Rechnungshof statt Redaktionsschluss
Am Palindromtag 23.5.23 geschah, womit vermutlich nur Insider gerechnet hatten: Unter dem Titel „Die Gefahren beim wissenschaftlichen Publizieren“ veröffentlichte der Rat der Europäischen Union in seiner 3949. Sitzung seine Schlussfolgerungen zum wissenschaftlichen Publikationswesen. Das klingt erstmal nach trockenem Lesestoff. Denn welche Gefahren könnten schon beim Publizieren wissenschaftlicher Texte lauern? Dass man sich den Finger an einer Papierkante schneidet? Eher unwahrscheinlich – das analoge Zeitalter ist ja längst passé. Offensichtlich aber doch nicht lange genug, um alle Altlasten daraus zu entsorgen.
Zum Beispiel gibt es immer noch kommerzielle Verlage – jene Relikte aus der Ära der Papierjournale – an die das Bedürfnis der Wissenschaft nach Veröffentlichung ausgelagert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte ein gewisser Robert Maxwell das unternehmerische Potenzial dieser Nischenbranche und häufte mit Macmillan und Pergamon Press (heute: Elsevier) ein beträchtliches Vermögen an. Seine Tochter – Ghislaine Maxwell, verurteilte Sexualstraftäterin – verdankt ihren Zugang zu Magnat Jeffrey Epstein also zum Teil den großzügigen Überweisungen wissenschaftlicher Institutionen an wissenschaftliche Verlage.
Profit over merit
Mit Gewinnmargen von bis zu 40 Prozent zählt das wissenschaftliche Verlagswesen zu den profitabelsten legalen Geschäftszweigen überhaupt. Der Rat der EU benennt auch einen der Gründe für diese Rentabilität: „Die Publikationskanäle für Forschende befinden sich häufig in den Händen privater Unternehmen, die nicht selten die Kontrolle über die Rechte des geistigen Eigentums an den Artikeln übernehmen.“ Da jeder wissenschaftliche Artikel naturgemäß nur einmal publiziert wird, verfügen die Verlage über ein strukturelles Monopol. Ohne Konkurrenz lassen sich Preise verlangen, die gerade noch so in die Etats öffentlicher Kassen passen – oder meist sogar etwas darüber hinaus. Gleichzeitig sind mit der Digitalisierung klassische Kostenfaktoren wie Druck und Vertrieb weggefallen – was es den Verlagen ermöglicht, mittlerweile Preise bis zum Zehnfachen der eigentlichen Produktionskosten aus den ohnehin schon notleidenden Bibliotheken herauszupressen.
Angesichts dieses radikalen Fokus auf Gewinnmaximierung überrascht es vermutlich wenig, dass die Verlage in den letzten Jahrzehnten weder in Qualitätssicherung noch in Funktionalität nennenswert investiert haben. Ausgerechnet die teuersten Journale publizieren heute die unzuverlässigsten Studien. Immer mehr Stimmen sprechen von einer „Reproduktionskrise“, zuletzt sogar Donald Trump in seinem Erlass „Restoring Gold Standard Science“ vom 23. Mai 2025. Für Autor*Innen hat sich seit der Einführung der E-Mail-basierten Einreichung in den frühen 1990ern kaum etwas verbessert. Auch Gutachtende arbeiten weitgehend ohne nennenswerte Unterstützung durch die Verlage, und das Endprodukt „wissenschaftlicher Artikel“ hat in etwa die digitalen Funktionalitäten eines abfotografierten Grabsteins.
Wenn die Verlage also mit ihren Auspressmethoden das Zehnfache ihrer Kosten einnehmen – warum machen sie dann „nur“ 40 Prozent Gewinn und nicht 90? Zum einen müssen selbstverständlich ein paar Privatjets und Luxusyachten für die C-Suite angeschafft werden. Zum anderen investieren die Konzerne seit Jahren massiv in digitale Überwachungstechnik. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft setzte bereits 2021 eine Kommission ein, die zu dem Schluss kam, dass derart „unreguliertes bzw. unerkanntes Datentracking eine Verletzung der Wissenschaftsfreiheit und der Freiheit von Forschung und Lehre bedeuten“ könne.
Die Überwachung der Wissenschaft ist auch ein Grund, warum ich gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte beim Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Baden-Württemberg eine Datenschutzbeschwerde gegen die rechtswidrige Datenverarbeitung auf Verlagswebseiten eingereicht habe.
Die EU wagt den Ausbruch
Warum konnten die Verlage – inzwischen zu globalen Databroker-Konzernen gewachsen – die Wissenschaft über all die Jahrzehnte so hemmungslos parasitieren? Die zumeist prekär beschäftigten Autor*Innen müssen in etablierten Journalen publizieren, um ihre Chance auf eine feste Stelle zu wahren – von ihnen ist also keine Revolution zu erwarten. Die Bibliotheken wiederum bezahlen die Journale, in denen die Forschenden publizieren und die sie lesen müssen. Die Wissenschaft steckt in einem strukturellen Abhängigkeitsverhältnis mit monopolistischen Großkonzernen. Der Rat der EU nennt das nüchtern: „lock-in“ – eingesperrt.
