Karenztage – Falscher Sparversuch auf Kosten der Arbeitnehmer
Warum die Einführung von Karenztagen mehr schaden als nützen würde
In Deutschland ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall seit Jahrzehnten eine feste soziale Errungenschaft. In Anbetracht steigender Krankmeldungen wird immer wieder die Idee laut, diese Praxis zu reformieren – etwa durch die Einführung von sogenannten Karenztagen. So hat etwa der Allianz-Chef Oliver Bäte jüngst vorgeschlagen, die für Arbeitnehmer geltende Lohnfortzahlung nicht mehr ab dem ersten Tag der Erkrankung beginnen, sondern erst ab dem zweiten Tag einsetzen zu lassen.
Obwohl Arbeitgeber von Einsparungen durch Karenztage in der Lohnfortzahlung profitieren sollen, entpuppt sich der Vorschlag zur Einführung von Karenztagen in der Lohnfortzahlung als weiteres Beispiel für einen sozialpolitischen Sparversuch, der mehr kostet, als er einbringt. Statt das komplizierte System sozialen Schutzes zu vereinfachen, wird es unnötig verkompliziert und überdies steigen die sozialen Kosten. In diesem Artikel wird die Geschichte der Lohnfortzahlung sowie die sozialen und politischen Implikationen von Karenztagen untersucht.
Von der Fürsorge zur Lohnfortzahlung
Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist eine bedeutsame Errungenschaft der deutschen Sozialpolitik – und keineswegs selbstverständlich.
Seit dem 19. Jahrhundert waren Beamte in Deutschland eine sozialpolitisch privilegierte Gruppe, deren Versorgung auch im Krankheitsfall durch den Dienstherrn garantiert wurde. Das Beamtenverhältnis beruhte traditionell auf einer besonderen Treuepflicht gegenüber dem Dienstherrn, die dieser mit umfassender Fürsorge vergalt. Beamte standen lebenslang im Dienst und erhielten eine Besoldung, die nicht als unmittelbare Gegenleistung für ihre Arbeit, sondern zur Sicherstellung einer amtsangemessenen Lebensführung diente.
Anders gestaltete sich die Situation für Arbeiter und Angestellte. Nach der Französischen Revolution entwickelte sich die liberale Arbeitsverfassung, die das Arbeitsverhältnis als reinen Austausch von Lohn gegen Arbeitsleistung verstand. Wer nicht arbeitete, erhielt keinen Lohn – wer nicht arbeitete, sollte nicht essen (Paulus).
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden jedoch Krankenkassen, die zunächst auf betrieblicher oder genossenschaftlicher Ebene organisiert waren. 1854 erging eine Novelle zur preußischen Gewerbeordnung, die den Gemeinden erlaubte, Ortskrankenkassen durch Ortsstatut einzuführen. Binnen weniger Monate entstanden in allen Gegenden Preußens auf dieser Grundlage Ortskrankenkassen; das Modell wurde auch später in anderen deutschen Staaten nachgeahmt. Die Krankenkassen ermöglichten erstmals eine systematische Gesundheitsversorgung der Arbeiterschaft. Dank kontinuierlicher Beitragszahlungen auf der Grundlage gewerblicher Produktion konnte genügend Geld erwirtschaftet werden, um aus den Erträgen Krankenhäuser zu errichten, sie aufrechtzuerhalten und ärztliche Behandlungen zu finanzieren. Mit den Krankenkassen erreichte also erstmals die moderne Medizin die Arbeiterschaft. Dies erhöhte deren Gesundheit und steigerte ihre Produktivität.
Zudem zahlten die Krankenkassen bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Ersatz für den krankheitsbedingten Arbeitsausfall erstmals ein Krankengeld. Dies bedeutete für die Arbeiterschaft, dass ihnen die Sozialversicherung bei Eintritt der Krankheit einen Ersatz für ihr Erwerbseinkommen zuteilwerden ließ. Die Krankenversicherung wurde damit zum Vorbild für andere Zweige der Sozialversicherung, die Ende des 19. Jahrhunderts erstmals in Deutschland und im 20. Jahrhundert dann weltweit eingeführt wurden.
Die Lohnfortzahlung bei Krankheit wurde 1930 dann zunächst für Angestellte eingeführt. Dies diente vor allem der finanziellen Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherungen, die durch die Weltwirtschaftskrise erheblichen Belastungen ausgesetzt waren. Mit der wirtschaftlichen und sozialen Angleichung von Arbeitern und Angestellten wurde die Lohnfortzahlung dann auch 1969 auf Arbeiter ausgeweitet.
