden Auges Krisen auf sich zukommen ließen, ist so nicht mehr möglich. Es lässt sich insgesamt explizit festhalten: die Krisenverordnung erlaubt keinen „Ausnahmezustand“ oder sonstige allumfassende, notstandsähnliche Derogationen der GEAS, sondern verlangt nuanciertes, verhältnismäßiges und koordiniertes Vorgehen bei gleichzeitiger Achtung der Menschenrechte.

Der praktische Erfolg der neuen Mechanismen wird zu einem Großteil von der Bereitschaft der Mitgliedsstaaten abhängen, die Krisenverordnung zu respektieren. Aufgrund der vergangenen Erfahrungen und auch jetzt bereits öffentlich geäußerter Missbilligungen des neuen Systems bestehen daran bereits jetzt berechtige Zweifel. Auch unabhängig von der Akzeptanz durch die Mitgliedsstaaten bleibt zu hoffen, dass die Kommission behutsam mit der Ausrufung von Krisen umgehen wird. Gerade hinsichtlich der Anwendung von Derogationen im Fall von „Instrumentalisierung“ muss eine sorgfältige Abwägung hinsichtlich der Rechte von betroffenen Schutzsuchenden priorisiert werden. Insgesamt wurde der EU mit der Krisenverordnung und ihren Verflechtungen im sonstigen GEAS jedoch eine Chance gegeben, zukünftige „Migrationskrisen“ besser zu handhaben als bisher.


SUGGESTED CITATION  Kienast, Julia: Verordnete Krise oder Krise geordnet?: Zum möglichen Ende mitgliedsstaatlicher Alleingänge in der europäischen Asylpolitik , VerfBlog, 2025/6/05, https://verfassungsblog.de/krise-geas-asyl-eu/, DOI: 10.59704/1a7ea2b4ba7e15d3.

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