Legitimation contra Verfahren
Der Beschluss des BVerfG zur parlamentarischen Beratung des Gebäudeenergiegesetzes
Es liegt auf der Hand, dass und warum die Verletzung von Verfahrensvorschriften die Ergebnisse von politischen Verfahren in Mitleidenschaft ziehen und Organrechte der Beteiligten verletzen kann. Warum allerdings umgekehrt auch deren akkurate Beachtung einen Verfassungsverstoß darstellen kann, ist nicht unmittelbar einsichtig. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Juli zum letzten großen Gesetzgebungsverfahren vor der Sommerpause hat deswegen prinzipielle Bedeutung. Denn die Regelungen der parlamentarischen Geschäftsordnung wurden bei der Beratung des Gesetzes zur Einsparung von Energie und zur Nutzung erneuerbarer Energien zur Wärme- und Kälteerzeugung in Gebäuden (Gebäudeenergiegesetz, GEG) ausnahmslos eingehalten; darüber sind sich Regierungskoalition, Opposition und BVerfG einig.
Was sehen diese Regelungen vor? Das sogenannte innere Gesetzgebungsverfahren, die Beratungen von Gesetzentwürfen innerhalb des Bundestages, ist nicht im Grundgesetz geregelt, sondern in der Geschäftsordnung des Bundestags. Sie wurde in der konstituierenden Sitzung der 20. Wahlperiode am 26. Oktober 2021 bei Enthaltung der AfD mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen nach eingehender Aussprache ohne Änderungen angenommen (Plenarprotokoll 1. Sitzung, S. 14). Termin und Tagesordnung der Sitzungen werden danach im Ältestenrat vereinbart (§ 20 Abs. 1 GOBT). Er ist nach dem Spiegelbildlichkeitsprinzip besetzt (§ 6 Abs. 1 i.V.m. § 12 GOBT). Deswegen liegt die Hoheit über die Terminierung von parlamentarischen Beratungen bei der Mehrheit. Davon gibt es eine Reihe von Ausnahmen, die der Opposition Zugang zur Tagesordnung für ihre Anträge sichern sollen. So kann eine Fraktion, die einen Gesetzentwurf nach Art. 76 Abs. 1 GG oder einen anderen Beschlussantrag eingebracht hat, drei Wochen nach der Verteilung der Drucksache dessen Beratung im Plenum verlangen (§ 20 Abs. 4 GOBT). Auch die Behandlung von Antworten der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen liegt nicht im Ermessen der Mehrheit (§§ 101 S. 2 und 3; 102 S. 2 GOBT).
Bei Gesetzesvorlagen ist eine gewisse zeitliche Streckung des inneren Gesetzgebungsverfahrens nur durch § 81 Abs. 1 GOBT vorgeschrieben: Zwischen der Annahme der Beschlussempfehlung durch den Ausschuss und dem Beginn der zweiten Lesung müssen in der Regel zwei Tage liegen. Zwischen der zweiten und dritten Lesung ist eine Frist nur dann zu wahren, wenn das Ergebnis der zweiten Lesung, bei der anders als bei der dritten im Plenum Änderungsanträge grundsätzlich zulässig sind (vgl. § 82 Abs. 1 S. 1 mit § 85 Abs. 1 S. 2 GOBT), von der Beschlussempfehlung abweicht. Ist das, wie in der Regel, nicht der Fall, kann die dritte sogleich auf die zweite Lesung folgen (§ 84 S. 1 Buchst. a und b GOBT).
Die Entdeckung der Langsamkeit
Obwohl all diese Regelungen eingehalten wurden, hat das BVerfG das Verfahren durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung angehalten und dem Bundestag untersagt, die für den 7. Juli geplante zweite und dritte Lesung durchzuführen. Es hat damit einen im Urteil vom 24. Januar 2023 zur Parteienfinanzierung entwickelten, damals aber nicht entscheidungstragenden Maßstab scharfgestellt, wonach die verfassungsrechtlich gebotene Dauer der Gesetzesberatung von der „Berücksichtigung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalles sowohl hinsichtlich des konkreten Gesetzentwurfs (Umfang, Komplexität, Dringlichkeit, Entscheidungsreife) als auch hinsichtlich weiterer, die Arbeitsabläufe des Parlaments bestimmender Faktoren (Bearbeitung sonstiger Gesetzesvorlagen oder anderer Parlamentsangelegenheiten)“ abhängig sein soll.
