01 November 2023

30 Jahre Sonderrecht

Das Asylbewerberleistungsgesetz im Spiegel der Menschenrechte

Heute vor 30 Jahren, am 1. November 1993, trat das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Kraft. Damals lagerte der Gesetzgeber als Teil des sog. Asylkompromisses die Existenzsicherung Asylsuchender und Geduldeter aus dem allgemeinen Sozialhilferecht aus und schuf mit dem AsylbLG die Rechtsgrundlage für reduzierte Sozialleistungen (einschließlich Gesundheitsleistungen) für eine allein über den Aufenthaltsstatus definierte Personengruppe. Bis heute bildet das Asylbewerberleistungsrecht neben dem Bürgergeld (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII) den dritten Zweig der Grundsicherung. Inwiefern aber ist ein solches Sonderrecht vor dem Hintergrund des Bedeutungsaufstiegs sozialer Menschenrechte wie des UN-Sozialpakts und der UN-Behindertenrechtskonvention noch zu rechtfertigen?

Polarisierend, damals wie heute

Auch 30 Jahre nach seiner Einführung bleibt das AsylbLG rechtspolitisch hoch umstritten. Die eine Seite (etwa CDU und FDP) kritisiert aktuell wieder die verbliebene soziale Absicherung über das AsylbLG als vermeintlichen „Pull”-Faktor und fordert ein (weiteres) Umstellen von Geldzahlungen auf Sachleistungen, u.a. um Überweisungen in Herkunfts- und Drittländer zu erschweren. Die andere Seite (etwa Janda ZAR 2013, 175 (182) oder Pro Asyl) kritisiert das AsylbLG seit jeher als gleichheitswidriges „Sondersozialhilferecht“, das im Kern die vom Bundesverfassungsgericht bereits 2012 für verfassungswidrig erklärte (Urt. v. 18.7.2012 – 1 BvL 10/10) Relativierung der Menschenwürde zu migrationspolitischen (Abschreckungs-)Zwecken manifestiere.

Das Bundesverfassungsgericht hatte damals vom Gesetzgeber gefordert, signifikante Abweichungen eines etwaigen speziellen Bedarfs im AsylbLG-Leistungsbezug gegenüber demjenigen nach SGB II und XII empirisch zu belegen (Urt. v. 18.07.1012, 1 BvL 10/10, LS. 3). Aus ähnlichen Gründen erklärte das BVerfG im vergangenen Jahr eine Regelung des AsylbLG für verfassungswidrig, welche alleinstehende erwachsene Personen, die in einer Sammelunterkunft leben, in die eigentlich für sog. Bedarfsgemeinschaften (also z.B. Ehegatten) mit typischen Synergieeffekten vorgesehene Regelbedarfsstufe 2 eingruppiert (Beschluss v. 19.10.2022 – 1 BvL 3/21). In beiden Fällen begründete das BVerfG seine Entscheidungen im Wesentlichen mit einem Verstoß gegen das in Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG fundierte Grundrecht auf menschenwürdige Existenzsicherung.

Bemerkenswert sind die genannten Entscheidungen des BVerfG von 2012 und 2022 auch unter einem anderen Aspekt. Denn das BVerfG hatte sich hier erstmals intensiver mit der Vereinbarkeit von Sozialleistungsrecht mit völkerrechtlich garantierten – insbesondere sozialen – Menschenrechten auseinandergesetzt, konkret mit dem im UN-Sozialpakt enthaltenen Diskriminierungsverbot (Art. 2 Abs. 2), dem Recht auf soziale Sicherheit (Art. 9) auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 11 Abs. 1), auf Teilhabe am kulturellen Leben (Art.  15 Abs.  1 lit. a), ebenso wie mit dem in der UN-Kinderrechtskonvention statuierten Kindeswohlvorrang (Art. 3), Schutzpflichten gegenüber geflüchteten Kindern (Art. 21 Abs. 1) und ihrem Recht auf Bildung (Art. 28).

