30 October 2025

Luxemburgs Lohnfrage

Der Europäische Gerichtshof entscheidet über die Mindestlohnrichtlinie

Am 11. November wird es in Luxemburg interessant: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird sein lange erwartetes Urteil über die im Oktober 2022 verabschiedete Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (2022/2041/EU) verkünden. Dänemark bestritt, dass der Unionsgesetzgeber befugt war, die Mindestlohnpolitik der Mitgliedstaaten zu adressieren, und reichte im Januar 2023 eine entsprechende Klage beim EuGH ein (Rs. C-19/23). Schweden unterstützte Dänemark als Streithelfer. Im Januar 2025 legte Generalanwalt Emiliou seine Schlussanträge vor. Er schloss sich der Sichtweise Dänemarks und Schwedens an, qualifizierte die Richtlinie als kompetenzwidrig und plädierte dafür, sie vollständig zu annullieren. Geschieht das am 11. November tatsächlich, wäre das sensationell. Richtlinien werden nur selten annulliert, der letzte spektakuläre Fall war die Aufhebung des ersten Anlaufs für eine Tabakwerberichtlinie (98/43/EG) im Jahr 2000.

Der Fall gibt dem EuGH Gelegenheit, sich zu Umfang und Grenzen der Sozialkompetenzen des Unionsgesetzgebers zu äußern. Diese sind in Artikel 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union (AEUV) gelistet und in mehrerlei Hinsicht spärlich ausgestaltet: Sachlich geht es vor allem um den arbeitsrechtlichen Arbeitnehmerschutz, nicht um die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich ausgestaltete Organisationsweise der Sozialversicherungen. Erlaubt sind stets nur unionale Mindestbestimmungen, keine Vollharmonisierungen. Geht es um sensible Bereiche wie die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, braucht es Einstimmigkeit im Rat. Vor allem aber sind bestimmte Materien gänzlich von den Sozialkompetenzen ausgenommen. Der Absatz 5 des Artikels 153 AEUV lautet: „Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht.“ Auch der Mindestlohn ist ein Arbeitsentgelt.

Ursprung und Inhalt der Richtlinie

Als Ursula von der Leyen im Juli 2019 zur Kommissionspräsidentin gewählt werden wollte, hatte sie den Mitte-Links-Fraktionen im EP versprochen, eine Mindestlohnrichtlinie auf den Weg zu bringen. Ob sie den Umfang der EU-Sozialkompetenzen dabei vor Augen hatte, ist unklar. Doch das Versprechen war in der Welt. Das Ergebnis gleicht dem Versuch der Quadratur des Kreises. Die Richtlinie will ausweislich ihres Titels die Angemessenheit von Mindestlöhnen regeln – und muss genau diesen Gegenstand gleichzeitig jedoch auf Abstand halten, um nicht gegen die Bereichsausnahme zum Entgelt zu verstoßen.

Im Kern regelt die Richtlinie zweierlei: Länder, die einen gesetzlichen Mindestlohn haben, müssen zur Bestimmung der Mindestlohnhöhe ein transparentes Verfahren mit nachvollziehbaren Kriterien aufsetzen. Diese Bestimmungen finden sich in Artikel 5 der Richtlinie. Weder werden Ländern mit gesetzlichen Mindestlöhnen konkrete Mindestlohnbeträge abschließend vorgegeben, noch werden Länder ohne solche Lohnuntergrenzen angehalten, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen. Zudem befasst sich Artikel 4 mit der Ausbreitung von Tarifverträgen. Länder, deren tarifvertragliche Deckungsraten niedriger sind als 80% der abhängig Beschäftigten, müssen der Kommission Aktionspläne zur Anhebung der Tarifbindung mitteilen. Die Richtlinie wählt insgesamt einen weichen, prozeduralen Ansatz, der lediglich in einigen Details durch materiellrechtliche Vorgaben durchbrochen wird – so etwa beim Verbot eines nominalen Sinkens der Mindestlohnbeträge im Falle indexierter gesetzlicher Mindestlöhne in Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie. Aber selbst dort, wo die Vorgaben weich sind, bleibt strittig, ob sich der Unionsgesetzgeber eigentlich um die erfassten Themen kümmern durfte.

