Halembas Mandat
Zur zeitlichen Reichweite des parlamentarischen Immunitätsschutzes
Am Morgen der konstituierenden Sitzung des Parlaments vollstreckt die Polizei einen Haftbefehl durch Inhaftierung eines gewählten Abgeordneten – das ist weder ein Vorgang aus dem Frühjahr 1933 im Umfeld der Verabschiedung des sog. „Ermächtigungsgesetzes“ noch eine willkürliche und politisch motivierte Einschränkung des Mandats (so aber die AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag, vgl. hierzu die Pressemitteilung). Es handelt sich schlichtweg um den Vollzug einer richterlich angeordneten strafprozessualen Maßnahme gegen einen Beschuldigten, um die Durchführung eines möglichen späteren Strafverfahrens zu sichern, die ihrerseits an besondere Voraussetzungen geknüpft und nicht etwa in das Belieben der Staatsanwaltschaft gestellt ist. Der gesamte Vorgang zeigt das Funktionieren eines rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesens und offenbart zugleich die Bestrebungen der AfD (nicht etwa nur in Bayern), unter vermeintlich zutreffenden Erwägungen und Stichworten den Rechtsstaat auszuhöhlen und in seiner Substanz zu beschädigen.
Zweck und Schutzumfang parlamentarischer Immunität
Was war geschehen? Der 22-jährige Daniel Halemba war am 8. Oktober für die AfD in den Bayerischen Landtag gewählt worden; am 26. Oktober erließ das AG Würzburg einen Haftbefehl (zu den Hintergründen siehe nur die PM der Staatsanwaltschaft Würzburg vom 31.10.2023) wegen des dringenden Verdachts der Volksverhetzung (§ 130 StGB) und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§ 86a StGB) und bejahte zudem die Haftgründe der Flucht- und Verdunklungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 und 3 StPO). Neben einer Beschwerde gegen den Haftbefehl begehrte der Beschuldigte zudem vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung der Staatsregierung insgesamt und des Staatsministeriums der Justiz, von ihrem Weisungsrecht gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft dahingehend Gebrauch zu machen, dass die Staatsanwaltschaft angewiesen werde, „ihren Haftbefehl zurückzuziehen“; hilfsweise wurde die Verpflichtung begehrt, den Haftbefehl nicht zu vollstrecken. Der Bayerische Landtag hob bei Enthaltung der Mitglieder der AfD die Immunität des Abgeordneten Halemba in seiner konstituierenden Sitzung am 30.10.2023 auf, am selben Abend wurde der Haftbefehl nach § 116 StPO unter Auflagen außer Vollzug gesetzt. Der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof wurde durch Beschluss ebenfalls vom 30.10.2023 (Az. Vf. 59-Iva-23) abgewiesen, da im Hauptsacheverfahren als Organstreitverfahren nur ein Feststellungsurteil ergehen könne, hier aber ein Anspruch auf ein Handeln der Staatsregierung eingefordert würde, für das indes keine Rechtsgrundlage ersichtlich sei.
Die erste und für die Bewertung des gesamten Vorgangs maßgebliche Frage ist zunächst die nach dem Vorliegen parlamentarischer Immunität, die ein gesetzliches Hindernis für eine Strafverfolgung und Haftvollstreckung darstellt. Immunität ist die Freiheit der Angeordneten von staatlichen Verfolgungsmaßnahmen, die die Tätigkeit als Abgeordneter behindern könnten. Dabei ist der entscheidende Zweck der Immunität als einem unabdingbaren parlamentsbezogenen Grundsatz die Sicherung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments vor willkürlichen Eingriffen der Judikative oder der Exekutive (vgl. BVerfGE 104, 310, 328 ff.). Und wenngleich in Ansehung der Rechtsbindung aller staatlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 3 GG) die Gefahr politisch motivierter und einseitiger Verfolgungsmaßnahmen gering sein dürfte, so ist dies gleichwohl nicht auszuschließen, wenn Staatsanwälte weisungsgebunden sind (§§ 146, 147 Nr. 2 GVG) und zudem in einigen Bundesländern die Generalstaatsanwälte politische Beamte sind (zur fehlenden Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften auch EuGH, NVwZ 2019, 1185 ff.). Allerdings kann die dem Legalitätsprinzip verpflichtete Staatsanwaltschaft ohne den Anfangsverdacht einer strafbaren Handlung keine Ermittlungstätigkeiten aufnehmen. Und auch das Weisungsrecht kann im Übrigen nicht dazu herhalten, Rechtsfolgen herbeizuführen, die den vorrangigen bundesgesetzlichen Vorgaben widersprechen. Schon von daher war ein auf ein „Zurückziehen des Haftbefehls“ gerichtetes Begehren nicht nur von Unkenntnis der Rechtslage geprägt – das Begehren selbst erweist sich als missbräuchlicher Versuch der Instrumentalisierung der Justiz.
