Warum Cybermobbing bestraft werden sollte
Erneutes Plädoyer für einen Straftatbestand anlässlich der Innenministerkonferenz
Die Frühjahrskonferenz der Innenminister 2024 fordert wieder einmal die Einführung eines eigenen Cybermobbing-Straftatbestandes. Die Justizminister sollen prüfen, ob die Einführung eines gesonderten Tatbestandes zur Erfassung des Phänomens Cybermobbing Sinn macht. In eine ähnliche Kerbe schlug die kurz zuvor stattfindende 95. Justizministerkonferenz, welche ihrerseits den Bund aufforderte, auch gesetzgeberische Reformen zum Schutz vor Cybermobbing zu prüfen. Das ist fast schon Tradition, denn bereits vor mehr als einer Dekade enthielt der (damalige) Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD eine entsprechende Forderung, die Justizministerkonferenz wollte die (damals) geltenden Vorschriften auf Tauglichkeit prüfen und der nordrhein-westfälische Justizminister verlangte die Einführung einer speziellen Vorschrift in das Strafgesetzbuch (StGB).
Wenn es nach dem Autor dieses Beitrages geht, ist das Ergebnis der Prüfung, die Justiz- und Innenminister sich Ende Juni aufgegeben haben, klar: Trotz inzwischen vorgenommener Gesetzesanpassungen ist ein spezieller Straftatbestand zum Cybermobbing notwendig, unter anderem wegen der teils gravierenden Folgen für die Opfer. Dieser Straftatbestand muss die zeitliche und dynamische Komponente eines nicht geplanten Zusammenwirkens einer Vielzahl von Menschen gegenüber dem Opfer erfassen, denn hierin liegt der spezifische Unrechtsgehalt des Cybermobbings. Dieser Beitrag plädiert für einen Cybermobbing-Straftatbestand und erneuert damit die bereits vor zehn Jahren erhobene Forderung des Autors unter Berücksichtigung inzwischen erfolgter Rechtsänderungen.
Cybermobbing und seine Auswirkungen
Der Suizid des vierzehnjährigen Matthew Burdette als Folge der Verbreitung eines heimlich von ihm beim Masturbieren aufgenommenen Videos ist exemplarisch, aber nicht abschließend. Insbesondere Jugendliche sind betroffen, da bei ihnen die Nutzung des Internets und sozialer Medien besonders intensiv und deshalb mit dem schon immer auftretenden Schulhofmobbing eng verknüpft ist. So waren ausweislich einer Onlineumfrage von Statista ca. 11-12 % der insgesamt (ohne Altersdifferenzierung) befragten Personen von Cybermobbing betroffen. Dagegen berichteten bei Kindern zwischen 12-26 % (in Abhängigkeit von der Schulform) von entsprechenden Erfahrungen. Insbesondere bei den 14-16-Jährigen soll jede dritte Person betroffen sein. Dies ist wegen des hohen Stellenwerts digitaler Medien bei Kindern und Jugendlichen unmittelbar nachvollziehbar. Der Bullycide – verstanden als Suizid aufgrund von Cybermobbing – stellt dabei die extremste Folge für die Opfer dar. Das Gefahrpotential wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass 50 % (!) der von Cybermobbing-Angriffen betroffenen Jugendlichen schon daran gedacht haben, sich das Leben zu nehmen.
Cybermobbing (im englischen Sprachraum auch häufig als Cyberbullying bezeichnet) steht für das Mobbing im Cyberspace. Da Mobbing neben dem Schulhof auch häufig am Arbeitsplatz stattfindet, lohnt sich für die rechtliche Erfassung ein Blick in die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung. So hat das LAG Thüringen in seiner Entscheidung vom 10. April 2001 (5 Sa 403/00) das Mobbing definiert als
„fortgesetzte, aufeinander aufbauende oder ineinander übergreifende, der Anfeindung, Schikane oder Diskriminierung dienende Verhaltensweisen, die […] jedenfalls in ihrer Gesamtheit das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder andere ebenso geschützte Rechte wie die Ehre oder die Gesundheit des Betroffenen verletzen. Ein vorgefasster Plan ist nicht erforderlich. Eine Fortsetzung des Verhaltens unter schlichter Ausnutzung der Gelegenheiten ist ausreichend.“
Diese Definition wurde unter anderem vom BAG aufgenommen (Urt. v. 16. Mai 2007, 8 AZR 709/06), welches treffend hervorhob, dass „die einzelnen Teilakte jeweils für sich betrachtet rechtlich wiederum ‚neutral‘ sein können“ und es deshalb nicht um „eine einzelne, abgrenzbare Handlung, sondern die Zusammenfassung mehrerer Einzelakte“ gehe. Deshalb sei ein Gesamtverhalten „als Verletzungshandlung im Rechtssinne“ zu qualifizieren.