Derart eingesperrt werden vornehmlich jene Forschenden berufen und finanziell gefördert, die in den teuersten – pardon, renommiertesten – Journalen publizieren. Und diese Berufenen teilen ihr Erfolgsrezept natürlich bereitwillig mit ihren Studierenden. Dumm nur, dass ausgerechnet in diesen Journalen die unzuverlässigste Wissenschaft erscheint. Man muss keine Expert*in für Evolutionsbiologie sein, um zu begreifen, wie es dazu kommen konnte, dass etwa in der Krebsforschung heute nur noch rund zwölf Prozent der Fachliteratur reproduzierbar sind. Der Selektionsdruck wissenschaftlicher Karrierepfade wirkt eben nicht auf die Qualität, sondern auf den Preis des Sichtbarwerdens.
Mit den „Gefahren beim wissenschaftlichen Publizieren“ meint der Rat der EU also nicht etwa die Gefahr, sich bei zu vielen Fußnoten den Verstand zu verrenken. Gemeint ist: die Verschwendung öffentlicher Gelder durch ein Preismodell, das für eine Leistung das Zehnfache der eigentlichen Kosten verlangt. Gemeint ist: die grundrechtsverletzende Praxis des Datentrackings durch globale Databroker. Gemeint ist: die systematische Belohnung von unverlässlicher Wissenschaft und die gleichzeitige strukturelle Bestrafung von Verlässlichkeit. Und gemeint ist: ein Abhängigkeitsverhältnis, das es der Wissenschaft unmöglich macht, sich aus dem Würgegriff dieser Konzerne selbst zu befreien.
Was also schlägt der Rat der EU als Gegenmaßnahme vor?
Unter anderem ermutigt er die Mitgliedstaaten und die Kommission, „interoperable gemeinnützige Infrastrukturen, mittels derer auf der Grundlage quelloffener Software und offener Standards publiziert werden kann, zu fördern und in diese zu investieren, um eine Abhängigkeit von Diensteanbietern und proprietären Systemen zu vermeiden, und diese Infrastrukturen mit der Europäischen Cloud für offene Wissenschaft zu verbinden“. Im Klartext: Die kommerziellen Journale sollen durch eine öffentliche Infrastruktur ersetzt werden – eine, die sich nicht nur um Artikel, sondern auch um Forschungsdaten, Software und Code kümmert. Und bei der es nicht um Profit geht, sondern um Qualitätssicherung, Funktionalität und Zugänglichkeit.
Seit 2023 sind erste Umsetzungen bereits Realität. In der bislang nur EU-geförderten Autor*Innen offenstehenden Open Access Publikationsplattform „Open Research Europe“ (ORE) können ab 2026 alle Autor*Innen aus teilnehmenden Ländern ohne Gebühren publizieren. Der Umbau der Plattform auf Open-Source-Software ist in vollem Gange. An einer dezentralen Erweiterung wird ebenfalls gearbeitet – mit dem Ziel, dass alle wissenschaftlichen Institutionen zum Aufbau beitragen können. In nur zwei Jahren hat die EU ihre Ankündigungen in konkrete Maßnahmen gegossen und ist damit auf bestem Wege, etwas zu schaffen, das alles übertrifft, was die kommerziellen Anbieter in den letzten Jahrzehnten zustande gebracht haben.
Wenn man die Konsequenzen dieses Weges zu Ende denkt, wird deutlich: Hier wird nicht weniger versucht als die Zerschlagung der Monopole – durch den vollständigen Ersatz der Journale, wie wir sie seit 1665 kennen, mit einer dezentralen Infrastruktur. Angesichts der beschriebenen Missstände erscheint diese Maßnahme nicht nur als sinnvoll, sondern als überfällig. Schon vor Veröffentlichung der Schlussfolgerungen des Rates der EU war in der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Ruf nach einem modernen, wissenschaftsgeleiteten Ersatz immer lauter geworden, unter anderem von einer Gruppe von Expert*Innen der auch ich angehöre. Die Beschlüsse des Rates sind daher ein Paradebeispiel für evidenzbasierte Politik und können gar nicht hoch genug gelobt werden. In einer Lage, in der die Wissenschaft alleine handlungsunfähig geworden ist, reicht ihr die Europäische Kommission die Hand – und unterstützt sie im Kampf gegen die globalen Überwachungskonzerne.
Es werden vermutlich jedoch noch weitere Hilfestellungen nötig sein, um die Wissenschaft vollständig aus den Klauen der Konzerne zu befreien. Denn ein Ersatz bedeutet noch nicht, dass er auch tatsächlich genutzt wird – schon gar nicht bevorzugt. Denn Autor*innen sind eben nicht frei in der Wahl ihres Publikationsortes.
