Forschungsfreiheit im Strafprozess
2020 lehnte erstmals ein Gericht ein Zeugnisverweigerungsrecht für Forschende ausdrücklich ab. Dass Forschende ihren Proband*innen so keine Vertraulichkeit zusichern können, macht ihre Forschung schwer bis unmöglich. Diesen Zustand kritisierten zurecht zahlreiche Jurist*innen und andere Wissenschaftler*innen, unter anderem beim Verfassungsblog. Nun hat sich das Bundesverfassungsgericht in der Sache geäußert, nachdem es die Verfassungsbeschwerde wegen einer versäumten Frist als unzulässig ablehnen musste. Das Gericht hätte es bei der Ablehnung der Beschwerde als unzulässig belassen können. Dass es dies nicht tut, offenbart bereits die Bedeutung des Falls und die Fragwürdigkeit der Münchener Beschlüsse. Diese hätten die Forschungsfreiheit – die auch die Vertraulichkeit wissenschaftlicher Daten schützt – bei der Anordnung der Beschlagnahme stärker berücksichtigen müssen. Dabei muss das Gericht insbesondere auch Fernwirkungen, die ein Eingriff in die Forschungsfreiheit auf ebendiese hat, einbeziehen und bei Kriminalitätsforschung außerdem deren Beitrag zur funktionsfähigen Strafrechtspflege durch die Prävention von Straftaten. Dass das Bundesverfassungsgericht damit deutlich Stellung zur Forschungsfreiheit bezieht, ist zu begrüßen. Ebenso, dass es einzelne Aspekte ihrer Gewichtung klarstellt und eine gesonderte Stellung der Kriminalitätsforschung durch ihren Beitrag zur Strafrechtspflege hervorhebt. All dies reicht aber leider nicht aus, um der empirischen Forschung die Sicherheit zu geben, die sie braucht, um ihren Proband*innen Vertraulichkeit zuzusichern. Darüber hinaus bleibt auch nach dem Beschluss die Frage nach einem Zeugnisverweigerungsrecht für Forschende offen, die in der vorangehenden Debatte aufkam.
Der zugrundeliegende Sachverhalt
Ein Psychologe erforscht die Hintergründe islamistischer Radikalisierung im Strafvollzug, indem er Gespräche mit Inhaftierten führt. Damit diese sich ihm anvertrauen, sichert er ihnen vorab Verschwiegenheit zu, insbesondere, dass sich ihre Äußerungen nicht auf ihre Strafe auswirken. Als die Strafverfolgungsbehörden einige Zeit später Ermittlungen gegen einen der Befragten einleiten und von der Forschung erfahren, beschlagnahmen sie Aufzeichnungen dieser für vertraulich gehaltenen Gespräche. (Rn. 1 ff.) In einer Beschwerde beim OLG München rügt der betroffene Professor, dass ihm als publizierendem Forscher das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO und das darauf fußende Beschlagnahmeverbot aus § 97 Abs. 5 Satz 1 StPO zustehe, ihn die Beschlagnahme jedenfalls in seiner Forschungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG verletzt und gegen den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Nachdem er damit beim OLG München keinen Erfolg hat, erhebt er Verfassungsbeschwerde.