Die Lohnfortzahlung wurde für die Arbeiter auch deshalb eingeführt, weil den Arbeitgebern eine stärkere Rolle bei der Kontrolle der Arbeitsunfähigkeit zugeschrieben wurde, da sie als betriebsnahe Akteure den Krankenstand direkter beeinflussen und Missbrauch besser verhindern konnten als die betriebsfernen Krankenkassen. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall stellte damit einen bedeutenden sozialpolitischen Schritt dar, der schließlich zur Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten mit Beamten führte.
Die Missbrauchsdebatte und Sozialstaatskritik
Der Vorschlag zur Einführung von Karenztagen in der Lohnfortzahlung wird häufig als Mittel gegen „Krankfeiern“ oder „Blaumachen“ präsentiert. Damit wird die unbegründete Inanspruchnahme von Lohnfortzahlung bei einer lediglich vorgeschützten Krankheit beschrieben, ein Verhalten, das als „Absenteeism“ auch international diskutiert wird.
Allerdings fehlen belastbare Daten zur Häufigkeit dieses Phänomens, da es sich um einen strafbaren Betrug handelt (§ 263StGB), der zudem zivilrechtliche Rückzahlungs- und Schadenersatzpflichten nach sich zieht.
Der Vorschlag zur Einführung der Karenztage basiert auf einer weitreichenden, grundsätzlichen und höchst problematischen Sozialstaatskritik, die davon ausgeht, dass soziale Leistungen wie Lohnfortzahlung, Arbeitslosen- oder Krankengeld massenhaften Missbrauch provozieren. Diese Ansicht führt zu der Forderung nach einer pauschalen Leistungskürzung, um vermeintlich „unberechtigte“ Inanspruchnahmen zu vermeiden. Die Kritik lautet kurzum: der ausgebaute Sozialstaat belohne denknotwendig und massenhaft die „Falschen“. Dies führe zu einer Verschwendung öffentlicher Mittel und benachteilige die „wahrhaft Bedürftigen“.
Der konventionelle Sozialstaat sei eine Fehlkonstruktion. Was an dessen Stelle treten soll, sagt die Kritik indes regelmäßig nicht. Die Befürworter von Karenztagen bauen ebenfalls auf dieser Sozialstaatskritik auf. Sie sehen das Recht auf Lohnfortzahlung als „Fehlanreiz“ für Arbeitnehmer, die dadurch zu unberechtigter Inanspruchnahme verleitet würden. Durch eine generelle Kürzung der Lohnfortzahlung sollen die Arbeitgeber von drückenden Sozialkosten entlastet werden.
Dies führt jedoch zu einer Kollektivhaftung der erkrankten Arbeitnehmer für die in der Lohnfortzahlung enthaltenen Betrugsrisiken. Die Karenztage werden den Arbeitnehmern daher mit dem Argument nahegebracht, dass die zu ihrem Schutz errichtete Sicherung generell „missbrauchsanfällig“ sei und sie daher im eigenen Interesse Einschränkungen bei der Absicherung im Krankheitsfall hinnehmen müssen.
Dabei liegt die Verantwortung zur Missbrauchsvermeidung primär bei den Arbeitgebern, welche stets die Voraussetzungen der Lohnfortzahlung überprüfen müssen und deshalb bereits hohe Anforderungen an die Krankheitsnachweise stellen. Das Verlangen nach Attesten, die strafrechtlichen Konsequenzen falscher Bescheinigungen sowie die Möglichkeit der Arbeitgeber, Verdachtsfälle zu hinterfragen, zeigen, dass der Schutz vor Missbrauch bereits institutionalisiert ist.
Karenztage in der Lohnfortzahlung verschieben diese Verantwortung von den Arbeitgebern auf die Arbeitnehmer, indem diese als Leistungsempfänger pauschal für potenzielle Betrugsfälle haften, ohne dass sie dieselben Kontrollmechanismen zur Betrugsabwehr haben wie die Arbeitgeber. Dies führt zu einer finanziellen Belastung der Arbeitnehmer, ohne Missbrauch gezielt einzudämmen.
Auswirkungen auf das Sozialleistungssystem
Der Schutz für das soziale Risiko bei Krankheit umfasst nicht nur das Recht auf Behandlung, welches als Recht auf Gesundheit (Art. 35 GRCh) durch „Sachleistungen“ – im Wesentlichen ärztliche und Krankenhausbehandlungen, Arznei-, Heil- und Hilfsmittelversorgung – von der Krankenversicherung getragen werden.
