Dialog der Verfassungsgerichte: Ich bin okay, du bist okay
Der EGMR hat in seiner heutigen Entscheidung zur Sicherungsverwahrung das Freundschaftsangebot des Bundesverfassungsgerichts auf das Herzlichste erwidert. Der EGMR, so heißt es in der Entscheidung,
welcomes the Federal Constitutional Court’s approach of interpreting the provisions of the Basic Law also in the light of the Convention and this Court’s case-law, which demonstrates that court’s continuing commitment to the protection of fundamental rights not only on national, but also on European level.
In der Sache sieht das Gericht kein Problem mit Art. 5 I EMRK (persönliche Freiheit), weil mit dem BVerfG-Urteil sichergestellt sei, dass künftige Verlängerungen der Sicherungsverwahrung einem strengen Verhältnismäßigkeitstest unterworfen sein werden.
So sieht er aus, der Dialog der europäischen Verfassungsgerichte: Jeder hat verinnerlicht, dass nationale, supranationale und internationale Rechtssysteme über- und nebeneinander koexistieren in der heutigen europäischen Wirklichkeit, und dass es keinen Sinn mehr hat, die Einheit einer einzigen Rechtsordnung auf Kosten der anderen Rechtsordnungen herstellen und durchsetzen zu wollen. Jeder bemüht sich stattdessen nach Kräften, das dem jeweils anderen zur Hütung anvertraute Rechtssystem möglichst zu schonen und bei der Auslegung und Ausgestaltung des eigenen Rechtssystems zu berücksichtigen.
Das hinbekommen zu haben, dass tatsächlich eine solche Pluralität der Rechtsordnungen möglich ist, bewusst praktiziert wird und funktioniert: Das ist eine spektakuläre zivilisatorische Leistung, die ohne Vorbild ist und auf die wir als Europäer wirklich stolz sein können.
Jepp. Das ist ein guter Anlass, um mal was Prickelndes zu öffnen. Vor ein paar Monaten liefen beide Gerichte noch wie zwei Züge aufeinander zu. Sehr wohltuende Diskurskultur!
Ich will die Dramaturgie der schönen Eintracht nicht unnötig stören, aber zwei Hinweise seien erlaubt:
Der jetzt vom EGMR entschiedene Fall ist unspektulär, weil er kein Fall der bisher vom EGMR und (neuerdings, ihm folgend) vom BVerfG beanstandeten Rückwirkung ist. Das heutige Ergebnis des EGMR wäre kein anderes gewesen, wenn es den zwischenzeitlichen Umschwung beim BVerfG nicht gegeben hätte.
Eine andere Frage ist, was mit den Beschwerden in den Rückwirkungsfällen passieren wird, die sicherlich noch in Straßburg anhängig sind oder anhängig gemacht werden. Man braucht kein Hellseher zu sein, um vorauszusagne, daß Deutschland mit der nötigen Härte verurteilt wird. So weit geht das Harmonie mit dem BVerfG nun doch nicht.
Wie ich bereits in http://blog.delegibus.com/2011/02/13/nachtragliche-sicherungsverwahrung-der-rehabilitierte-justizminister/ geschrieben habe, muß der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben von MRK/EGMR und GG/BVerfG kumulativ beachten. Letztere besagen, daß ein Zustand der Verfassungswidrigkeit noch rund zwei Jahre aufrechterhalten werden darf. Erstere hingegen kennen keine Übergangsfrist und der Gesetzgeber muß sofort tätig werden. Da die Anforderungen hier also höher sind, muß sich der Gesetzgeber nach ihnen richten.
Die beiden Gerichte (und “nebenbei” auch den EuGH) eint die Idee der richterlichen Normenkontrolle und deren Propagierung. Insofern – das ist den Richtern bewusst – wäre ein publikumsträchtiger institutioneller Streit ganz klar kontraproduktiv.
Im Detail mag es Unterschiede/Differenzen geben in den Basisdokumenten, die die Gerichte für die Normenkontrolle zu Grunde legen – für die laienhafte Öffentlichkeit sind die inhaltlichen Diskrepanzen zwischen Menschenrechtskonvention, Grundgesetz und EU-Verträgen kaum nachvollziehbar.
Problematisch ist (und bleibt) die institutionelle Zuständigkeit und vor allem die Frage der Hierarchie. Hier lassen sich die Institutionen der richterlichen Normenkontrolle alle (Hinter-) Türen offen. Der von Steinbeis zitierte Abschnitt belegt die diplomatische Linie, die die Gerichte an den Tag legen. Der von mir hier in diesem Blog und andernorts vertretene These von der (zwischen verschiedenen institutionellen Akteuren) dialogischen Verfassungsinterpretation findet hier ihre (scheinbare) Bestätigung.
Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass – entsprechende Konstellationen im öffentlichen Diskurs vorausgesetzt – irgendwann doch wieder das eine oder das andere Gericht die eigene Suprematie bekräftigt – sei es in einem konkreten Einzelfall (das wäre noch “harmlos”) oder aber gar prinzipiell (das wäre dann hinsichtlich der Konsequenzen spannend).
Straßburg locuta, causa finita? Keineswegs!
@garcia: Ich will ja gar nicht, dass die Gerichte sich immer nur lieb haben. Die sollen sich schon auch kritisch miteinander auseinandersetzen. Solange sie miteinander reden.
Den Punkt mit der Übergangsfrist sehe ich auch, das könnte noch Schwierigkeiten geben. Ist ja überhaupt im Moment ein heißes Eisen, diese Übergangsfristen-Nummer…
@Herrmann: Ausschließen kann man gar nichts. Wer weiß, vielleicht lässt Karlsruhe ja in der Bailout-Geschichte das Ultra-Vires-Fallbeil fallen (hätte dann allerdings nix mit dem EuGH zu tun). Aber der von mir ja wortreich beschworene Krieg der Richter findet jetzt nach Honeywell, nach Sicherungsverwahrung jedenfalls fürs erste nicht statt, so wie es aussieht, und das ist doch wahrhaftig schon mal was, oder?
[…] ansieht. Auf diesen freundlichen Gruß von Straßburg ins nahe Karlsruhe hat Max Steinbeis im Verfassungsblog hingewiesen und dabei noch einmal in Erinnerung gerufen, daß der “Dialog der europäischen […]