Bundesverfassungsgericht äußert „erhebliche Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen“
Mit seinem kürzlich veröffentlichten Beschluss vom 25.09.2023 hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde ärgerlicherweise wegen Nichteinhaltung der gesetzlichen Frist als unzulässig abgelehnt. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass sich das Gericht dennoch zur Sache äußert und sich dabei mit Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Beschlüsse deutlich zur Forschungsfreiheit bekennt. Bei strafprozessualen Maßnahmen wie der Beschlagnahme muss wegen der mit ihnen einhergehenden Grundrechtseingriffe die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Wenn Forschungsdaten betroffen sind, muss an dieser Stelle auch die Forschungsfreiheit in die Prüfung einbezogen werden. Dies hat das OLG München nicht ausreichend getan, beklagt nun das Bundesverfassungsgericht. Weil die Forschungsfreiheit schrankenlos gewährleistet wird, kommt für einen Eingriff nur eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht – hier durch die Pflicht zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege als Teil des Rechtsstaatsprinzips – in Frage. Die Rechtsgüter hat das OLG München in der Abwägung allerdings nicht angemessen gewichtet. (Rn. 15)
Die Forschungsfreiheit schützt die vertrauliche Erhebung von Daten
Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass die Forschungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG die vertrauliche Erhebung wissenschaftlicher Daten schützt. Um darzustellen, inwiefern der angegriffene Beschluss den Gehalt des Grundrechts verkennt, geht es weiter ins Detail: Weil manche Daten von Proband*innen nur unter zugesicherter Vertraulichkeit preisgegeben werden – wie es in der Debatte schon unter anderem Pollähne, Weißer, Walter und Nedelcu anbrachten –, muss auch diese durch die Forschungsfreiheit geschützt werden. Ein staatlicher Zugriff auf Forschungsdaten untergräbt die zugesicherte Vertraulichkeit und erschwert damit Forschung, die auf sie angewiesen ist, bis zur Unmöglichkeit. (Rn. 13) Dabei nimmt das Gewicht der Wissenschaftsfreiheit in der Einzelfallabwägung mit der Notwendigkeit von Vertraulichkeit für ihre Durchführung zu.
Auch wenn diese Ausführungen offensichtlich erscheinen waren sie angesichts der angegriffenen Beschlüsse dringend notwendig. So hatte das Beschwerdegericht gegen die Vertraulichkeit der Forschungsdaten noch unter anderem damit argumentiert, dass Wissenschaft transparent und nachvollziehbar sein muss, weshalb der für den Journalismus erforderliche Quellenschutz nicht auf sie übertragen werden kann. (S. 8 f. des Münchener Beschlusses) Auf diese Argumentation hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich Bezug genommen und sie zutreffend damit entkräftet, dass Forschende nicht alle ihre erhobenen Daten veröffentlichen müssen, damit ihre Arbeit wissenschaftlichen Standards entspricht. (Rn. 15)
Bei Eingriffen muss die über den Einzelfall hinausreichende Fernwirkung berücksichtigt werden
Das Gericht betont auch einen anderen Aspekt, den das OLG München noch als „bloße nicht konkretisierte Erwartung“ abgetan hatte: dass die Gefährdung empirischer Forschung über den konkreten Fall hinausreicht. (Rn. 13) Das für empirische Forschung erforderliche Vertrauensverhältnis zu den Proband*innen können Forschende schließlich kaum aufbauen, wenn preisgegebene Informationen in einem anderen Fall bereits in die Hände der Strafverfolgungsbehörden geraten sind. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt damit die von vielen Autor*innen in Reaktion auf den Münchener Beschluss festgestellte Gefahr negativer Fernwirkungen, die das Beschwerdegericht noch verkannt hatte. Dabei trifft gerade diese Fernwirkung die Forschungsfreiheit in besonders empfindlicher Weise. So hat der Münchener Beschluss weit über den behandelten Fall hinaus Forschende damit konfrontiert, dass sie ihre Proband*innen nicht davor schützen können, dass die Strafverfolgungsbehörden Informationen erhalten, die sie vorher zu wissenschaftlichen Zwecken preisgegeben haben. Wegen der versäumten Frist gibt es keine Möglichkeit, dass das Münchener Gericht seine Entscheidung korrigiert. Aber selbst damit wären die Fernwirkungen nicht aus der Welt. Dieser erste oberlandesgerichtlich bestätigte Zugriff auf Forschungsdaten hat die schon länger befürchtete Möglichkeit eines solchen perpetuiert. Die bestehende Unsicherheit kann nur beseitigt werden, indem Forschenden ein Beschlagnahmeverbot zugesprochen wird, das eine über die Abwägung der Grundrechte im Einzelfall hinausgehende Grundlage hat, auf die sie sich verlassen können.
