Gewalt durch Sitzblockaden
Eine Verteidigung der Zweite-Reihe-Rechtsprechung
Sitzblockaden der „Letzten Generation“ bewerten deutsche Gerichte als Nötigung durch Gewalt. Doch dieses seit längerer Zeit vorherrschende Verständnis des Gewaltbegriffs bei § 240 Strafgesetzbuch (StGB) begegnet heute wieder Kritik. Das belegt nicht zuletzt Siegmar Lengauers kürzlich erschienener Beitrag, in dem er aus österreichischer Perspektive ungläubig auf die deutsche Rechtsprechung zum Gewaltbegriff blickt. Auch auf der 10. Tagung des Jungen Strafrechts in Berlin stieß Lengauer mit seinem Störgefühl auf breite Zustimmung. Ich halte dagegen und möchte die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ verteidigen. Sie ist mit dem Begriff „Gewalt“ in § 240 StGB vereinbar. Gewalt bedeutet nicht zwingend Aktivität – maßgeblich ist, ob körperlich wirkende Macht über eine andere Person ausgeübt wird. Diese Auslegung entspricht den historischen Hintergründen der Vorschrift sowie dem Schutzzweck und der Systematik der Norm. Das bedeutet nicht, dass das hierzulande vorherrschende Gewaltverständnis bei § 240 StGB universell gültig oder das einzig richtige ist und von anderen Rechtsordnungen zwingend übernommen werden müsste. Es besteht aber umgekehrt auch kein Anlass, von der Zweite-Reihe-Rechtsprechung zugunsten eines engeren Gewaltbegriffs wieder abzurücken.
Wer übt wodurch Gewalt aus?
Der Grundgedanke der Zweite-Reihe-Rechtsprechung ist einfach (zusammenfassend BVerfG NJW 2011, 3020): Indem sich die Teilnehmerinnen an Sitzblockaden auf die Straße setzen, sorgen sie dafür, dass die betroffenen Fahrzeuge anhalten. Bei der „ersten Reihe“ haltender Fahrzeuge beruht dies auf einem freien Willensentschluss der Fahrer, sind sie doch (faktisch) nicht daran gehindert, weiterzufahren – ohne Rücksicht auf Verluste. Dass die „erste Reihe“ anhält, liegt also nicht an einer körperlichen Zwangswirkung, die von den Sitzenden ausgeht. Anders ist dies bei den Fahrzeugen ab der „zweiten Reihe“: Für sie stellt sich die „erste Reihe“ als unüberwindbares oder jedenfalls nur unter Inkaufnahme eigener physischer Einbußen überwindbares Hindernis dar. Von der „ersten Reihe“ geht also eine körperliche Zwangswirkung auf die „zweite Reihe“ aus. Weil dies nicht von der „ersten Reihe“ selbst, wohl aber von den Teilnehmern an der Sitzblockade genau so gewollt ist, übt, wer sich auf die Straße setzt und die „erste Reihe“ zum Halten zwingt, dadurch gegenüber allen nachfolgenden Fahrzeugen Gewalt aus. Nicht allein im passiven Sitzen, sondern darin, dass infolge des Sitzens die erste Reihe der Fahrzeuge anhält und für alle nachfolgenden Fahrzeuge ein Hindernis darstellt – die Sitzblockade also zu einer „Blechblockade“ führt – liegt die Gewalt im Sinne des § 240 StGB.
Vor diesem Hintergrund und eingedenk der Rechtsprechungsentwicklung zum Gewaltbegriff in Deutschland 1) ist der Vorwurf, es handle sich um einen „vergeistigten“ Gewaltbegriff, unbegründet. Allgemein teilt sich der Begriff in zwei Bestandteile auf: eine Kraftentfaltung auf Täter- und eine Zwangswirkung auf Opferseite. Damit die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens auch angesichts technischer Unterstützungsmöglichkeiten (Explosion per Knopfdruck, Einschließen durch Umdrehen eines Schlüssels usw.) nicht davon abhängt, wie viel Kraft auf Täterseite aufgewendet wird, reicht nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung jede körperliche Kraftentfaltung auf Täterseite aus (BGHSt 41, 182 (185)). Wer einen Knopf betätigt, wer einen Schlüssel umdreht, aber auch wer sich auf die Straße setzt oder in der „ersten Reihe“ sein Fahrzeug zum Stehen bringt (d. h. Energie aufwendet, um dessen Geschwindigkeit zu verringern), entfaltet körperliche Kraft. Dass man sich später passiv verhält und die einmal geschaffene Lage lediglich aufrechterhält, d. h. die Türe nicht wieder aufschließt, nicht von der Straße aufsteht oder mit seinem Fahrzeug nicht weiter- oder wegfährt, ist irrelevant.
