Neues vom Glossator (13): Vom Treiben
Das wird heute eine wilde Glosse, ich bin zu aufgewühlt, um den Text zu glätten.
Worum geht es? Einerlei, denn der Text ist ohnehin entzwei(t). Egal worum es geht, es geht immer, immer weiter. Montag für Montag Montage, Montag für Montag montiere ich hier Texte, weil die Welt laufend unterbrochen wird. Dauernd passiert etwas. Nur weil etwas passiert heißt das aber nicht, dass die Dinge glatt laufen. In Europa kommen täglich Passagiere an. Und darüber gibt es größten Streit. Was kann ein Glossator dazu sagen? Er kann dazu vor allem glossieren.
Die Glossen, schon diejenigen der alten Glossatoren, aber auch die neuen, zeichnen sich durch vieles aus, auch durch folgendes: Sie haben einen Zusammenhang und sie sind zusammenhangslos. Es geht immer um etwas anderes und immer um das gleiche. In der Verdichtung kreisen die Glossen um die Tautologie dessen, was ist, was es ist und sie kreisen um den Widerspruch, dass etwas nicht ist, was es ist. Gesetz ist Gesetz, Recht ist Recht. Aber Gesetz ist nicht gleich Gesetz und Recht ist nicht gleich Recht. Die Menschenwürde gilt für alle Menschen, aber nicht gleich, denn es kommt immer auf den Fall an, wie sie gilt. Ist das kein Durcheinander? Wenn es eines ist, dann mag das nicht immer praktisch sein, eine Praxis dazu gibt es aber immer. Es geht mir heute um einen Kommentar zum Treiben, einer Praxis, die sich in dem Umgang mit der Entzweiung gebildet hat.
Gesetze fixieren etwas, die glossatorische Praxis treibt. Was von beiden fixierter, was hingegen fixer ist, das lässt sich oft nur schwer bestimmen. Sicher findet man Ewigkeitsklauseln nur in solchen Texten, die als gesetzesförmig gelten, in Deutschland etwa in der Verfassung. Von daher liegt es nahe zu sagen, dass Gesetze fixierter, Kommentare beweglicher seien. Auch weil Art. 1 Abs. 1 GG in der deutschen Verfassung nur einmal, die Kommentare dazu aber zahlreich vorkommen, liegt es nahe anzunehmen, dass Gesetze fixierter, Kommentare aber wankelmütiger sind. Um 1800 taucht aber schon die Rede von der fixen Idee auf – und die fixe Idee gilt (im Gegensatz zur Idee und zum Ideal, die gerne auch ewig wären mögen) auch als Wahn. Ewige Ideen hier, fixe Ideen da: In Europa kam schon immer beides nebeneinander vor. Etwas zu fixieren kann auch bedeuten, zu starren. Und schon lange gibt es in Europa eine Normativität, die dem Starren Beschränkungen auferlegt. Vor dem Starren, dem Fixieren wird gewarnt – schon im Mythos.
Der europäische Mythos um das Fixieren ist ein Mythos, der von einer Frau handelt, der Gorgone Medusa, und von einem Mann, dem Perseus. Man soll sie nicht anstarren, sonst erstarrt man. Die Gorgone Medusa fordert mit ihrer wüsten Wildheit heraus. Sie ist kein reines Wesen. Das Grauen, das sie erregt, so schreibt Klaus Heinrich 1985, sei jene erst noch zu lösende Verquickung von herausfordernder Wildheit und Erstarrung. Kommt die Medusa aus fremden Ländern? Kommt sie aus den Ländern, wo die Wildheit herrscht, und will sie in das Land, in der diese Wildheit bezwungen wurde? Der Mythos ist europäisch. Wir haben Medusa erfunden, nicht nur den Perseus. Wir haben den Schlangenkopf erfunden, nicht nur den Spiegel und das Schild. Und wir haben das alles erfunden, weil uns das ein Problem ist. Europa ist nicht harmlos, es ist nie harmlos gewesen. Wildheit und Erstarrung sitzen in seinen Gesetzen und seiner glossatorischen Praxis. Hier werden Köpfe abgeschlagen und spiegelnde Schilder erfunden. Spiegelnde Schilder, die das Wilde an sich selbst erstarren lassen sollen, ein Wildes, das in Europa selbst erfunden wurde.