Der Beschluss ist bis dato unveröffentlicht (§ 32 Abs. 5 BVerfGG); vielleicht als performative Beglaubigung des Senats, der dem Parlament die Gravitas langsamer Verfahren und ruhiger Beratung vor Augen führen will. Die Begründung des Gerichts ist daher bisher nur der Pressemitteilung zu entnehmen. Sie beruht auf dem Argument, Art. 38 Abs. 1 GG gewährleiste nicht nur das Recht der Abgeordneten, über Vorlagen abzustimmen, sondern auch das Recht zu beraten, was eine hinreichende Information über den Beratungsgegenstand voraussetze. Das wiederum sei nur gewährleistet, wenn die Abgeordneten die Informationen nicht nur erlangen, sondern diese auch verarbeiten können: „Die gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung umfasst daher das Recht der Abgeordneten, sich über den Beratungsgegenstand auf der Grundlage ausreichender Informationen eine eigene Meinung bilden und davon ausgehend an der Beratung und Beschlussfassung des Parlaments mitwirken zu können.“ (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 24. Januar 2023, 2 BvF 2/18, Rdnr. 93). Deswegen spreche „einiges dafür“, dass der Gestaltungsspielraum der Parlamentsmehrheit überschritten wird, wenn parlamentarische Verfahren „ohne sachlichen Grund gänzlich oder in substantiellem Umfang“ abgekürzt werden (Rdnr. 96).
Dass das Gesetzgebungsverfahren zum GEG von der Koalition politisch nicht überzeugend geführt wurde, bestreitet selbst sie nicht. Ob es schon deswegen die Bürgerkriegs-Etiketten verdient, die ihm teilweise selbst in der veröffentlichten Fachmeinung angehängt wurden („Es wird finster im Land, wenn Gesetze nach Guerilla-Taktik entstehen“, so Hinnerk Wißmann in der FAZ), darf man gleichwohl bestreiten. Warum findet die verfassungsrechtliche Entdeckung der Langsamkeit gerade in der Klimaschutzpolitik statt, nachdem die gedrängten Gesetzgebungsverfahren in der Finanz- oder der Corona-Krise als Zeichen der Handlungsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems gutgeheißen wurden? Dass politische Entscheidungen in der Klimaschutzpolitik überhaupt nur noch unter den Bedingungen massiver strategischer Krisenkommunikation möglich sind, zu deren innerer Logik nun einmal die künstliche Verdichtung von Entscheidungszeit gehört, ist nicht die Schuld des Bundeswirtschaftsministers, des Ältestenrates oder auch nur der Koalition. Der Unterschied ist nur, dass die aberwitzige mediale Mobilisierung des Häuslebauermilieus gegen den „Heiz-Hammer“ (BILD) weder der Geschäftsordnung des Bundestages noch dem verfassungsrechtlichen Sachlichkeitsgebot unterliegt.
Vier dogmatische Einwände
In der Sache überzeugt der Beschluss des BVerfG aus wenigstens vier Gründen nicht. Sie hängen miteinander zusammen in der um institutionelle Fragen wenig bekümmerten Methode der Rechtsprechung, Geschäftsordnungsrecht (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) nach dem Vorbild von Grundrechtseingriffen an Art. 38 Abs. 1 GG zu messen – und demonstrieren beispielhaft die Fragwürdigkeit jener Lesart des Geschäftsordnungsrechts.
- Die Entscheidung anerkennt jedenfalls im maßstäblichen Ausgangspunkt ein verfassungsrechtliches Recht auf parlamentarische Verfahren gegen die Geschäftsordnung, das der bundesverfassungsgerichtlichen Kasuistik bisher fremd ist und das sich mit Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG auch schwerlich vereinbaren lässt. So ist zu Recht anerkannt, dass Verstöße der parlamentarischen Mehrheit gegen die Geschäftsordnung trotz deren nach herrschender Meinung bloßer „Innenwirkung“ zugleich einen Verfassungsverstoß bedeuten können, wenn Antrags-, Rede- und Mitwirkungsrechte der Opposition betroffen sind. Der minderheitenschützende Gedanke der Selbstbindung durch Geschäftsordnungsrecht legt das nahe. Warum es aber einen potenziellen Verfassungsverstoß darstellen soll, genau nach der Geschäftsordnung zu verfahren, ist weitaus schwieriger zu begründen. Auch der Antragsteller hat der Geschäftsordnung schließlich zugestimmt und damit zumindest zu diesem Zeitpunkt die Frist von zwei Tagen in jedem Fall für ausreichend gehalten. Prozessual handelt es sich insofern um einen Antrag, dessen Gegenstand das Unterlassen der Parlamentsmehrheit ist, zugunsten des Antragstellers mit Zweidrittelmehrheit von der Geschäftsordnung im Einzelfall abzuweichen oder diese zu ändern.