Bemerkenswert ist nun, dass die Richtlinie gerade in Dänemark und Schweden kaum Änderungsbedarf hervorrufen dürfte. Beide Länder haben keine gesetzlichen Mindestlöhne und ihre tariflichen Deckungsraten rangieren oberhalb der 80%-Schwelle. Wie kann es sein, dass ausgerechnet die sozialdemokratischsten Länder der Union die sozialdemokratischste Richtlinie seit langem so vehement bekämpfen, bis hinauf zum Gerichtshof?

Die nordischen Ängste

Das Problem liegt in der Logik der nordischen Modelle der Arbeitsbeziehungen. In Dänemark und Schweden sind die arbeitsrechtlichen Individualrechte schwach ausgeprägt. An deren Stelle tritt eine umfassende kollektive Tarifautonomie; fast alles wird durch tarifautonome Normsetzung geregelt. Die nordischen Länder befürchten, dass durch die EU-Sozialgesetzgebung immer mehr Individualrechte in ihre Systeme einwandern und die tarifautonome Logik auf diesem Wege zurückdrängen. Sie glauben, dass das ihre Systeme sprengen könnte. Und sie haben die Erfahrung gemacht, dass auf Zusicherungen der EU, sie würde auf die speziellen nordischen Modelle Rücksicht nehmen, wenig Verlass war.

Könnte die Richtlinie in künftigen Gerichtsverfahren so ausgelegt werden, dass sie den Dänen und Schweden am Ende eben doch einen gesetzlichen Mindestlohn aufzwingt? Oder dass sie beiden Ländern Bestimmungen zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen aufdrängt, die sie auf keinen Fall haben wollen? Dem Willen des Unionsgesetzgebers entspräche das definitiv nicht. Man sollte die Ängste der Dänen und Schweden gleichwohl nicht als paranoid abtun.

Im Hintergrund der Richtlinie steht Artikel 31 der EU-Grundrechtecharta, der in Absatz 1 ein individuelles Recht auf würdige Arbeitsbedingungen postuliert. Angesichts einer dynamischen Rechtsprechung zum Verhältnis von Unionsgrundrechten und Sekundärrecht ist nicht auszuschließen, dass der EuGH die Richtlinie als Konkretisierung des Unionsgrundrechts deuten könnte, auf das sich Private fortan vor Arbeitsgerichten berufen könnten. Die Dänen und Schweden sehen jeden Meter, den der Unionszug in diese Richtung rollt, mit großem Argwohn. Sie befürchten eine Vollkollision mit ihren Arbeitsmarktordnungen und wollen die Kompetenzkonformität und den Gehalt der Richtlinie daher möglichst frühzeitig höchstrichterlich geklärt wissen.

Drei Streitpunkte

Im Kern wird der EuGH am 11. November drei Fragen entscheiden. Erstens: Darf der Unionsgesetzgeber in die Mindestlohnpraktiken der Mitgliedstaaten eingreifen, obwohl Artikel 153 Absatz 5 AEUV das Arbeitsentgelt von den Sozialkompetenzen ausnimmt? In einer langen, im Jahr 2007 mit der Entscheidung zur Rechtssache Del Cerro Alonso (Rs. C-307/05) Rechtsprechungsserie hat der EuGH bereits entschieden, dass die Bereichsausnahme lediglich unmittelbare Eingriffe in das Arbeitsentgelt verbietet. Weiche Eingriffe sind nicht unmittelbar, sagen die Verteidiger der Richtlinie. Den Generalanwalt hat das nicht überzeugt. Im streitigen Fall, so legte er dar, geht es nicht um eine unionale Antidiskriminierungsnorm, die sich mittelbar auch auf das Entgelt auswirkt. Vielmehr adressiere die Richtlinie das Entgelt unmittelbar – ob weich oder hart, sei nicht der Punkt. Das ist ziemlich überzeugend. Gleichwohl blieb das Kriterium der Unmittelbarkeit in der EuGH-Judikatur bis zuletzt unterbestimmt. Möglicherweise legt das Gericht das Kriterium enger aus als der Generalanwalt, um dem EU-Gesetzgeber nicht in die Parade zu fahren.