Die von dieser Kraftentfaltung ausgehende Zwangswirkung auf Opferseite darf nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht nur eine psychische, sondern muss eine körperliche sein (BVerfGE, 92, 1 (16 ff.); 104, 92 (102)). Das unterscheidet die heute vorherrschende Auslegung des Gewaltbegriffs von einem „vergeistigten“ Verständnis (dazu noch BGHSt 23, 46 (54)). Lengauer ist mit der Forderung nach einer „Materialisierung“ der Gewalt zuzustimmen. Diese Voraussetzung ist bei Sitzblockaden aber erfüllt: Wer mit seinem Fahrzeug irgendwo in der durch die Protestierenden ausgelösten Fahrzeugkolonne steht, ist aufgrund der vor und (meist auch) hinter ihm stehenden Fahrzeuge physisch daran gehindert, vor- oder zurückfahren, und genau darin materialisiert sich das Verhalten der Protestierenden. Anders ist dies z. B. in den Parkbucht-Fällen: Wer allein mit seinem Körper versucht, eine Parkbucht für eine Freundin freizuhalten, übt gegenüber einem ebenfalls an der Parkbucht interessierten Dritten keine Gewalt aus, denn der Dritte kann den Betroffenen „behutsam wegschieben“, sieht sich also keinem körperlich wirkenden Zwang ausgesetzt (vgl. auch BGH NStZ-RR 2002, 236).
So umstritten die Nötigung und das Merkmal der Gewalt im Zusammenhang mit den Sitzblockaden auch sind, möchte ich im Folgenden zeigen, dass im Ergebnis mehr für als gegen die Zweite-Reihe-Rechtsprechung spricht.
Der Begriff Gewalt
Der Wortlaut des § 240 StGB schließt es nicht aus, vermittelt über die „erste Reihe“ eine Nötigung durch Gewalt bei Sitzblockaden anzunehmen. Wieso Gewalt, wie Lengauer meint, begrifflich-notwendig mit Angriff, Aggression und Aktivität verbunden sein soll, erschließt sich mir nicht (zumal manche bei der Notwehr auch einen passiven Angriff durch Unterlassen für möglich halten 2). Stünde die Bedeutung des Gewaltbegriffs derart fest, wären auch hinsichtlich der langen und harten Diskussion in der deutschen Rechtsprechung und Literatur zu § 240 StGB fragende Gesichter angebracht. Dem ist aber nicht so. Das mag auch daran liegen, dass der Begriff in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wird. Es braucht also einen nötigungsspezifischen Gewaltbegriff. Gewalt im Sinne des § 240 StGB hat meiner Ansicht nach etwas mit der Ausübung von (körperlich wirkender) Macht, nicht aber zwingend etwas mit Aktivität zu tun. Die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv ist dann unmaßgeblich. Die auch von Lengauer zitierte „höhere Gewalt“ zeichnet sich beispielsweise ebenfalls nicht dadurch aus, dass etwas Höheres aktiv handelt, sondern dass ich einer höheren, „gewaltigen“ oder „überwältigenden“ Macht als Sterblicher machtlos ausgeliefert bin (und mich deshalb auch keine Verantwortung für die Folgen trifft, vgl. etwa § 7 Abs. 2 StVG).
Ein Blick in die Vergangenheit
Historischer Ursprung des § 240 StGB ist das crimen vis im römischen Recht.3) Dort ging es um ein Delikt gegen die öffentliche Sicherheit, nicht gegen ein Individuum. Später erfolgte zu Recht eine Individualisierung der Nötigung weg vom Schutz kollektiver Belange oder gar „des staatlichen Gewaltmonopols“ hin zum konkreten Opfer. Zwar hält man die historischen Hintergründe des § 240 StGB gemeinhin für unergiebig für dessen Auslegung im 21. Jahrhundert. Auch ist angesichts verschiedener Gewaltbegriffe im Zusammenhang mit „der Staatsgewalt“ und „dem Gewaltmonopol“ (potestas und vis) Vorsicht mit vorschnellen historischen Argumenten geboten. Wenn es allerdings ursprünglich um eine Verletzung des öffentlichen Friedens oder ein Auflehnen gegen einen staatlichen Machtanspruch ging, spricht infolge der Individualisierung der Nötigung einiges dafür, dass heutzutage nicht der staatliche Machtanspruch, sondern ein „individueller Machtanspruch“ des Einzelnen über sich selbst geschützt wird. Der Täter des § 240 StGB maßt sich und seinem Willen also eine gegenüber dem Opfer und dessen Willen höhere Position an und zwingt dieses dazu, sich so zu verhalten, wie er es will.
Was schützt § 240 StGB?