Der Aufstieg sozialer Menschenrechte

Soziale Menschenrechte fristeten als „Menschenrechte zweiter Generation“ (und manchmal wohl auch derselben Klasse) lange Zeit ein Dasein im Schatten klassischer liberaler Abwehrrechte. Die Frage ihrer Verwirklichung schien auch aufgrund ihrer Ressourcenabhängigkeit weitgehend staatlicher Souveränität und legislativer Prärogative überantwortet zu sein. Hier aber ist seit einigen Jahren ein Paradigmenwechsel zu beobachten, der sich exemplarisch an der umfassenden Transformation des deutsche Rehabilitations- und Teilhaberechts (SGB IX) zeigt, die insbesondere mit dem Bundesteilhabegesetz (BGBl. 2016 I S. 3234) vollzogen wurde und Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention berücksichtigt.

Interessanterweise nimmt der Gesetzentwurf zum Bundesteilhabegesetz auch konkret auf das AsylbLG Bezug (BT-Drs. 18/9522, 278). Als menschenrechtlich problematisch erkennt der Gesetzgeber den in § 100 Abs. 2 SGB IX statuierten Ausschluss von AslybLG-Leistungsbezieher:innen von der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung (§§ 90 ff. SGB IX). Er verweist demgegenüber auf die Möglichkeit der Gewährung von Eingliederungshilfe nach der Auffang- und Ermessensnorm des § 6 Abs. 1 AsylbLG („Sonstige Leistungen“): Bei dessen Auslegung und Anwendung seien die jeweiligen Leistungsbehörden gehalten, „den Wertentscheidungen völkerrechtlicher Verträge, an die Deutschland gebunden ist (UN-Kinderrechtskonvention, UN-Behindertenrechtskonvention), Rechnung zu tragen”, insbesondere in Fällen, in denen Kinder betroffen sind. Auch wenn der Gesetzentwurf dies nicht konkret benennt, greift er damit auch eine Forderung aus den Abschließenden Bemerkungen des zuständigen UN-Behindertenrechtsausschussesim ersten Deutschland betreffenden Staatenberichtsverfahren auf, der nämlich anmahnte, ein besonderes „Augenmerk auf Kinder mit Behinderungen, deren Eltern Zuwanderer oder Flüchtlinge sind“ zu legen (CRPD/C/DEU/CO/1, 13.5.2015, Rn. 17 und 18).

Tatsächlich war bereits einige Jahre zuvor die UN-Behindertenrechtskonvention erstmals Gegenstand einer bundesgerichtlichen Entscheidung zum AsylbLG. In einem Urteil im Jahr 2012 zog das Bundessozialgericht (BSG) die Konvention nämlich als „Auslegungshilfe“ zur Konkretisierung von § 7 Abs. 1 S. 1 AsylbLG heran (BSG, Urt. v. 24.5.2012 – B 9 V 2/11 R, Rn. 36). Diese Norm sieht die leistungsmindernde Anrechnung u.a. von „Einkommen“ vor. In dem zu entscheidenden Fall ging es darum, ob auch eine Beschädigten-Grundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz als ein solches Einkommen zu berücksichtigen sei. Das BSG urteilte aber, dass Gewaltopfern die Beschädigten-Grundrente über die Leistungen nach dem AsylbLG hinaus zu belassen seien. Dies folge aus Art. 16 Abs. 4 der UN-Behindertenrechtskonvention, der die Staaten dazu verpflichte, die Genesung, Rehabilitation und Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen, die Opfer von Gewalt wurden zu fördern.

Ein weiterer Meilenstein des Bedeutungsaufstiegs sozialer Menschenrechte in Deutschland jenseits der UN-Behindertenrechtskonvention markierte sicherlich die Einführung des Individualbeschwerdeverfahrens vor dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Das entsprechende Fakultativprotokoll wurde erst vor Kurzem von der Bundesrepublik ratifiziert und trat für diese am 20. Juli 2023 in Kraft, so dass nunmehr Einzelpersonen aber auch NGOs Verstößen gegen den UN-Sozialpakt direkt dort geltend machen können (BGBl. 2023 II Nr. 143).