Martin Grabmann hat einmal, wohl mit kantianischem Hintergrund, die Ratio und die Autorität als Triebfeder der scholastischen Methode bezeichnet. Ratio als Triebfeder, als Triebkraft, Treiben oder Trieb, eine gewagte Bezeichnung wählte Grabmann da. Autorität erscheint in dem Kontext als diejenige Instanz, die einen zu etwas bringen soll und sei es nur zum richtigen Gedanken. Treiben und zu etwas bringen: Die europäischen Rechtsordnungen kreisen nicht nur um das eine Fixierte des Gesetzes, sie fixieren das Gesetz und kreisen auch um das andere Fixierte des Gesetzes. Sie kreisen um das Stille und die Ruhe der Gründe, aber auch um aufwühlende Abgründe. Ratio und Autorität sind ‚glänzende Einrichtung‘ Europas, einer herrschaftlichen Normativität, die das Wilde bezwungen haben will. Ratio und Autorität sind aber wesentlich enger verbandelt, als es jüngere Entgegensetzungen nahelegen. Hier die westliche Gesellschaft einerseits und da ihre autoritären Gegenformen? Hier die EU und da Trumps Amerika, da Putins Russland, da China? Wenn es Unterschiede in den Gesellschaften gibt, und die soll es geben, dann sind diese Unterschiede ungesichert. Dann sollten diese Unterschiede gesichert werden. Gibt es diese Unterschiede nicht, müssen sie nicht gesichert werden.
Mir fällt in dieser Woche, in der nicht nur im Netz darüber diskutiert wurde, was eigentlich gefährlich sei, Menschen in Schlauchbooten oder die Lifeline, und in der darüber diskutiert wurde, ob man nicht lieber ein paar absaufen lässt, damit die anderen gewarnt seien, nicht viel mehr ein, als in die Gründe und Abgründe Europas zu schauen.
Hatte ich noch vor zwei Wochen, in Bezug auf Kants Lässigkeit, von der Leere der praktischen Vernunft geschrieben, muss ich jetzt hinzufügen, dass diese Leere doch immer schon ziemlich gefüllt ist. Man glaubt, man könne ins Nichts schauen – und sei es nur aus den transzendentallogischen Gründen, die Kant angibt. Aber überall, wo man hinschaut, ist die Leere schon gefüllt. Das Jenseits, Walter Benjamin hat darauf insistiert, liegt hinter uns und starrt uns durch die Zeugnisse unserer Kultur, vulgo Trümmerhaufen, an.
Gèricault, der das Floß der Medusa vor so langer Zeit malte und dessen Gemälde in den letzten Wochen noch in dem einem Video von Beyoncé und Jay-Z auftauchte, und zwar zu dem Song Apeshit [sic!], könnte wohl aus guten Gründen auf die fixe Idee kommen, dass sein Gemälde unerledigt sei.
Wie auch immer Sie sich in Zukunft engagieren, wenn es darum geht, Wilde von Europa fern zu halten oder eben aus Europa zu entfernen, seien Sie sicher, dass Sie nicht alleine sind und dass Sie nicht der erste, nicht die erste sind, die diese Wildheit von Europa fern halten will.
Überlegen Sie sich gut, ob sie sich gegen den Kapitän der Lifeline engagieren und gegen diejenigen, die mit großen Zynismus als Gutmenschen bezeichnet werden. Überlegen Sie sich, wie sie mit den Konflikten zwischen Europa und Afrika umgehen wollen, europäisch oder afrikanisch oder (was ich empfehlen würde) transnational, also auch mit einem Europa, das Afrika ähnlich ist. Man wird später auf Ihre Sätze und Taten zurückgreifen, man wird Spuren davon in den Archiven finden, eventuell werden Sie sogar später in einem Museum gewürdigt. Wenn Sie glauben, Perseus sei besser als Medusa und Perseus habe Medusa erledigt, dann soll mich das nicht unbedingt stören, an irgendwas müssen die Menschen wohl glauben. Mich würde es eher stören, wenn Sie nicht damit rechnen, dass man sich später an Sie und ihr Engagement erinnert.
Bei dem Gemälde kann sich eine Forderung nach Zurückweisung an der Grenze aufdrängen. Ungeglättetheit der Glossierung muss nicht ungünstig wirken.
Momentan müssen allerdings eher diejenigen sich sorgen, die sich für den Kapitän der Lifeline engagieren. Wer sich für Aufklärung und progressive Ideen einsetzen, erst recht wenn es mit den Mitteln des zivilen Ungehorsams geschieht, hat in Deutschland schon immer scheele Blicke von den braven Bürgern geerntet und musste mit Repression seitens des Staats rechnen. Sehr schön erzählt dieses Lied davon: https://www.youtube.com/watch?v=bGhJbr7DMmg