Das Cybermobbing kann gegenüber dem „Offline-Mobbing“ wegen des hohen Öffentlichkeitsgrades eine neue Qualität erreichen. Das Internet bzw. die sozialen Netzwerke sind von nahezu überall erreichbar, die Hemmschwelle zur Weitergabe sehr persönlicher Äußerungen über Dritte im Cyberspace ist geringer, zumal wenn die Täter (vermeintlich) anonym bleiben können. Ausweichstrategien gegen Mobbing wie der Wechsel von Schule oder Arbeitsplatz helfen nur bedingt. Läuft einmal eine Cybermobbing-Attacke, ist es für (bisher) Außenstehende ein Leichtes, sich zu beteiligen. Die Wirksamkeit von Cybermobbing-Attacken wird außerdem durch die einfache Möglichkeit der Erstellung von „Deepfake“-Inhalten mittels Künstlicher Intelligenz verstärkt.
Bereits strafbares Cybermobbing
Besonders häufig dürften die Ehrschutzvorschriften greifen, die in den §§ 185 ff. Strafgesetzbuch (StGB) geregelt sind. Wenn jemand Ehrverletzungen in der Form von Unwahrheiten äußerst, dann macht diese Person sich wegen einer Beleidigung oder Verleumdung strafbar. Dabei ist insbesondere die 2021 eingefügte Qualifikation der „öffentlich, in einer Versammlung, durch Verbreiten eines Inhalts“ erfolgten Beleidigung relevant. Falls der Wahrheitsgehalt einer Tatsache zumindest nicht erweislich ist, kommt die üble Nachrede in Betracht. Dies gilt trotz des Eindrucks von Anonymität und Verantwortungslosigkeit auch im Cyberspace (Hilgendorf, ZIS 2010, 208 [210]). Daraus lässt sich unmittelbar schließen, dass die Verbreitung einer wahren Tatsachenbehauptung von diesen Vorschriften grundsätzlich nicht erfasst ist. Nur wenn eine Formalbeleidigung vorliegt, kommt eine Strafbarkeit in Betracht. Das ist der Fall, wenn entweder die Form der Behauptung gleichzeitig eine Beleidigung enthält (wie die Benutzung von Schimpfwörtern) oder bei besonderen Umständen der Verbreitung (wie das Aufbauschen von Geringfügigkeiten oder die Veröffentlichung lange zurückliegender Tatsachen).
Ebenso kommt eine Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen in Betracht, § 201a StGB. Zunächst betrifft dies Aufnahmen von Personen in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum (wie Umkleideräume oder Toiletten), wenn durch die Aufnahme der „höchstpersönliche Lebensbereich“ verletzt wird. Nach einer Gesetzesänderung im Jahre 2015 erfolgte eine Ausdehnung der Strafandrohung auch auf Bildaufnahmen, die geeignet sind, dem Ansehen der abgebildeten Person zu schaden, wenn diese Dritten zugänglich gemacht werden. Schließlich ist das Recht der Selbstdarstellung auch noch über § 33 KUG geschützt, wobei dieser Vorschrift als Privatklagedelikt und mit der geringen Strafandrohung von einem Jahr nur eine geringe Bedeutung zukommt. Wenn die Voraussetzungen für pornographische Schriften erfüllt sind, können noch die pornografischen Verbreitungsverbote verletzt sein, was insbesondere Verbreitung, Erwerb und Besitz jugendpornografischer Schriften erfasst, § 184c StGB.
Ebenso dürften etliche Konstellationen von einzelnen Tathandlungen des Cybermobbings durch die Nachstellung erfasst sein. Dies betrifft insbesondere die 2021 eingefügten Varianten des § 238 Abs. 1 Nr. 5-7 StGB, welche – wie beim Cybermobbing – auch eine wiederholte Tathandlung verlangen und unter anderem Abbildungen des Opfers, einer ihrer Angehörigen oder einer anderen ihr nahestehenden Person umfassen.
In Abhängigkeit von der jeweiligen Begehungsweise kommen Straftatbestände in Betracht, die auf intellektuelle Weise (und damit auch über elektronische Kommunikationsmittel) verwirklicht werden können. So kommen in Einzelfällen die Bedrohung, Nötigung, Erpressung, aber auch Gewaltdarstellungen in Betracht. Schließlich kann auch der Tatbestand der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes betroffen sein.
