Immunität als Status
„Status ist eine Eigenschaft, aufgrund derer Menschen verschiedene Rechte genießen“, schrieb Johann Gottlieb Heineccius, der wohl meistgelesene deutsche Jurist seiner Zeit, in seinen Elementa Juris Civilis. Der Hallenser Professor, der eigentlich Heinecke hieß, lebte vor über 300 Jahren, in einer Zeit, in der es selbstverständlich, ja gottgegeben war, dass Menschen aufgrund ihres „Status“ verschiedene Rechte genossen. Es war die Zeitder Ständegesellschaft, die wir heute von der modernen Gesellschaft abgrenzen, und das – auch sprachlich – ganz zu Recht: Denn „Stand“ ist nichts anderes als eine Übersetzung des lateinischen „Status“ und jeder vormoderne Mensch hatte seinen „Stand“, jeder Stand sein Recht. Die Überzeugung, dass Stand/Status gerade nicht über den Umfang der Rechte (und Pflichten) des Individuums entscheiden sollte, markiert den Übergang zur Moderne. Sie fand zuerst in den USA („all men are created equal“), später, aber noch präziser in Frankreich ihren (verfassungs-)rechtlichen Ausdruck: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“ Égaux en droits – „gleich an Rechten“ – ist das Versprechen der Moderne, Gleichberechtigung das Charakteristikum modernen Rechts. Gleichberechtigung heißt – richtig verstanden – nicht mehr, aber auch nicht weniger als gleiche Rechte und Pflichten ohne Rücksicht auf bestimmte Eigenschaften, ohne Rücksicht auf einen bestimmten Status.
Wenn heute, drei Jahrhunderte nach Heineccius und gute zwei Jahrhunderte nach den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, ein neuer Status eingeführt werden soll, begegnen wir – moderne Menschen, die wir sind – einem solchen Vorhaben mit der historisch informierten Intuition der Abneigung. So erntet auch der (zaghafte) Vorstoß des Gesundheitsministers Kritik, denjenigen, die – auf welche Weise auch immer – ihre Immunität gegenüber dem Covid-19-Erreger nachweisen können, Befreiungen von den diversen Ge- und Verboten des Corona-Rechts zu gewähren. Auch hier auf dem Verfassungsblog war schon von der „Impfpass-Elite“ die Rede: Immunität als Status einer Elite also, nachgewiesen durch einen Immunitätsausweis. Wie ja jeder Status eines Symbols bedarf, weil man ihn den Menschen einfach nicht ansieht: „A man’s a man for a‘ that“, schrieb Robert Burns seinen schottischen Landsleuten 1795 ins Liederbuch – und meinte mit man „Mensch“, nicht „Mann“!
Doch machen wir uns nichts vor: Auch die moderne Gesellschaft konnte auf Status nie wirklich verzichten. Bis heute setzt das Recht der demokratischen Staaten auf grundlegende Statusunterschiede, zwischen Staatsangehörigen und Ausländern etwa, oder zwischen Beamten und Nicht-Beamten – die tarifbeschäftigten Lehrerinnen und Lehrer wissen ein (Klage-)Lied davon zu singen. In manchen Bereichen hat die Moderne sogar neue Statuszuweisungen erschaffen, z. B. den Schwerbehindertenstatus nach dem SGB IX und in manchen Kontexten (z. B. dem Wahlrecht) wird heute auch wieder das Geschlecht relevant, nachdem man ausgerechnet diesen Statusunterschied seit den 1970ern rechtlich (nicht sozial-faktisch!) für überwunden glaubte. Status ist nach wie vor eine Eigenschaft, aufgrund derer die Menschen unterschiedliche Rechte genießen. Warum sollte uns also ein neuer Immunitäts-Status bekümmern?