- Die Herleitung und Bedeutung des vom Senat aus Art. 38 Abs. 1 GG abgeleiteten Rechts auf angemessen lange Informationsverarbeitung bleibt auch materiellrechtlich unklar. Weder das Rederecht nach Maßgabe von politischer Proportionalität und Geschäftsordnung noch das Antragsrecht im Plenum oder das Recht auf Beratung im Ausschuss und erst recht nicht das Stimmrecht in Plenum und Ausschüssen wurden durch das Verfahren in Frage gestellt. Diese Rechte bringen Art. 38 Abs. 1 GG jeweils in einer sehr unterschiedlichen Dimension zur Geltung: bei der Verteilung knapper Plenarzeit, beim Zugang zur Tagesordnung, bei der Ermittlung von Abstimmungsergebnissen. Die parlamentsrechtliche Trennung dieser Mitgliedschaftsrechte, die eine sehr unterschiedliche rechtliche Reichweite haben, hat einen zentralen und unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grund: Erst die Differenzierung des mitgliedschaftlichen Status in einzelne Rede-, Antrags-, Beratungs- und Stimmrechte garantiert den Zwang zur parlamentarischen Arbeitsteilung, zur Spezialisierung der Fachpolitiken, kurz: zu jener institutionellen „Sachlichkeit“ des Gesetzgebungsverfahren, die der Senat jetzt durch die Verschleifung jener Rechte zu einem allgemeinen Recht auf Informationsverarbeitung gegen die Handhabung der Geschäftsordnung in Stellung bringt. Nicht überzeugend ist auch die dogmatische Konstruktion dieses Rechts und seiner Beeinträchtigung: Zwar wird das Recht der ausreichenden Zeit als individuelles Statusrecht geschützt; verletzt soll es allerdings nicht etwa nur dann sein, wenn konkreter Zeitmangel bestand, sondern schon, wenn die Beratung ohne sachlichen Grund verkürzt wurde. Das schließt logisch ja nicht aus, dass die Zeit im konkreten Fall sehr wohl ausreichend war; etwa weil die Republik monatelang öffentlich über alle Facetten, alle rechtlichen und technischen Alternativen der Dekarbonisierung von Gebäudeheizungen debattiert hat.
- Das maßgebliche Kriterium, das nach der Auffassung des Gerichts zur verfassungsrechtlich notwendigen Verlängerung der Fristen nach der Geschäftsordnung führen kann, ist die „Komplexität“ einer Vorlage. Komplex war die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie in Sachen GEG deswegen, weil dem Ausschuss erst am 30. Juni eine Formulierungshilfe des Ministeriums mit einer 94-seitigen Synopse der Änderungsvorschläge nebst einem 14-seitigen Begründungsteil vorgelegt wurde. Die Vielschichtigkeit einer Sache kann aber nicht durch die Zählung der Seiten ermittelt werden; alles andere wäre bürokratische Juristenlogik. Im Sinne einer politischen Verantwortungsethik wird man im Gegenteil bei der Komplexität vor allem auf die Komplexität der Entscheidungsfolgen abstellen. So kann die parlamentarische Entscheidung über einen Antrag der Bundesregierung auf den Einsatz der Bundeswehr in einem bewaffneten Konflikt, für den nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz gar keine Fristen (§ 3 Abs. 1 PBetG: „rechtzeitig“) gelten, zwar sehr kurz, aber viel komplexer sein als jede energierechtliche Regelung. Es gibt kein sachliches Argument, das Recht auf Informationsverarbeitung vor allem als Recht auf das Lesen von Änderungssynopsen, nicht aber auf das Nachdenken über die Folgen zu verstehen.