Zweitens wird der EuGH zu klären haben, ob die Richtlinie tarifvertragliche Deckungsraten regeln durfte. Artikel 153 Absatz 5 AEUV nimmt nicht nur das Entgelt, sondern auch das Koalitionsrecht von den Unionskompetenzen aus. Gleichzeitig erlaubt derselbe Artikel in Absatz 1 (dort Buchstabe f) aber einstimmige Richtlinien zur kollektiven Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen. Beides ist sachlich sehr nahe beieinander – das Sozialkapitel des AEUV wurde offenbar nicht von Logikern verfasst. Liegen Maßnahmen zum Schutz und zur Steigerung von Tarifdeckungsraten nun innerhalb oder außerhalb der Unionskompetenzen? Generalanwalt Emiliou hatte den Konflikt zugunsten des EU-Gesetzgebers aufgelöst und es wäre erstaunlich, wenn der EuGH anders vorginge. Für die Vollannullierung hatte Emiliou gleichwohl plädiert, weil der Gesetzgeber die Maßnahme explizit als Mittel zur Bewegung von Mindestlöhnen in Stellung gebracht hatte. Eine isolierte Tarifabdeckungsrichtlinie hätte er wahrscheinlich als kompetenzkonform qualifiziert.

Drittens muss der EuGH entscheiden, ob die Richtlinie mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden durfte. Der Unionsgesetzgeber hatte die Richtlinie nämlich in Gänze auf die Ermächtigung zum Erlass von Mindestregelungen zu Arbeitsbedingungen gestützt, obwohl für die Tarifdeckungsbestandteile eigentlich Artikel 153 Absatz 1 Ziffer f einschlägig ist – der aber Einstimmigkeit im Rat voraussetzt. Hat der Gesetzgeber auf diese Weise ein Einstimmigkeitserfordernis strategisch umgangen? Für den Generalanwalt ging dieses Vorgehen grundsätzlich in Ordnung, weil die Richtlinie überwiegend den gesetzlichen Mindestlohn regelt. Ob diese Milde gerechtfertigt war, sei dahingestellt. Denn die EuGH-Rechtsprechung zur korrekten Kompetenzwahl bei Richtlinien mit multiplen Zielsetzungen oder Komponenten erlaubt ein solches Vorgehen nur, wenn die in Frage stehende Komponente lediglich nebensächlich ist (Rs. C-244/17, Kommission/Rat, Rn. 37). Das wird man vorliegend kaum behaupten können. Kompetenzfragen sind originäre Demokratiefragen. Die Zuordnung der Materien zu den mit unterschiedlichen Entscheidungshürden versehenen Gesetzgebungsverfahren ist dabei nicht weniger bedeutsam als die Frage, ob überhaupt eine passende Kompetenznorm vorliegt.

Fazit

Insgesamt also dürfen wir gespannt sein, wie eng der Gerichtshof die Bereichsausnahme zum Arbeitsentgelt auslegt und ob er die Richtlinie an dieser Auslegung scheitern lässt. Der naheliegenden Lesart, dass eine Mindestlohnrichtlinie das Arbeitsentgelt direkt und damit unmittelbar adressiert und den Kompetenzrahmen daher sprengt, dürfte ein ausgeprägter Wille der EU-Richter gegenüberstehen, dem Unionsgesetzgebers keine Steine in den Weg zu legen. Einen Verstoß gegen das Verbot, in das Koalitionsrecht einzugreifen, wird das Gericht wohl richtigerweise nicht erkennen. Eine andere Frage ist aber, ob die Dänen und Schweden bei der Verabschiedung der Richtlinie überstimmt werden durften. Es spricht mehr dagegen als dafür. Selbst wenn der EuGH die Mindestlohnbestandteile der Richtlinie verwerfen sollte, bliebe ein zweiter Anlauf für eine isolierte Tarifabdeckungsrichtlinie wohl möglich – dann aber einstimmig, so dass die Dänen und Schweden zunächst davon zu überzeugen wären, dass von einer solchen Richtlinie keine Gefahr für ihre sehr besonderen Arbeitsmarktmodelle ausgeht.


SUGGESTED CITATION  Höpner, Martin: Luxemburgs Lohnfrage: Der Europäische Gerichtshof entscheidet über die Mindestlohnrichtlinie, VerfBlog, 2025/10/30, https://verfassungsblog.de/luxemburgs-lohnfrage/, DOI: 10.59704/a82ba4991fa16e5c.

One Comment

  1. Seneca Mon 3 Nov 2025 at 11:13 - Reply

    “The obvious interpretation—that a minimum wage directive directly and thus immediately addresses wages and therefore exceeds the scope of competence—is likely to be countered by a strong desire on the part of the EU judges not to obstruct the EU legislature.”

    Which says a lot about the CJEU’s legitimacy and intellectual quality. A politicised and biased Court who seize every opportunity to enroach on the Member states in support of a federal project that does not enjoy popular or democratic support.

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