Damit lässt sich festhalten, dass die Analyse der gegenwärtigen Rechtslage in Bezug auf die jeweiligen einzelnen Handlungen nur noch einzelne Strafbarkeitslücken offenbart. Der Gesetzgeber war nicht untätig und hat zuvor offene Flanken bei der Weitergabe wahrer Tatsachen oder verächtlich machender Abbildungen verringert. Allerdings ist bei Äußerungen in elektronischer Textform kein strafrechtlicher Schutz bei reinen Indiskretionen gegeben, soweit diese noch keine Beleidigung, Bedrohung oder Nötigung darstellen.
Notwendigkeit eines speziellen Cybermobbing-Tatbestands
Wie der Verfasser diese Frage beantworten wird, lässt sich schon aus dem Titel dieses Beitrages ablesen. Zwar ist der Gesetzgeber in den letzten Jahren nicht untätig geblieben. Jedoch wird nach wie vor der das Cybermobbing auszeichnende besondere Aspekt der dynamischen Beteiligung zuvor Außenstehender nicht erfasst. Erst das Zusammenwirken einer Vielzahl von Personen mit der Zusammenfassung mehrerer Einzelakte führt zu einem Gesamttatverhalten, welches wegen seiner Auswirkungen auf das Cybermobbing-Opfer ein spezifisch strafwürdiges Verhalten darstellt. Denn erst durch diese Kumulation wird ein gravierendes Maß an Sozialschädlichkeit erreicht. Insoweit lässt sich eine Parallele zum Stalking ziehen, wobei es jedoch nicht auf das wiederholte Handeln einer Person ankommt. Die Dynamik beim Cybermobbing erfolgt durch den grenzenlosen Einsatz moderner Kommunikationsmittel, speziell in sozialen Netzwerken, durch die Einbeziehung zunächst Außenstehender. Dem liegt kein zwischen den Beteiligten abgestimmter Plan zugrunde. Vielmehr werden sich ergebende Gelegenheiten von den mobbenden Usern genutzt (so wie es das LAG Thüringen in seiner eingangs erwähnten Entscheidung hervorgehoben hat).
Gesetzestechnisch lässt sich dem begegnen, wenn die dynamische Komponente des Zusammenwirkens ursprünglich Außenstehender erfasst wird. Dies ist dem Strafgesetzbuch nicht unbekannt: So wird die Dynamik bei der Gefangenenmeuterei, dem schweren Hausfriedensbruch und dem Landfriedensbruch durch solche Begrifflichkeiten wie „Menschenmenge“, „zusammenrotten“ oder „vereinte Kräfte“ erfasst. Ebenso kommt bezüglich der Tatbestandsstruktur auch eine Orientierung an der Beteiligung an einer Schlägerei in Betracht. So könnte an das Merkmal des „von mehreren verübten Angriffs“ angeknüpft werden. Diese Merkmale fordern keine (!) Mittäterschaft.
Bei der Tathandlung könnte an die Bloßstellung als übergeordneter Begriff angeknüpft werden. Dies vermeidet eine Festlegung, ob diese ehrverletzend ist, das geschriebene oder gesprochene Wort oder eine Abbildung betrifft. Ebenso wenig ist es notwendig, dass der Einzelne öffentlich bloßgestellt wird, sondern es könnte eine Erörterung vor einer Personenmehrheit ausreichend, weil die Gefahr besteht, dass die jeweiligen Mitglieder dieses Kreises die „Neuigkeit“ wieder in die eigenen, sich mit dem Ausgangskreis nur teilweise überschneidenden Kreise, weitertragen. Das Merkmal der „Erörterung“ soll dabei zum Ausdruck bringen, dass es nicht auf eine Differenzierung zwischen Werturteil und Tatsachenbehauptung ankommt. Schließlich könnte ein Cybermobbing-Tatbestand in Anlehnung an die Nachstellung ebenfalls als Eignungsdelikt ausgestaltet sein, der nur erfüllt ist, wenn die Eignung gegeben ist, die Lebensgestaltung des Opfers nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen.
Neben der Strafwürdigkeit ist für die Einführung einer Strafvorschrift auch ein Strafbedürfnis notwendig. Mit den Worten des modernen Verfassungsstaates muss das Strafrecht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen und darf deshalb nur als ultima ratio zum Einsatz kommen. Dabei ist einerseits das hohe Eskalationspotential des Cybermobbings zu beachten. Andererseits ist neben der Durchsetzung des „Rechts auf Vergessenwerden“ nach Art. 17 DSGVO auch an entsprechende Aufklärungskampagnen (an den Schulen, durch die Polizei, in der breiten Öffentlichkeit, durch die jeweiligen Provider) zu denken. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass bei jugendlichen Ersttätern die Diversion gemäß dem Jugendgerichtsgesetz in Betracht kommt. Danach kann die Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht, um den jugendlichen Täter wieder auf den rechten Weg umzuleiten, von einer Verfolgung absehen.