Shit happens als Menschenrechtsverletzung
Wenn alle beteiligten Behörden und Institutionen sich die größte Mühe geben, alle besten Willens sind, und trotzdem ein psychisch Kranker am Ende drei Tage lang nackt, kotverschmiert und brüllend in der Zelle saß, was ist das dann?
Pech, sagen die britischen Gerichte. Eine Menschenrechtsverletzung, sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Dass es um das Verhältnis des EGMR und der britischen Justiz nicht zum Besten steht, ist kein Geheimnis. Das jüngste Urteil aus Straßburg dürfte nicht zur Verbesserung dieses Verhältnisses beitragen.
Der Kläger war mitten in der Nacht in Birmingham festgenommen worden. Er saß in seinem Auto, hupte die ganze Zeit und war offenkundig in psychischen Schwierigkeiten. Später stellte sich heraus, dass er seine Tante schwer verletzt hatte. Am frühen Morgen wurde auf der Polizeistation psychiatrisch untersucht und eine Überweisung in eine geschlossene Klinik eingeleitet.
Was dann folgte, ist eine grausig-banale Aneinanderreihung von Missgeschicken, Missverständnissen und institutioneller Hilflosigkeit. Das Ergebnis: Als nach drei Tagen die Frist, während derer der Mann nach Recht und Gesetz festgehalten werden konnte, abgelaufen war, war immer noch kein Bett für ihn bereit. Der Mann hatte sich mittlerweile nackt ausgezogen, saß zusammengekauert auf seiner Pritsche, schlug seinen Kopf gegen die Wand und befand sich offenkundig in schwersten psychischen Nöten. Erst am Morgen des vierten Tages wurde er in die Psychiatrie überstellt, wo acht Pflegekräfte nötig waren, um ihn zu bändigen.
Ist das unmenschliche und erniedrigende Behandlung, wie sie nach Art. 3 EMRK verboten ist?
Die britischen Gerichte akzeptierten, dass der Kläger früher hätte in die Psychiatrie aufgenommen werden müssen. Aber diese Verzögerung habe ihm keinen nennenswerten physischen oder psychischen Schaden zugefügt.
Ganz anders der EGMR: Der Gerichtshof akzeptiert seinerseits, dass es nötig war, den Kläger festzunehmen, und zeigt auch Verständnis für die Schwierigkeiten der Polizei und der Krankenhausmitarbeiter. Niemand wollte den Mann erniedrigen.
Aber das ist für den EGMR überhaupt nicht ausschlaggebend. Für ihn ist der Ausgangspunkt vielmehr, dass psychisch Kranke im Polizeigewahrsam besonders verletzlich sind und in Großbritannien offenbar generell nicht adäquat geschützt werden, wofür der EGMR auf einen Bericht des Europäischen Anti-Folter-Komittees verweist. Es kommt nicht so sehr auf das individuelle Fehlverhalten der einzelnen beteiligten Officials an, sondern auf die Verantwortung des Staates, dafür zu sorgen, dass in seinen Gefängniszellen niemand in einen menschenunwürdigen Zustand gerät:
Throughout the relevant time, the applicant was entirely under the authority and control of the State. The authorities were therefore under an obligation to safeguard his dignity, and are responsible under the Convention for the treatment he experienced.
Die Briten werden also gleichsam als Zustandsstörer verurteilt und nicht als Handlungsstörer.
Das macht doch bei einer völkerrechtlichen Verpflichtung wie Art. 3 EMRK auch Sinn, oder nicht?
Foto: TheRuined, Flickr Creative Commons
The UK Human Rights blog thinks the UK courts got it right and the ECtHR got it wrong: http://ukhumanrightsblog.com/2012/05/03/delay-in-transferring-mental-health-patient-for-treatment-amounted-to-inhumane-treatment/
Hervorragende Meldung dieser Geschichte! Ich werde ganz begeiestert sein, wenn ich zukunftige ahnliche Bericthte von euren website lesen konne, insbesondere uber deutschen Urteilen?
Folgt es nicht aus einer institutionellen Logik, dass ein nationales Gericht die Handelnden in den Blick nimmt und ein internationales Gericht die gesamtstaatliche Verantwortung?
@Schorsch: doch, aber wegen des Human Rights Act, der die EMRK unmittelbar in britisches Recht transferiert, kann das nicht einfach so stehen bleiben nach dem Motto, wir haben unterschiedliche Perspektiven und agree to disagree.
@ Max Steinbeis: Das stimmt. Aber das macht die Frage ja noch spannender, finde ich. Wie löst man das auf, gleicher Text mit unterschiedlichen Perspektiven? Wie könnte denn ein nationales Gericht – bei fortdauernder Verletzung – abhelfen? Müsste es die Entlassung anordnen? Oder eine Änderung des gesamten Systems?
Auf nationaler Ebene kann man das so machen wie (eine Zeitlang) die zuständige BVerfG-Kammer bei überlanger Untersuchungshaft: Rhetorisch draufhauen und freilassen, freilassen, freilassen. Bei den Fachgerichten macht man sich so allerdings nicht beliebt.
der deutsche strafprozess ist auch kein kontradiktorisches verfahren.
deswegen werden auch beweisverwertungverbote angenommen, wenn ein richterlicher bereitschaftsdienst für ermittlungsmaßnahmen fehlt. wäre die staatsanwaltschaft prozessgegner des angeklagten, wäre es auch weniger einleuchtend ihnen diesen beweis zu verweigern.