- Die Rechtsprechung des BVerfG hat unabsehbare Folgen für das Ausschussverfahren im Bundestag, von denen nur zu hoffen ist, dass das Gericht sie genügend bedacht hat. Nach bisheriger, jahrzehntelanger parlamentarischer Praxis gilt die Vorbereitungsfrist des § 81 Abs. 1 S. 2 GOBT auch bei weitreichendsten Änderungsanträgen in der Beschlussempfehlung, selbst bei einer Totalrevision der überwiesenen Vorlage, sofern sie nur mir ihr im Sachzusammenhang steht (§ 62 Abs. 1 S. 2 GOBT). Das sichert den Abgeordneten größtmöglichen Einfluss auf die Gesetzgebungsarbeit. Nach Lage der Dinge müsste künftig bei weitreichenden Änderungsanträgen in der Ausschussberatung in Rechnung gestellt werden, dass parlamentarische und politische Zeitpläne durch das Recht auf Informationsverarbeitung anderer Abgeordneter torpediert werden können. Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn Art. 38 Abs. 1 GG, wie es die Entscheidung vom Januar 2023 zur absoluten Obergrenze der Parteienfinanzierung andeutet, einen gleitenden Maßstab verlangt, der jede starre Frist generell ausschließt, und je nach Umfang, Komplexität, Dringlichkeit und Entscheidungsreife mal mehr eine kürzere, mal eine längere Frist verlangt, das Terminierungsrecht der Mehrheit also unter den Vorbehalt einer verfassungsgerichtlichen Missbrauchskontrolle gestellt wird. Das würde starke Anreize setzen, Gesetzentwürfe in den Ausschüssen möglichst wenig zu verändern. Der Einfluss der Abgeordneten auf die Gesetzgebung wäre damit nicht gestärkt, sondern stark geschwächt.
Drei Auswege sind denkbar; keiner von ihnen wäre ein Fortschritt:
- Zumindest theoretisch wäre es denkbar, weitreichende Änderungen im Ausschuss formal aus der Beschlussempfehlung herauszuhalten und stattdessen als Änderungsanträge in der zweiten Lesung einzubringen. Das würde die Frist von immerhin 2 + 2 Tagen nach §§ 81 Abs. 1 und 84 S. 1 Buchst. b GOBT auslösen, aber zu einer Überlastung des für Textarbeit denkbar schlecht geeigneten Plenums führen.
- Eine naheliegendere Lösung bestünde darin, die Frist des § 81 GOBT generell zu verlängern; vielleicht bis hin zu jenen 14 Tagen, die der Antragsteller, der Abgeordnete Thomas Heilmann, für mindestens wünschenswert hält. Würde eine solche Frist ausnahmslos gelten, fiele das Parlament als Ort für eilige Gesetzgebung in kritischen Situationen (Reminder: Covid, Bankenkrise) allerdings aus. Würde eine solche Frist nur bei weitreichenden Änderungsanträgen ausgelöst, könnte dies nicht nur für Änderungsanträge aus dem Regierungslager gelten. Die Opposition hätte es dann in der Hand, den parlamentarischen Kalender ihrerseits durch weitreichende Änderungsanträge im Ausschuss zu obstruieren. Es müsste also für jede Art von Beratungsfrist großzügige Ausnahmen geben, deren Anwendung wiederum verfassungsgerichtlich angreifbar wäre.
- Der dritte denkbare Ausweg bestünde darin, die Gesetzesberatung im Ausschussverfahren analog zur bekannten Begrenzung von Änderungsvorschlägen des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG) von vornherein materiellrechtlich auf „überschaubare“ Änderungen der überwiesenen Vorlage zu beschränken. Eine solche Beschränkung von Änderungsempfehlungen in der Ausschussbefassung und damit die Einschränkung des Befassungsrechts aus § 62 Abs. 1 S. 2 GOBT würde zwar das rechtliche Risiko rascher zweiter und dritter Lesungen senken. Keines der die Rechtsprechung zum Vermittlungsausschuss tragenden Argumente ist allerdings auf das Verhältnis von Plenum und Ausschüssen übertragbar: Insbesondere ist das Ergebnis der Ausschussberatung anders als im Falle des Vermittlungsausschusses nicht gegen weitere Änderungsanträge immunisiert (§ 82 Abs. 1 S. 1 GOBT). Mit Art. 38 Abs. 1 GG lässt sich dieser Ausweg deswegen ebenso wenig begründen wie mit Art. 77 Abs. 1 GG.