Aber jenseits der Frage des Schutzzwecks der Immunität und der Gefahr für einzelne Abgeordnete vor willkürlicher politischer Verfolgung kommt es zunächst entscheidend auf den Schutzumfang der Immunität an. Abgeordnete genießen den Immunitätsschutz während ihrer Mandatszeit. Entscheidend ist also nicht etwa die Wahl zum Abgeordneten (sei es auf Bundes-, sei es auf Landesebene); maßgeblich ist das Innehaben des Mandats. Dabei beginnt nach unbestrittener Ansicht der Schutz mit dem Mandatserwerb, also mit der konstituierenden Sitzung des jeweiligen Parlaments. Neben der symbolischen Bedeutung hat die Konstituierung damit eine erhebliche verfassungsrechtliche Relevanz, ist sie doch der maßgebliche Anknüpfungspunkt einer Vielzahl von Rechtsfolgen. Dies betrifft vor allem die mitgliedschaftlichen Rechte der Abgeordneten des Bundestages oder der Landesparlamente, die die gewählten Bewerber mit der ersten Sitzung des Parlaments nach der Wahl erwerben. Dies bedeutet aber zugleich, dass jedenfalls vor diesem Zeitpunkt der Immunitätsschutz noch nicht galt und die Staatsanwaltschaft auch keiner Aufhebung der Immunität für ihre Strafverfolgungsmaßnahmen durch das Parlament bedurfte. Insoweit ist der Beschuldigte gerade (noch) nicht in der privilegierenden Situation des Immunitätsschutzes gewesen. Die Aufhebung des Immunitätsschutzes durch die Mehrheit der Abgeordneten am Ende der konstituierenden Sitzung war daher für die Vollstreckung des Haftbefehls ohne Relevanz; sie war aber notwendig für alle weiteren Verfolgungsmaßnahmen, die ab dem Zeitpunkt der konstituierenden Sitzung erfolgen konnten.
Befremdliches Rechts- und Staatsverständnis der AfD
Erstreckte sich möglicherweise der Immunitätsschutz auf den Zeitraum zwischen Wahl und konstituierender Sitzung des Parlaments? Indes ist diese zeitliche Vorwirkung abzulehnen, da es beim Immunitätsschutz in erster Linie um den Schutz des Parlaments selbst und erst – als Rechtsreflex – um den Schutz der Abgeordneten geht. Wenn aber allein das Parlament über die Immunität seiner Mitglieder verfügen darf, um so die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten, so setzt dies überhaupt ein konstituiertes Parlament voraus, das in der Lage ist, eine willkürfreie Entscheidung über den Immunitätsstatus zu treffen. Die Richtigkeit der vorstehenden Erwägungen folgt aber auch noch aus einem anderen Grund: Bundestag und Landtage existieren als Verfassungsorgane unabhängig von ihrer personellen Zusammensetzung, das heißt die Identität ist unabhängig von der Wahl der Mitglieder. Dieser Gedanke findet aber auch eine verfassungsrechtliche Ausformung, wenn die Wahlperiode des Bundestages mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages endet (so Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG). Dementsprechend sind zum einen parlamentslose Zeiten, in denen ein altes Parlament nicht mehr und ein neues Parlament noch nicht handlungsfähig sind, ausgeschlossen. Zum anderen wirkt sich dies aber auch auf den Immunitätsschutz aus; wenn nämlich bis zum Zusammentritt des neuen Parlaments die alte Wahlperiode dauert, dann genießen auch nur die Mitglieder dieses – alten – Parlaments den Immunitätsschutz; ein neu gewählter Abgeordneter ist noch nicht Mitglied des Parlaments und kann daher auch keinen vorwirkenden Schutz für sich in Anspruch nehmen. Dieses Zusammenspiel grundlegender staatsorganisationsrechtlicher Maximen verkennt die AfD, wenn sie von einer willkürlichen Verletzung der Rechte der gewählten Mitglieder des Parlaments sprach. Der von ihr behauptete Schutzstatus bestand jedenfalls zu diesem Zeitpunkt des Vollzugs des Haftbefehls nicht.