Merit over exclusivity
Zwei zusätzliche Schritte könnten hier unterstützend beitragen:
Zum einen könnten Forschungsförderer die Unterstützung von ORE – und die lokale Implementierung der zugehörigen Infrastruktur – zur Voraussetzung für ihre Förderentscheidungen machen. Das wäre kein radikaler Paradigmenwechsel: Alle solche Förderer stellen bereits analoge Anforderungen und müssten sie nur um eine entsprechende digitale Anforderung erweitern.
Zum anderen könnten Rechnungshöfe ihren Teil dazu beitragen, den Geldstrom von den Konzernen zu den geforderten „interoperablen gemeinnützigen Infrastrukturen“ umzuleiten. Bis heute wird in vielen Fällen noch immer einzeln mit den alten Verlagen verhandelt. Früher war das noch rechtlich zulässig: Wenn Verlage als einzige Bezugsquelle galten, durften Verträge mit ihnen auch ohne Ausschreibung abgeschlossen werden – im Vergaberecht spricht man von einem „Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung“ (vgl. § 17 V VgV). In der Praxis entsprach das einer Art faktischer Monopolausnahme.
Zumeist geht es heute jedoch längst nicht mehr um den Zugang zu exklusiven Inhalten, sondern um Publikationsdienstleistungen. Und diese können – Überraschung – nicht nur große Verlage erbringen. Tatsächlich sind alle Anbieter auf dem Markt technisch in der Lage, solche Leistungen bereitzustellen. Die meisten von ihnen halten sich sogar an den sogenannten JATS-Standard: Die aus Manuskripten generierten Dateien – ob PDF, XML oder HTML – sind also nicht nur im gleichen Format, sondern auch noch standardisiert. Bessere Voraussetzungen für die Substituierbarkeit von Dienstleistungen gibt es kaum – und genau diese Substituierbarkeit ist die rechtliche Voraussetzung für Ausschreibungen.
Folglich sollten die Rechnungshöfe wissenschaftliche Einrichtungen dazu anhalten, Publikationsdienstleistungen nicht länger exklusiv zu verhandeln, sondern auszuschreiben – so wie sie es auch beim Einkauf von Hardware, bei Reinigungsdienstleistungen oder bei allem anderen tun müssen.
Auch hier hat die Europäische Kommission eindrucksvoll vorgemacht, wie das aussehen kann. Als öffentliche Einrichtung hatte sie – ganz analog zu jeder Universität – einen Bedarf an Publikationsdienstleistungen für die von ihr geförderten Forschenden. Anders als viele andere Institutionen hat sie diesen Bedarf jedoch nicht im Hinterzimmer mit Elsevier & Co. verhandelt, sondern sauber und kompetitiv ausgeschrieben. Das Ergebnis hieß: ORE.
Wenn sich die Rechnungshöfe dieses Themas annähmen, wären die wissenschaftlichen Einrichtungen gezwungen, ihre Publikationsbedarfe ebenso transparent und wettbewerblich zu behandeln wie alle anderen Beschaffungsprozesse.
Nun mag man einwenden, die Wissenschaftsfreiheit umfasse auch die freie Wahl des Publikationsortes. Doch dem lässt sich gleich doppelt widersprechen: Zum einen haben Autor*innen de facto ohnehin keine echte Wahl – sie müssen schon jetzt dort publizieren, wo es ihre Karriere verlangt. Zum anderen ist die Wissenschaftsfreiheit primär ein Abwehrrecht gegenüber staatlicher Einflussnahme – sie begründet aber keinen Anspruch auf Finanzierung jeder individuell bevorzugten Publikationsform. Erst recht nicht, wenn diese Bevorzugung in eine Struktur führt, die Steuermittel verschwendet, Grundrechte verletzt, unzuverlässige Wissenschaft belohnt – und die wissenschaftliche Praxis insgesamt in Geiselhaft nimmt.
Wer heute dennoch in den alten Journalen veröffentlichen möchte, sollte in der Tat sämtliche damit verbundenen Kosten selbst tragen – sowohl die finanziellen als auch alle anderen. Wenn, wie man hoffen kann, bei mehr als nur adäquatem Ersatz nur noch ein Bruchteil der bisherigen Autor*Innen dazu bereit ist, würde es bald auch keine Journale mehr geben, in denen irgendjemand eine Publikation fordern kann.
Ein nächster Schritt für die EU könnte nun sein, außerhalb Europas nach Partnern zu suchen, die bereit sind, ähnliche Wege zu gehen und mit ihnen das dezentrale Netz „interoperabler gemeinnütziger Infrastrukturen“ weiter auszubauen. Wenn erst alle europäischen Institutionen ihren Teil zu dieser neuen Infrastruktur beitragen, werden andere wissenschaftliche Einrichtungen weltweit nicht lange zögern, ebenfalls Teil dieses globalen Netzwerks zu werden – ganz so, wie sie in den 1990ern alle Teil des Internets werden wollten.