Der Unterschied zwischen Mehrheitsprinzip und Populismus
Schließlich: Für welches Problem soll die Rechtsprechung eigentlich eine Lösung sein? Für die Beschleunigung der Krisentendenzen der Gegenwart wohl kaum. Auch die Regierung kann sich im Hinblick auf die Unterstützung ihrer eigenen Fraktionen Verfahren wie das zum GEG nur in Ausnahmefällen leisten; die institutionellen Sicherungen sind hier in der Regel recht stark. Sollte hinter der Rechtsprechung die paradoxe Zielvorstellung stehen, zur Versachlichung parlamentarischer Verfahren dadurch beizutragen, dass die spezialisierte Fachpolitik im Ausschuss zugunsten des Plenums zurückgedrängt wird, beruft sie sich dabei zu Unrecht auf das Prinzip der Mehrheitsentscheidung (Art. 42 Abs. 2 GG). Diesem ist nämlich schon dadurch Rechnung getragen, dass die Ablehnung eines Antrags keine Begründung in der Sache erfordert. Wer sich warum auch immer unzureichend informiert fühlt, kann schon aus diesem Grund mit nein stimmen. Verfehlt die Vorlage dann die Mehrheit, geht das Verfahren von vorne los. Das Mehrheitsprinzip ist aber kein Recht auf einen Zeitgewinn für die plebiszitäre Mobilisierung gegen ein Gesetzgebungsverfahren, wie ihn das BVerfG der Opposition jetzt eingeräumt hat.
Dieser Gesichtspunkt führt zu einem letzten Zweifel an der inneren Redlichkeit der ergangenen einstweiligen Anordnung. Gemeint ist damit nicht die in der öffentlichen Diskussion sofort von interessierter Seite gestellte Frage der Parteilichkeit des Gerichts. Sie führt im Regelfall nur zu unergiebiger Motivforschung. In einem Punkt allerdings ist die Parteilichkeit des mit 5:2 Stimmen ergangenen Beschlusses konkret und fragwürdig. Der Berichterstatter, der Richter Peter Müller, hat jüngst in einer auch sonst äußerst aufschlussreichen CDU-Parteitagsrede verkündet, die Pariser Klimaziele seien ohnehin nicht mehr zu erreichen, deshalb müsse jetzt mehr über Anpassung an den Klimawandel und die Sicherung des Wohlstands gesprochen werden. Gegenüber dem Umstieg auf elektrische Wärmeerzeugung, der im Zentrum des GEG steht, wird Müller in der lokalen, bemerkenswerterweise aber nicht in der überregionalen Presse wie folgt zitiert (Saarbrücker Zeitung v. 15. April 2023): „Strombasierte Prozesse heißen in der Situation, in der wir jetzt sind: mehr Kohlekraftwerke, mehr fossile Energien, mehr CO2, mehr Klimawandel und nicht weniger. Das ist die Wahrheit, über die man in diesem Land doch noch reden können muss.“ Mit rationalen Entscheidungsprozessen in einer Demokratie habe das nach Auffassung des Richters Müller, so der Zeitungsbericht weiter, „vergleichsweise wenig“ zu tun. „Am Ende ist der Umwelt nicht geholfen, dem Industriestandort Deutschland aber geschadet.“ Vor dem Rede- und Beratungsrecht der Abgeordneten in Sachen Gebäudeenergiegesetz stand also der erklärte Redebedarf des (Wut-)Bürgers und (Sachlichkeits-)Richters Peter Müller. Dass es der Senat in dieser Situation offenbar versäumt hat, ausgerechnet gegenüber dem Berichterstatter auf den fälligen und nach den eigenen Maßstäben des Senats auch offensichtlich begründeten Selbstablehnungsantrag nach § 19 Abs. 3 BVerfGG hinzuwirken, wirft kein gutes Licht auf den Beschluss.
Dieser Beitrag ist vorläufig; sollten sich durch die ausstehende Veröffentlichung des Beschlusses neue Gesichtspunkte ergeben, wird er aktualisiert.
Transparenzhinweis: Der Autor ist Bevollmächtigter des Landtags Nordrhein-Westfalen in einem Organstreitverfahren gegen die kurzfristige Änderung der Tagesordnung beim parlamentarischen Verfahren zur Feststellung einer Haushaltsnotlage im Jahr 2023 (Aktenzeichen: NWVerfGH 42/23).