Er bekümmert uns, weil wir – anders als Heineccius und seine Zeitgenossen – Statusunterschiede nicht mehr einfach als gottgegeben hinnehmen. Wir fragen nach den Gründen für einen Status, nach einer Rechtfertigung dafür, dass manche mehr (oder weniger) dürfen sollen als andere. Schon die Franzosen hatten 1789 gesagt, dass gesellschaftliche Unterschiede „nur im allgemeinen Nutzen begründet sein“ können – „nur“, aber immerhin! Nichts anderes meinen wir, wenn wir Ungleichbehandlungen unter dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG nur aus sachlichem Grund zulassen und bei personenbezogenen Unterscheidungen sogar noch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nachschieben. Doch die juristische Rechtfertigung ist nur ein Teil der Wahrheit. Sofern die Immunitätstests zuverlässig sind und die Privilegien der Immunen in einem sachlichen, d. h. vor allem epidemiologisch nachvollziehbaren, Zusammenhang mit ihrer Immunität stehen, ist kaum erkennbar, was rechtlich gegen einen Immunitäts-Status sprechen sollte. Im Gegenteil streiten die Freiheitsrechte, die derzeit intensiv eingeschränkt sind, gerade für die Zuerkennung des Status der Immunität: Wie sollen sich in ihrem Lichte die Eingriffe gegenüber Immunen noch rechtfertigen lassen? Wenn die Rückgewähr von Freiheiten kein sachlicher Grund im Sinne des allgemeinen Gleichheitssatzes ist, was dann? Anika Klafki stellt daher zu Recht die Frage: „Lassen sich Immunitäten überhaupt verfassungsrechtlich ignorieren? Und natürlich muss die Antwort lauten: Nein ignorieren lassen sie sich nicht!
Das eigentlich Unheimliche am Immunitäts-Status ist etwas anderes, etwas, das schon die Ständegesellschaft prägte, in der Johann Gottlieb Heineccius lebte und die sich ja keineswegs nur über Rechtsnormen definierte. Status war immer schon ein Anknüpfungspunkt für Verhaltenserwartungen, Rollenbilder, Sozialprestige, für eine Vielzahl gesellschaftlich attribuierter Positionen also, deren Zuschreibung weit über das hinausgehen kann, was der Gesetzgeber mit einem Status eigentlich bezweckt (manchmal bezweckt er natürlich insgeheim gerade diese sozialen Zuschreibungen). Nicht zufällig wurde „Status“ über die Jahre hinweg, in denen Juristinnen und Juristen verlernt haben, mit ihm umzugehen, zu einem Grundbegriff der Soziologie. Dort wird er heute ubiquitär verwendet und hat dadurch (leider) viel an der deskriptiven Kraft eingebüßt, die die Juristen Henry Sumner Maine und Max Weber an ihm schätzten und für ihre soziologischen Studien fruchtbar machen wollten. Doch unabhängig von der disziplinären Verortung des Statusbegriffs steht eines fest: Ein Status übersetzt sich mühelos in die soziale Sphäre, besonders dann, wenn er durch Symbole nach außen gekehrt wird, durch Statusmarker wie Kleidung und Insignien, Uniformen und Orden oder – heute gebräuchlicher – Pässe und Ausweise.
Und genau das ist es, wovor wir uns fürchten sollten: eine Spaltung der Gesellschaft zwischen Statusinhabern und Statuslosen, Immunen und Nicht-Immunen, bei der die rechtliche Differenzierung als – symbolisierte und damit sichtbare! – Trennlinie fungiert. Die Folgen einer in das Soziale hinüberschwappenden Statusunterscheidung hat kürzlich die Historikerin Kathryn Olivarius am Beispiel der Gelbfieberepidemie eindrucksvoll beschrieben, die Mitte des 19. Jahrhunderts den Süden der USA heimsuchte. Die Gesellschaft im Deep South war freilich schon vor der Einführung eines Immunoprivilege tief gespalten, in „Schwarze“ und „Weiße“, Masters and Slaves“. Doch die Moral aus der Geschichte ist aktueller denn je: Jeder Status, mag seine Schaffung auch von den besten Motiven getragen sein, hat die hässliche Tendenz, soziale Unterschiede zu verstärken oder sogar erst zu schaffen. Jeder Status eignet sich als Anlass (oder Vorwand) für Diskriminierungen nach dem Schema: „Einlass nur gegen Immunitäts-Ausweis!“ Jeder Status droht die Gesellschaft noch weiter zu fragmentieren, in Statusinhaber und Statuslose, Immune und potentiell Infizierte. Das ist es, was im politischen Diskurs über die Einführung eines Immunitäts-Status den Ausschlag geben sollte – und nicht das (Verfassungs-)Recht, das ihm so erstaunlich wenig entgegenzusetzen vermag.
[…] sprechen viele Gründe, nicht zuletzt aus der Perspektive der Menschenwürde. Zudem kommt, was Fabian Michl auf „Verfassungsblog“ treffend schrieb, und zwar dass jeder Status, mag seine Schaffung auch von den besten Motiven […]