Jenseits dieser grundlegenden Fragestellung, deren Behandlung durch den Landtag keine Fehler erkennen lässt, offenbart aber das weitere Vorgehen der AfD ein höchst befremdliches Staatsverständnis. Abgesehen von der Unkenntnis verfassungsprozessualer Rechtsschutzmöglichkeiten, die sich bei dem Versuch zeigen, im Wege eines Organstreitverfahrens bzw. einer einstweiligen Anordnung mehr als ein Feststellungsurteil zu erreichen, was dem Charakter dieses Verfahrens nicht entspricht, ist es vor allem der Ansatz, den Bayerischen Verfassungsgerichtshof dafür zu instrumentalisieren, in ein rechtsstaatlich durch die Vorschriften der Strafprozessordnung geformtes Verfahren einzugreifen. Schon die Behauptung, hier würde willkürlich in Rechte der Abgeordneten und in die fundamentalen Rechte der parlamentarischen Opposition durch ein Zusammenwirken von (politischer) Staatsanwaltschaft und Gerichten eingegriffen (vgl. nur die Pressemitteilung der AfD-Fraktion im Bayerischen Landtag), verkennt vollständig den gewaltenteilenden, prozesshaften Charakter eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, in dem arbeitsteilig die Ermittlungen zwar der Staatsanwaltschaft obliegen, die aber ihrerseits richterlicher Entscheidungen bei besonders eingreifenden Maßnahmen wie beispielsweise dem Erlass eines Haftbefehls bedarf und dies nicht etwa kraft eigener Machtvollkommenheit anordnen kann. Das Bild, das die AfD hier zeichnet, ist ebenso verzerrt und realitätsfremd wie der Versuch sich als Karikatur rechtsstaatlicher Verfahren erweist, die Verfassungsgerichtsbarkeit für die Durchsetzung eines verfahrensfremden Ziels zu gewinnen. Im Ergebnis müsste das zu genau dem Willkürvorwurf führen, den die AfD gegenüber dem Rechtsstaat erhoben hat.
Es begegnet keinen Bedenken, wenn ein Beschuldigter in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten in Anspruch nimmt; es begegnet aber massiven Bedenken, wenn die AfD das Bild eines Unrechtsstaates zeichnet, in dem die Opposition wehrlos dem Agieren der Regierung ausgesetzt ist, sie aber gleichzeitig von eben dieser Regierung ein Handeln erwartet, dass allen rechtsstaatlichen Maßstäben Hohn spricht. Die bewusste Skandalisierung eines rechtsstaatlich geprägten Vorgangs durch die AfD innerhalb und außerhalb des Bayerischen Landtags zeigt in der völligen Verkennung der rechtlichen Maßstäbe und der bewussten Inszenierung als Opfer einer angeblichen Willkürherrschaft die verfassungsfeindliche Grundeinstellung der AfD.
Die Öffentlichkeitsarbeit und das prozessuale Vorgehen der AfD (konkret wohl ihrer bayerischen Landtagsfraktion) mögen sicherlich kritikwürdig sein. Nicht nachvollziehbar sind indes die Vorwürfe einer “völligen Verkennung der rechtlichen Maßstäbe und der bewussten Inszenierung als Opfer”. Das passt schon denklogisch nicht zusammen. Wer etwas verkennt, ist unwissend. Das Bewusstsein einer Inszenierung setzt hingegen die Kenntnis der Umstände zwingend voraus; andernfalls könnte es sich allenfalls um eine unbewusste Inszenierung handeln.
Darüber hinaus drängt sich der Eindruck auf, dass in der Bewertung mit zweierlei Maß gemessen wird. Denn der Vorwurf einer politischen Instrumentalisierung der Justiz ist in der öffentlichen Debatte leider alles andere als selten und stammt bei Weitem nicht nur aus den Reihen der AfD. Zu denken ist etwa an die folgenden Beispiele, die (soweit ersichtlich) Schwarz nicht zu einer derart empörungsgeladenen Reaktion veranlasst haben:
So behauptete in der “taz” kürzlich ein Rechtsanwalt in Bezug auf die Ermittlungen gegen die “Letzte Generation”: “Söders CSU-beaufsichtigte Generalstaatsanwaltschaft schickt ihre willfährige Justiz in fremder Frauen und Herren Länder, um dort aufzuräumen” (https://taz.de/Razzia-bei-Letzter-Generation/!5933644/).
In derselben Zeitung war 2021 über die Durchsuchungen im Bundesjustiz- und im Bundesfinanzministerium von einem “Justizskandal” die Rede, bei dem die Staatsanwaltschaft vorsätzlich gehandelt habe (https://taz.de/Justizskandal-im-Wahlkampf/!5799613/).
Der Vorsitzende der Grünen Jugend bezeichnete das Urteil des OLG Dresden gegen die mutmaßliche linksextreme Gewalttäterin Lina E. (ohne irgendeine substantiierte Kritik) als “Farce”, “Quatsch” und “völlig übertrieben” (https://www.berliner-zeitung.de/news/gruene-jugend-chef-timon-dzienus-nennt-prozess-gegen-linksextremistin