Die Entscheidung erging im vorläufigen Rechtsschutz, so dass über die Begründetheit des Antrags noch nicht entschieden wurde. Richtig ist, dass von den kurzen GO-Fristen seit Jahrzehnten im Übermaß Gebrauch gemacht wird und dadurch die parlamentarische Beratung ohne Not verkürzt wird. Der Grund für die Eile liegt nämlich nicht im Materiellen, sondern in der Angst der Fraktionsspitzen, bei längerer Beratungszeit könnte ein Kompromiss platzen. Die war schon in den Neunzigern so, ist also keine parteipolitische Frage, sondern eine der Selbstachtung des Parlaments. Leider muss das BVerfG den Bundestag in Fragen der Selbstachtung immer wieder zum Jagen tragen.
1. Überzeugend wirkt Meinels Kritik an Form und Verfahren, also daran, dass der Zweite Senat den Beschluss ohne Begründung bekanntgab und v.a. dass Richter Peter Müller als Berichterstatter mitwirkte. (Das galt wohl entsprechend auch für die Entscheidung zur Berliner Wahl„wiederholung“.)
2. In der Sache blendet der Beitrag das eigentliche Problem weitgehend aus, dass hier ohne äußere Zeitnot ein technisch komplizierter Gesetzentwurf kurzfristig und umfangreich geändert wurde – weswegen letztlich überhaupt nur sehr wenige Abgeordneten verstanden haben dürften, worüber sie abgestimmt haben. Kann es verfassungsrechtlich allein um die äußere Einhaltung der Geschäftsordnung gehen? Und würde das wirklich die Parlamentsautonomie schützen?
Auch einige Einzelargumente werfen Fragen auf:
– Ergibt nicht jeder Blick in den Gesetzentwurf, dass „die Republik“ längst nicht „alle Facetten, alle rechtlichen und technischen Alternativen der Dekarbonisierung von Gebäudeheizungen debattiert“ hat? Und warum sollen überhaupt mediale Debatten entscheidend sein?
– Es komme verantwortungsethisch auf die „Komplexität der Entscheidungsfolgen“ an und „das Recht auf Informationsverarbeitung“ dürfe nicht verstanden werden „als Recht auf das Lesen von Änderungssynopsen“: Wieso und wozu den eingängigen Unterschied leugnen dazwischen, ob jemand den Inhalt einer Erklärung verstehen, oder ob sie die Folgen der Erklärung dieses Inhalts abschätzen kann?
– Bei einer Frist von 14 Tagen „fiele das Parlament als Ort für eilige Gesetzgebung in kritischen Situationen (Reminder: Covid, Bankenkrise) allerdings aus“: Warum sind statt 2 Tagen nur 14 Tage denkbar, also nicht auch 5 oder 7? Und, zur Auffrischung der Erinnerung: Wie eilig war die Pandemie-Gesetzgebung noch ab ungefähr Anfang Mai 2020 und weswegen wurden überhaupt erst Mitte November 2020 halbwegs (!) konkrete Rechtsgrundlagen für die Maßnahmen geschaffen?
– Es gebe „kein Recht auf einen Zeitgewinn für die plebiszitäre Mobilisierung gegen ein Gesetzgebungsverfahren, wie ihn das BVerfG der Opposition jetzt eingeräumt hat“: Die Entscheidung selbst macht bloß eine Sondersitzung nötig. Hat also die Parlamentsmehrheit, die nun die gesamte Sommerpause abwarten will, nicht implizit eingeräumt, dass der vorherige Zeitdruck künstlich war?
Lieber Herr Meinel, herzlichen Dank – ich habe das gerne und mit Gewinn gelesen. Eine kleine Randbemerkung habe ich zum Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Ich glaube nicht, dass der Beschluss nach § 32 Abs. 5 BVerfGG ergangen ist. Vielmehr würde ich die Pressemitteilung so deuten, dass sie sich – wie das auch sonst bei Beschlüssen der Fall ist – auf einen tatsächlich vorliegenden Beschlusstext stützt. Ansonsten hätten wir es ja mit einer (vorläufigen) Begründung via Pressemitteilung zu tun. Das wäre schon eine sehr kreative Fortentwicklung des Prozessrechts im einstweiligen Rechtsschutz… Anders als bei sonstigen Beschlüssen fehlt die zeitgleiche Veröffentlichung des Beschlusstextes selbst. Das kann der Eile geschuldet sein. Entscheidend wäre also, ob die Parteien eine Entscheidung mit Begründung erhalten haben (was ich vermute). Wann dieser Text dann öffentlich wird, ist im BVerfGG nicht vorgegeben.