Die Krankenversicherung schützt die Versicherten ferner als Teil des Rechts auf soziale Sicherheit (Art. 34 I GRCh) gegen die Einkommensverluste bei Krankheit in Gestalt des Krankengeldes. Dieses beläuft sich auf 70 % des Nettoarbeitsentgelts (§ 46 SGB V). Es wird von den Krankenkassen für höchstens 78 Wochen gezahlt und ist lediglich dann nicht zu zahlen, wenn dem Arbeitnehmern Lohnfortzahlung geschuldet und gewährt wird (§ 49 SGB V).
Die Karenzzeit in der Lohnfortzahlung stellte die Erkrankten also nicht schutzlos, sondern beriefe als Auffangeinrichtung die gesetzliche Krankenversicherung. Sie hätte in Höhe von 70 % des Nettolohns für den ausgefallenen Tag der Lohnfortzahlung ein existenzsicherndes Krankengeld zu zahlen. Karenztage bei der Lohnfortzahlung würden zwar die Arbeitgeber entlasten, gleichzeitig würden der sozialen Krankenversicherung jedoch zusätzliche Kosten zur wirtschaftlichen Sicherung von Erkrankten überbürdet.
Dies wäre zunächst für die Arbeitnehmer mit Misshelligkeiten verbunden. Wegen des Wegfalls der Lohnfortzahlung müssten sie für die Karenztage Krankengeld beantragen. Diesem Zusatzaufwand für Arbeitnehmer korrespondiert eine Zusatzbelastung der Krankenversicherung. Sie müsste einerseits für eine sehr kurze Zeit von einem Tag oder wenigen Tagen das Krankengeld bewilligen und auszahlen und die mit diesen Verwaltungsvorgängen verbundenen Zusatzbelastungen tragen. Darüber hinaus flössen ihnen im Gegenzug wegen der durch die Karenzzeit verbundenen Lohnkürzungen auch weniger Beiträge zu, weil diese aus dem Arbeitslohn zu entrichten sind und jede Lohnsenkung sich in Beitragsausfällen niederschlägt.
Alle diese Schwierigkeiten träten nicht ein, wenn Karenztage auch auf das Krankengeld erstreckt würden. Dann belasteten die Karenztage bei der Lohnfortzahlung nicht auch die Krankenversicherung. Diese Regelung würde aber den Schutz der Arbeitnehmer noch weiter verschlechtern und damit die Fragwürdigkeit der Karenzregelungen potenzieren.
Das zur Rechtfertigung der Lohnfortzahlung häufig vorgebrachte Argument, auf diese Weise würden Versicherte an den Kosten für die Krankenversorgung beteiligt, woraus ein Anreiz erwachse, möglichst gesund zu bleiben, verfängt im Hinblick auf Karenztage bei Lohnfortzahlung und Krankengeld nicht. Denn Lohnfortzahlung und Krankengeld unterstützen nicht gesundheitsförderliches Verhalten, sondern gleichen den Verlust des Erwerbseinkommens aus.
Zudem könnte die Einführung von Karenztagen unerwünschte Nebenwirkungen haben: Das sog. „Presentism“ (Gegenbegriff zu „Absenteeism“) – Phänomen beschreibt, dass Beschäftigte aus Furcht vor Entgeltverlusten oder sonstigen Maßregelungen trotz einer Krankheit zur Arbeit gehen – sich jedenfalls am Arbeitsplatz präsentieren. Dies birgt gesundheitliche Risiken, etwa durch die Verbreitung ansteckender Krankheiten oder eine Verschlimmerung der eigenen Erkrankung, was langfristig auch Arbeitgeber und die gesetzliche Krankenversicherung belastet.
Schließlich vollziehen sich Karenzzeiten in der Lohnfortzahlung nicht von selbst. Vielmehr hat der Arbeitgeber auch deren Voraussetzungen zu überprüfen und deren Folgen anzuordnen. Dies verlangt nach entsprechenden betrieblichen Abläufen: Sie bereiten Mühe und kosten Geld.
Folgerungen
Der Vorschlag Karenztage in der Lohnfortzahlung einzuführen, zeigt beispielhaft, wie das Sozialleistungssystem durch Reformen, die auf pauschalen Urteilen, Verkürzungen, der Verkennung historischer Zusammenhänge und falschen Zuordnungen basieren, erheblich geschädigt werden kann.
Solche Fehl- und Kurzschlüsse führen zu unnötiger Komplexität im Sozialleistungssystem. Scheinbar einfache Lösungen erweisen sich bei näherer Betrachtung erfahrungsgemäß selten als probat, sondern – wie auch beim Vorschlag über die Karenzzeit in der Lohnfortzahlung – als unausgereift: wo Eleganz gefragt wäre, waltet nichts als Umstandskrämerei!