Das Menschenrecht auf Gesundheit

Neben den bereits genannten, vom BVerfG bereits in Anschlag gebrachten, Normen des UN-Sozialpakts ist für die menschenrechtliche Bewertung des AsylbLG vor allem das in Art. 12 Abs. 1 des UN-Sozialpakts statuierte Recht einer jeden Person auf ein für sie erreichbares Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit. Dieses umfasst damit weit mehr als ein Recht auf Notfallhilfe bei akuter Erkrankung, sondern etwa auch die Versorgung bei chronischer Krankheit oder den Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen. Der für die Auslegung des UN-Sozialpakts zuständige Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bekräftigt dabei, dass dies u.a. einen Anspruch auf Zugang zu rechtzeitiger und angemessener Gesundheitsversorgung impliziere, die Staaten verpflichtet seien, von diskriminierenden Praktiken im Rahmen der Gesundheitsversorgung abzusehen und den gleichberechtigten Zugang zu vorbeugenden, heilenden und lindernden Gesundheitsdiensten für jeden Menschen, einschließlich Asylsuchenden und irregulären Migrant:innen, nicht zu behindern (CESCR, General Comment No. 14, 11.8.2000, Rn, 11 und 34).

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Regelungen des AsylbLG zum Zugang zur Gesundheitsversorgung als problematisch. Denn nach diesen werden Leistungen bei Krankheit nur zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erbracht (§ 4 Abs. 1 S. 1 AsylbLG), eine Versorgung mit Zahnersatz erfolgt lediglich soweit dies im Einzelfall aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist (§ 4 Abs. 1 S. 3 AsylbLG). Darüber hinaus steht die Gewährung sonstiger Leistungen, die im Einzelfall zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind im behördlichen Ermessen (§ 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG). Defizite ergeben sich hierdurch u.a. bei chronischen Erkrankungen, soweit diese nicht mit Schmerzzuständen verbunden sind, sowie bzgl. psychotherapeutischer Behandlungsangebote.

Neben dem UN-Sozialpakt ist das Recht auf Gesundheit auch in vielen weiteren Menschenrechtskatalogen vorgesehen, so etwa in Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, aber auch in Art. 24 der UN-Kinderrechtskonvention und Art. 25 der UN-Behindertenrechtskonvention.

Auch diese spezifischen Ausformulierungen des Rechts auf Gesundheit können durchaus konkrete normative Konsequenzen für die Rechtspraxis haben. So hatte das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in diesem Jahr über die Übernahme der Kosten für eine stationäre Behandlung eines Minderjährigen, der an einer Phosphatdiabetes leidet, zu entscheiden (LSG Niedersachsen-Bremen Beschl. v. 20.6.2023 – L 8 AY 16/23 B ER). Das BAMF hatte seinen Asylantrag abgelehnt, das VG über die dagegen erhobene Klage noch nicht entschieden, so dass der Antragsteller Leistungen nach dem AsylbLG bezog. Das zuständige Gesundheitsamt befürwortete einen chirurgischen Eingriff mit Kosten in Höhe von 17.600 Euro. Deren Übernahme lehnte die Behörde mit Verweis auf §§ 4 und 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG ab, da sie weder zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich noch zur Deckung besonderer Bedürfnisse von Kindern geboten sei. Das erstinstanzlich zuständige Sozialgericht gab dem gegen die Ablehnung gerichteten Eilantrag statt, das LSG wies in zweiter Instanz die hiergegen gerichtete Beschwerde zurück. Im Rahmen der Anwendung von § 6 Abs. 1 S. 1 AsylbLG verlange die vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls gem. Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention eine „besondere Rechtfertigung, wenn eine nach den hiesigen Lebensverhältnissen (…) medizinisch an sich erforderliche Behandlungsmaßnahme für Kinder bzw. minderjährige Grundleistungsberechtigte (…) als nicht zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich abgelehnt wird“ (LSG Niedersachsen-Bremen Beschl. v. 20.6.2023 – L 8 AY 16/23 B ER, Rz. 20). Eine solche besondere Rechtfertigung sei in dem entschiedenen Fall jedoch nicht ersichtlich gewesen.

Das AsylbLG als Diskriminierungsfall?

Auch dieser Fall verweist auf den Kern der Problematik des AsylbLG als gleichheitswidriges Sonderrecht für eine aufgrund ihres Aufenthaltsstatus definierte Personengruppe. Schließlich bleiben neben der Gesundheitsversorgung auch die Grundleistungen für die Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Kleidung usw. nach dem AsylbLG unterhalb des Leistungsniveaus von Bürgergeld und Sozialhilfe. Auch Mehrbedarfe beispielsweise für eine besondere Ernährung aufgrund von Krankheit oder Schwangerschaft werden nach dem AsylbLG anders als im SGB II und SGB XII nicht durch Pauschalbeträge gedeckt, sondern müssen im Einzelfall konkret nachgewiesen werden. Praktisch bedeutet dies auch, dass Betroffene umso mehr auf Sprachmittlung und Beratung angewiesen sind, um ihre Bedarfe geltend zu machen.