Kriminalitätsforschung als Beitrag zur funktionstüchtigen Strafrechtspflege
Besonders zu begrüßen ist, dass sich das Bundesverfassungsgericht nicht nur für einen starken Schutz der Forschung insgesamt ausspricht, sondern obendrein den Beitrag berücksichtigt, den empirische Kriminalitätsforschung zur Prävention von Straftaten leistet. Dies tut es, indem es ihn als Förderung der rechtsstaatlich gebotenen funktionstüchtigen Strafrechtspflege wertet, die in die Abwägung einbezogen werden muss. (Rn. 15) Diese weitere Stärkung der Rechtsposition der Kriminalitätsforschung trägt auch dem von Weißer, Walter und Nedelcu beschriebenen Phänomen Rechnung, dass mit der Schwere einer Straftat nicht nur das Interesse an ihrer Aufklärung im Einzelfall, sondern zugleich das gesellschaftliche Interesse am wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn steigt.
Herleitung eines Zeugnisverweigerungsrechts bleibt unklar
Das Verfassungsgericht verortet den Einfluss der Forschungsfreiheit in der Verhältnismäßigkeit der Beschlagnahme, was für eine verfassungsunmittelbare Rechtsposition spricht. (Rn. 12) Die im Münchener Prozess aufgeworfene und in der darauffolgenden Debatte aufgegriffene Frage nach einem Zeugnisverweigerungsrecht für Forschende als Grundlage für ein Beschlagnahmeverbot, bleibt weiterhin offen. Für dessen Herleitung wurden insbesondere eine direkte oder analoge Anwendung von § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO und eine unmittelbare Wirkung von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG oder Art. 3 Abs. 1 GG diskutiert (über den Verfassungsblog hinaus auch bei Gärditz, Strafverteidiger 2020, 716 und Gless, Neue Kriminalpolitik 2020, 275, DOI: 10.5771/0934-9200-2020-3-275). Wegen der ausführlichen Regelung beruflicher Zeugnisverweigerungsrechte in § 53 StPO, wurde ein verfassungsunmittelbares Zeugnisverweigerungsrecht bislang nur in Einzelfällen aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht hergeleitet (so etwa bei BVerfGE 33, 367), nicht jedoch für eine ganze Berufsgruppe. Dies macht es schwierig, die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts ohne weiteres auf die Frage nach einem Zeugnisverweigerungsrecht für Forschende zu übertragen. Auch zum Verhältnis zwischen Presse und Forschung, das für die Einbeziehung Forschender in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO und für eine etwaige Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG entscheidend ist, äußert sich das Bundesverfassungsgericht nicht. Diese wesentlichen Fragen, die der Münchener Beschluss aufgeworfen hat, bleiben damit unbeantwortet und tragen zur Unsicherheit über die Stellung von Forschenden im Strafprozess bei.
Fazit
Durch seinen Beschluss stärkt das Bundesverfassungsgericht das Gewicht der Forschungsfreiheit im Strafprozess. Indem es ausdrücklich die Vertraulichkeit wissenschaftlicher Daten unter Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fasst und der Fernwirkungen, die ein Eingriff in die Forschungsfreiheit auf künftige Projekte hat, große Bedeutung zumisst, gibt es den Gerichten wichtige Leitlinien für die Berücksichtigung des Grundrechts in künftigen Entscheidungen an die Hand. So sehr die Ausführungen des Gerichts zu begrüßen sind, so sehr ist es zu bedauern, dass keine vollumfängliche Entscheidung vorliegt. Der Beschluss bedingt vorerst nur, dass Richter*innen bei künftigen Fällen eine ausführlichere Abwägung vornehmen und die vorgebrachten Aspekte einbeziehen müssen. Dass staatliche Zugriffe auf Forschungsdaten im Strafverfahren sicher ausgeschlossen sind, garantiert er nicht. Dies wäre aber notwendig, damit Forschende ihren Proband*innen guten Gewissens Vertraulichkeit zusichern und so – gerade im Bereich der Kriminalitätsforschung – belastbare Daten als Grundlage für politische Entscheidungen liefern können.