Robert Habecks Rede und die "hier lebenden Muslime"
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Bekenntnisdruck

Robert Habecks Rede und die "hier lebenden Muslime"

Darf ich Ihnen ein kleines Rätsel aufgeben? Von wem stammt das folgende Zitat?

Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt – zurecht. Wenn sie angegriffen werden, muss dieser Anspruch eingelöst werden. Und das gleiche müssen sie jetzt einlösen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Sie müssen sich klipp und klar vom Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen.

Interessantes Argument, nicht wahr? Der „Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt“ der „hier lebenden Muslime“ wird hier in einen merkwürdig zweideutigen Zusammenhang mit der Erfüllung eines Gegenanspruchs gestellt. Sie müssen etwas tun, um ihren eigenen Anspruch jedenfalls auf Toleranz, wenn nicht gar auf Schutz nicht aufs Spiel zu setzen. Sie, die „hier lebenden Muslime“, gehören der nationalen Schicksalsgemeinschaft der Holocaust-Erben nicht natürlicherweise an, bleiben immer ein bisschen verdächtig, ihre Loyalität zur bundesdeutschen Staatsräson immer ein bisschen zweifelhaft. Weshalb sie sich bekennen müssen. Nicht nur pflichtschuldig, nicht mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken, nicht verunklart durch irgendwelche postkolonialen Kontexte und Klügeleien, sondern ohne Wenn und Aber, „klipp und klar“. Wer diesen Anspruch nicht erfüllt, wer da noch Raum für Zweifel und Fragen lässt, „unterläuft“ damit den „eigenen Anspruch auf  Toleranz“.

 

Um das Rätsel aufzulösen: Es war Robert Habeck, der grüne Vizekanzler, der das gesagt hat in seiner viel bejubelten Videorede zu „Israel und Antisemitismus“. Die Debatte zu entwirren hat Habeck sich vorgenommen, und in der Tat schafft seine Rede in befreiender Weise Klarheit darüber, dass jüdisches Leben in Deutschland jeden Schutz bekommen muss, den sie benötigt. Die zitierte Passage sorgt bei mir jedenfalls ehrlich gesagt aber nicht für Ent-, sondern für Verwirrung.

 

Dass es unter den in Deutschland lebenden Muslim*innen knallharte Antisemit*innen in großer Zahl gibt und dass sie die Sicherheit der Jüd*innen nicht nur in Deutschland in unerträglicher Weise bedrohen, ist mir völlig klar. Ebenso die vielen Fingerzeige auf Israel, die in Wahrheit als Relativierungen oder gar Legitimierungen des Terrors gemeint sind und auch so verstanden werden. Dass es unter den vielen verschiedenen Islamverbänden nicht wenige gab und gibt, die den Hamas-Terror nicht explizit verurteilen wollen, ist mir genauso bekannt wie ihr Mangel an Repräsentativität. Das weiß ich alles.

 

Was Habeck von den Muslimen fordert, ist nicht bloß eine Distanzierung von Hamas- und anderem Terror oder überhaupt von konkreten Taten und Vorgängen, sondern eine Distanzierung vom Antisemitismus insgesamt, und zwar, aller Unschärfe und Umstrittenheit dieses Begriffs gerade in seiner auf Israel bezogenen Dimension zum Trotz, „klipp und klar“: Bekenne dich! Werde eindeutig! Nimm uns den Zweifel, auf welcher Seite du stehst, wenn du nicht deinen Anspruch auf unsere Toleranz aufs Spiel setzen willst!

 

Es ist der Vizekanzler, der diese Forderung artikuliert. Es ist der Staat. Er fordert die Muslime, die Migranten, auf, sich klipp und klar zu erklären und zu bekennen zu seiner Räson. Aber so ganz können sie ihn nie zufrieden stellen. Wann ist das Bekenntnis „klipp und klar“ genug? Sind da nicht noch lauter ex- oder implizite Vorbehalte? Sagen die das nicht bloß, um sich ihren Anspruch auf unsere Toleranz zu erwerben? Meinen die das wirklich? Ein Rest von Zweifel an der Loyalität dieser Migranten, die nicht zu Mitbürgern werden sollen, sondern nur „hier lebenden Muslime“ sein dürfen, bleibt immer. Das ist ja auch ganz nützlich, weil er den qua geteiltem Schicksal Zugehörigen der Mitbürgergemeinschaft ermöglicht, sich einander um so näher, homogener und ihrer Identität gewisser zu fühlen.

 

Wenn das so ist: Wie sicher können sich Jüdinnen und Juden in einem Land fühlen, dessen Vizekanzler unter dem jubelnden Beifall des allergrößten Teils der öffentlichen Meinung gegenüber einer vulnerablen Minderheit mit solchen Argumentationsfiguren operiert?

 

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

DÁNIEL KARSAI ist ein ungarischer Menschenrechtsanwalt, der an ALS erkrankt ist, einer unheilbaren Nervenkrankheit, die zu einer kompletten Muskellähmung und am Ende zu einem Tod durch Ersticken führt. In Ungarn ist jede legale Möglichkeit im In- oder Ausland, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, ausgeschlossen. Dagegen hat Karsai vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt. Sein Blogpost, in dem er seine Argumente schildert, gehört zum Eindrucksvollsten, was ich seit langem gelesen habe.

 

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Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) bekommt nach der Schlesinger-Affäre seinen Staatsvertrag novelliert. TOBIAS MAST und WOLFGANG SCHULZ melden ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Entwurf an.

 

Verstößt die Beschlagnahme vertraulich geführter Interviews mit inhaftierten Islamisten durch die Staatsanwaltschaft gegen das Grundrecht auf Forschungsfreiheit? Das OLG München konnte 2020 keinen Verstoß erkennen. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt die Beschwerde des betroffenen Professors zwar als unzulässig abgelehnt, aber trotzdem deutliche Worte zu dem Vorgang gefunden. KIRA KOETHE sieht das Gewicht der Forschungsfreiheit im Strafprozess gestärkt.

 

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Ein Teil der Unterstützung der EU für die Ukraine ist auch der Stärkung der rechtsstaatlichen Strukturen gewidmet, und welche das sind, beleuchtet RAPHAEL OIDTMANN.

 

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Zuletzt: das Blogsymposium zur Regulierung von Sexarbeit in Deutschland geht weiter mit Beiträgen von RONJA WESTERMEYER, MARGARETE VON GALEN, SHARI GAFFRON, TERESA KATHARINA HARRER und NIKOLAUS EISENTRAUT.

 

Das ist alles für heute. Ihnen alles Gute, Kopf hoch und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis

 

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