Art. 14 EMRK als bloß akzessorisches Diskriminierungsverbot schützt, anders als Art. 3 GG, nicht per se vor Ungleichbehandlungen, sondern nur vor solchen im Anwendungsbereich eines anderen EMRK-Rechts. Der Bezug von Sozialleistungen ist aber nach ständiger Rechtsprechung des EGMR vom Eigentumsrecht aus Art. 1 Abs. 1 des Zusatzprotokolls 1 zur EMRK geschützt. Während der EGMR hier früher zwischen geschützten beitrags- und ungeschützten steuerfinanzierten Ansprüchen unterschied, gab er diese Differenzierung aufgrund der Verwobenheit der verschiedenen europäischen Systeme sozialer Sicherung auf und erkennt nunmehr auch den Diskriminierungsschutz etwa bei Bezug von Sozialhilfeansprüche an (EGMR, Urt. v. 12.04.2006, 65731/01 und 65900/01 – Stec u.a. v. UK). Insofern eine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit in Frage steht, kann diese nur aufgrund sehr gewichtiger Gründe („very weighty reasons“) gerechtfertigt werden (EGMR Urt. v. 16.9.1996, 17371/90 – Gaygusuz v. Austria, Rz. 42), doch auch eine Differenzierung nach dem Aufenthaltsstatus verletzt Art. 14 EMRK, wenn diese offenkundig ohne vernünftigen Grund („manifestly without reasonable foundation”) erfolgt (EGMR, Urt. v. 27.9.2011, 56328/07 – Bah v. UK, Rz. 37).

Die vom Gesetzgeber häufig vorgetragene und bereits im Entwurf der Ursprungsfassung enthaltene Begründung, Asylsuchende bedürften aufgrund ihres „in aller Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthalts“ (BT-Drucksache 12/4451, S. 5) geringerer Sozialleistungen, kann vor diesem Hintergrund nicht überzeugen. Denn zum einen ist sie bereits deskriptiv falsch, da die tatsächliche langfristige Bleibequote Asylsuchender deutlich über 50 Prozent liegt. Zum anderen ist die eigentliche, generalpräventive Motivation der Senkung vermeintlicher Pull-Faktoren im politischen Diskurs damals wie heute offenkundig und wird selbst in der ursprünglichen Gesetzesbegründung angedeutet, die das AsylbLG als Lösungsversuch für die „drängenden Probleme, die mit der großen Zahl der Asylbewerber verbunden sind“ benennt (BT-Drs. 12/4451, S. 5).

Allerdings ist die bisherige Rechtsprechung des EGMR hinsichtlich der Rechtfertigungsgründe von Ungleichbehandlungen recht uneinheitlich (s. dazu Bast/v. Harbou/ Wessels, Human Rights Challenges to European Migration Policy, 2. Aufl. Oxford & Baden-Baden 2022, S. 162 ff.). Maßnahmen zur Eindämmung irregulärer Migration scheint der EGMR dabei als legitim einzustufen (Urt. v. 21.6.2011, 5335/05 –Ponomaryovi v. Bulgaria, Rz. 60). Insofern ist unklar, ob unter Anwendung dieser Maßstäbe die genannten Regelungen des AsylbLG vom EGMR heute als diskriminierend bewertet werden würden. Jedenfalls aber birgt Art. 14 EMRK hier ein noch nicht ausgeschöpftes kritisches Potenzial.

Falls das AsylbLG überhaupt weitere 30 Jahre Bestand haben sollte, wäre ihm jedenfalls zu wünschen, dass statt der aktuell diskutierten Verschärfungen, Kürzungen oder gar erweiterten Arbeitspflichten, ein häufigerer Blick in den Spiegel der Menschenrechte zumindest zu punktuellen Anpassungen der Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis führen wird.

 

Der Beitrag ist unter Mitarbeit von Hannah Franke (MSW) und Antonia Großmann im Kontext des Forschungsprojekts Menschenrechtliche Transformationen des deutschen Migrationsrechts entstanden, das Teil der DFG-Forschungsgruppe Menschenrechtsdiskurse in der Migrationsgesellschaft (MeDiMi) ist.