Verteilung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter auf die Bundesländer: eine Sache des Kindeswohls?
Unbegleitete minderjährige Geflüchtete werden künftig wie Erwachsene auch auf die Bundesländer verteilt. Dafür sorgt das „Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher“, das am Sonntag in Kraft getreten ist. Die Neuregelungen werden vor allem mit dem Vorrang des Kindeswohls gerechtfertigt, der sich aus Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention ergibt. Doch trägt die Neuregelung wirklich den Belangen des Kindeswohls Rechnung und läuft ihnen nicht vielmehr zuwider?
Bisher waren geflüchtete Kinder und Jugendliche von den Verteilungsmechanismen auf die Bundesländer nach dem „Königsteiner Schlüssel“ ausgenommen. Insbesondere die großen Städte im Norden wie Bremen und Hamburg haben deshalb bis zur Neuregelung überdurchschnittlich viele unbegleitete Minderjährige aufgenommen, was deren Jugendämter, die für die Aufnahme und Versorgung der Minderjährigen zuständig waren, stark belastet. Dies soll sich künftig ändern, wenn die Kinder und Jugendlichen auch vermehrt auf die anderen Länder verteilt würden. Allerdings ist die Umverteilung aus bestimmten rechtlichen Gründen höchst kritisch zu betrachten.
Art. 19 Abs. 2 Satz 4 der Aufnahmerichtlinie 2003/9/EG sowie Art. 24 Abs. 2 Satz 4 der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU statuieren, dass der Wechsel des Aufenthaltsortes bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten auf ein Mindestmaß zu beschränken ist. Damit das neue Gesetz nicht gegen europarechtliche Vorgaben verstößt, müssen somit gute Gründe für eine Umverteilung sprechen. Die Parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Caren Marks (SPD) berichtete am Mittwoch im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, dass die Zahl der ankommenden minderjährigen Geflüchteten ohne Begleitung angestiegen sei und deshalb in den belasteten Kommunen die Betreuung und Unterbringung teilweise “nicht mehr bedürfnisgerecht” gewährleistet werden konnte. Dies gefährde das Kindeswohl und solle sich durch die gleichmäßige Verteilung nun ändern.
Fraglich ist allerdings, ob die Bundesländer ihrer neuen Aufgabe auch gewachsen sind. In der Vergangenheit kaum mit diesen Herausforderungen konfrontiert, müssen sie nun Unterkünfte, Betreuungsmöglichkeiten, Schulplätze und weitere Förderungsmöglichkeiten schaffen. Auch die Bereitstellung von Personal und Infrastruktur ist dringend notwendig. Zwar stellt der Bund hierfür im Rahmen des neuen Gesetzes entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung. Allerdings hatten nach Angaben des “Bundesfachverband Unbegleitete Minderjähriger Flüchtlinge e.V.” die Länder und Kommunen jedoch seit dem Gesetzesbeschluss im Oktober nicht ausreichend Zeit zur Umsetzung. Schleswig-Holsteins Sozialministerin Alheit etwa kündigte an, “für eine befristete Übergangszeit” die geltenden Standards nicht einhalten zu können.
Auch in Hinblick auf die gesetzlich vorgesehenen Familienzusammenführungen ergeben sich aus der Neuregelung rechtliche Probleme. Solange die Kinder und Jugendlichen noch nicht verteilt sind, kann keine rechtliche Vertretung bestellt werden, was zur Folge hat, dass Familienzusammenführungen innerhalb Deutschlands für die Minderjährigen schwer durchsetzbar sind und erst nach der Umverteilung erfolgen können. Es kann somit Jahre dauern bis die Kinder und Jugendlichen, die meist schwer traumatisiert in Deutschland ankommen, mit ihren Familien zusammengeführt sind.
Zudem erschwert die Neuregelung die soziale Eingliederung der Minderjährigen. Die zwangsweise Umverteilung nimmt den Kindern und Jugendlichen zum einen die Möglichkeit, ihren Aufnahmeort frei zu wählen und damit in die Nähe von Freunden oder Bekannten zu ziehen. Zum anderen haben sich in vielen (Groß-)Städten bereits Gemeinschaften aus ihren Heimatländern gebildet, die die Minderjährigen sozial und kulturell auffangen können. Dies ist insbesondere in Hinblick auf fehlende sprachliche Verständigungsmöglichkeiten in der Anfangszeit relevant. Diese Netzwerke können ihnen helfen, den Bezug zu ihren Herkunftsländern aufrecht zu erhalten und ihre Kultur zu bewahren. Auch stärken ebensolche Gemeinschaften den sozialen Zusammenhalt, da die Minderjährigen ihre Erfahrungen mit anderen Geflüchteten teilen können, die vergleichbare Schicksale haben. Darüber hinaus kann ihnen vielmals dabei geholfen werden, Kontakt zu den Familien im Heimatland aufzubauen.
Aus der Verteilung gegen ihren Willen erwächst in einem nächsten Schritt die Gefahr, dass die Minderjährigen untertauchen und sich eigenständig auf die Suche nach befreundeten Personen begeben. In der Konsequenz wären sie vollkommen schutzlos gestellt.
Somit dürfte der Vorrang des Kindeswohls als Rechtfertigungsgrund auf sehr wackligen Beinen stehen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Gesetzesänderung lediglich unter dem Deckmäntelchen des Kindeswohls transportiert wird und primär Lastenverteilungserwägungen entspringt. Ob solche Erwägungen allerdings ausreichen, um die Umgehung der unionsrechtlichen Vorgaben in der Aufnahmerichtlinie sowie eine Gefährdung des Kindeswohls zu rechtfertigen, muss dahingestellt bleiben.