Wenn aber entsprechend dieser Vermutung ein begründeter Beschluss über die eA zum GEG vorliegt, dann wirft das noch einmal mehr ein eigentümliches Licht auf die Vorgehensweise des Senats beim Streit um die Anordnung einer Wiederholungswahl durch das Berliner Landesverfassungsgericht (Beschluss vom 25. Januar 2023, 2 BvR 2189/22). Dort wurde § 32 Abs. 5 BVerfGG bemüht und die Begründung auch den Parteien erst Mitte Mai nachgereicht, obwohl deutlich mehr Zeit zur Verfügung stand als jetzt beim GEG. Dass die jetzige Entscheidung einfacher war als diejenige über die Wahlwiederholung in Berlin, ist wenig wahrscheinlich. So gesehen zeigt die eA der vergangenen Woche, dass es auch in kurzer Zeit und bei kontroverser Situation im Senat möglich ist, zu einer begründeten Entscheidung zu kommen. Inhaltlich mag man – wie Ihr Beitrag sehr schön zeigt – durchaus streiten. Aber prozessual ist der Zweite Senat wieder auf den für eilige Entscheidungen im BVerfGG eigentlich vorgesehenen Weg zurückgekehrt. Das ist zwar nur ein kleiner Teilaspekt der Entscheidung zum GEG, aber doch ein positiver. Herzliche Grüße,
Christian Walter
Der Beitrag zeigt einige relevante Gesichtspunkte auf. Zu Recht hebt er die Bedeutung der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments hervor. Jeder judikative Eingriff in dieses Gut sollte im Sinne der Gewaltenteilung sehr gut überlegt sein. Die Bedenken des Autors zu dem effektiven Beratungsrecht, das der Senat postuliert, dürften aber nicht zu teilen sein. Der materiellrechtliche Ausgangspunkt muss doch sein, dass ein Abgeordneter nur darüber sachgerecht abstimmen kann, was er sachlich und zeitlich angemessen durchdringen konnte. Und insofern kommt es im Zweifelsfall auf jeden einzelnen Satz der Gesetzesvorlage an. Die Frage muss nur sein, wie man eine solch angemessene Beratung in der Geschäftsordnung sichert. Eine rein einzelfallbezogen bestimmte Beratungsfrist schafft da mehr Unsicherheit und widerspricht einer möglichst klaren und handhabbaren Formalisierung des Gesetzgebungsverfahrens. Insofern wäre es wohl das Beste eine Frist von vielleicht 2 Wochen als Regel zu bestimmen und enge, klar bestimmte Ausnahmefälle festzulegen.
So diskursbereichernd der Beitrag über weite Strecken ist, so sehr gerät er am Ende mit seiner polemischen Kritik an dem Richter des Bundesverfassungsgerichts Müller in Schieflage. Dass sich der Richter als Parteimitglied auf einer Parteiveranstaltung in bestimmter Weise geäußert hat, sagt nichts, aber rein gar nichts über seine Motive in dem vorliegenden Verfahren. Gegenteiliges in den Raum zu stellen ist für einen als Prozessbevollmächtigten tätigen Staatsrechtler dann doch mehr als bemerkenswert. Einen Gefallen hat sich der Autor damit m.E. nicht getan.
Lieber Herr Walter, danke für Ihre Überlegungen. Das leuchtet mir sehr ein. Dass in anderen Fällen § 32 Abs. 5 BVerfGG in der PM genannt wurde, hatte ich übersehen. Ob die Begründung den Parteien übermittelt wurde, entzieht sich meiner sicheren Kenntnis, aber ich bezweifele es stark. Eine andere Erklärung ist auch denkbar. Sollte eines der beiden Senatsmitglieder, die gegen die Entscheidung gestimmt haben, die Abfassung einer abw. M. planen, so hätten sie dafür nach § 55 Abs. 1 S. 1 GO-BVerfG drei Wochen Zeit. Während dieser Zeit kann die Entscheidung nicht veröffentlicht werden, da § 30 Abs. 2 S. 1 2. Hs. BVerfGG und § 55 Abs. 4 GO-BVerfG zwingend die gemeinsame Veröffentlichung von Entscheidungsgründen und Sondervoten vorschreiben. Was noch einmal die Bedeutung von Geschäftsordnungsrecht unterstreichen würde! Warten wir’s ab. Herzliche Grüße zurück, Florian Meinel