Nun besteht aber auch heutzutage Uneinigkeit darüber, worin genau der Schutzzweck des § 240 StGB zu sehen ist.4) Nach h. M. wird die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung geschützt, anderen zufolge handelt es sich um ein Freiheitsverschiebungsdelikt, bei dem sich der Täter ein Mehr an Freiheit zum Nachteil des Opfers aneignet (Jakobs, Timpe), und wieder andere behaupten, der Tatbestand wolle vermeiden, dass das Opfer (bzw. sein Wille) als Werkzeug eines fremden Willens instrumentalisiert wird (Hruschka, Köhler, Sinn). Ungeachtet der Unterschiede im Detail verbietet die dem § 240 StGB zugrunde liegende Primärnorm aber jedenfalls, dass mich jemand zu einem Verhalten zwingt, das ich nicht will. Meine „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ (Kant) soll gewährleistet werden. Denkt man den Gewaltbegriff vom Schutzgut des Nötigungstatbestands her, ist also primär maßgeblich, dass die Täterin einem anderen Menschen ihren Willen aufzwingt, indem sie ihn daran hindert, zu tun, was er tun will, und dazu zwingt, zu tun, was sie will. Ob dieses „Hindern“ im Schwerpunkt aktiv oder passiv erfolgt, mich die Täterin beiseite schubst oder mir ein schwer überwindbares Hindernis in den Weg stellt, ist dagegen irrelevant. Wichtig ist nur, dass beides durch körperliche Kraftentfaltung erfolgt und einen körperlich wirkenden Zwang verursacht. Wer mit dem Auto fährt, will mit dem Auto fahren und nicht anhalten, und schon gar nicht ein (berechtigtes!) politisches Signal für mehr Klimaschutz senden. Er wird daran aber gehindert und für (berechtigte!) klimapolitische Anliegen instrumentalisiert, wenn vor ihm andere Fahrzeuge halten, weil vor diesen wiederum die „Letzte Generation“ auf der Straße sitzt.
Gewalt und Drohung
Das deckt sich mit der Systematik des § 240 StGB. Eine Diskrepanz zum Nötigungsmittel der Drohung besteht, anders als Lengauer meint, nicht. Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels, auf das der Drohende Einfluss zu haben vorgibt.5) Die beiden Nötigungsmittel würden in der Tat ununterscheidbar, wenn für Gewalt eine bloß psychische Zwangswirkung ausreichte. Aber wie gesehen geht es weder allgemein noch bei den Sitzblockaden um psychischen Zwang, sondern um ein Hindernis, das unüberwindbar ist und deshalb körperlich wirkt. Die gegenüber einem engeren Verständnis abgesenkten Anforderungen an den Kraftaufwand und an die (noch immer körperliche) Zwangswirkung beim hierzulande herrschenden Gewaltbegriff führen dazu, dass beide Nötigungsmittel das Opfer in ähnlich erheblicher Weise beeinträchtigen. Die Art und Weise, in der sich „passive Gewalt“ der Drohung annähert, spricht also nicht gegen, sondern für den hier verteidigten Gewaltbegriff.
Nötigung und andere Straftatbestände
Ergiebig ist auch der „Dunstkreis“ der Nötigung. § 239 StGB bestraft die Freiheitsberaubung, §§ 239a und 239b StGB bestrafen Beeinträchtigungen der Freiheit des Opfers und eine Vermögensgefährdung. Die letztgenannten Tatbestände verlangen hierzu u. a., dass der Täter sich eines anderen Menschen bemächtigt. § 241 StGB schließlich bestraft die Bedrohung mit einem Verbrechen. Nun liegt in einer Sitzblockade keine Freiheitsberaubung und aller populistischen Verlautbarungen zum Trotz schon gar keine Geiselnahme der Autofahrer. Aus dem systematischen Standort des § 240 StGB zwischen §§ 239, 239a, 239b StGB und § 241 StGB lässt sich jedoch – unterstellt man dem Strafrechtsgesetzgeber wohlwollend ein gewisses Gespür für systematische Zusammenhänge – schließen, dass sich der Nötigungstatbestand mit seinem Gewaltbegriff im Bereich zwischen Bedrohung auf der einen und Freiheitsberaubung, Menschenraub und Geiselnahme auf der anderen Seite bewegt und eine Art „Sichbemächtigen light“ verlangt, das nicht auf den Körper, sondern auf den Willen des Opfers und dessen Betätigung bezogen ist. Der von einer Sitzblockade betroffenen Autofahrerin bleiben noch andere Möglichkeiten des Fortbewegens. Die Ausführung ihres ursprünglichen Willensentschlusses ist ihr aber nicht mehr möglich, weil die Protestierenden ihr mit der „ersten Reihe“ Hindernisse in den Weg stellen, die sie nicht überwinden kann. Mit diesen Hindernissen zwingen die Teilnehmenden an den Sitzblockaden die Autofahrerin dazu, (wenn möglich) umzukehren, auszusteigen oder im Auto zu warten, bis die Blockade samt dem Kleber (auf‑)gelöst ist.
Sitzen ist keine Gewalt, Errichten einer Blockade schon
Jede Rechtsordnung hat ihre Eigenheiten und jedes Rechtsgebiet seine Kuriositäten. „Sitzen als Gewalt“ ist ein solches Kuriosum – wenn man das Problem auf diese Formel verkürzt. Bloßes Sitzen ist keine Gewalt. Das Errichten einer Blockade aber schon, und wenn die Blockade (vermittelt durch Dritte) gleichsam durch das Sitzen errichtet wird, lässt sich auch dieses unter den Gewaltbegriff subsumieren.
Mein Ziel war es, zu zeigen, dass die Zweite-Reihe-Rechtsprechung in Deutschland gerade keine Vergeistigung des Gewaltbegriffs darstellt. Nötigung ist strafbar, weil jemand einem anderen seinen Willen aufzwingt – körperlich durch Gewalt oder geistig durch Drohung. Nicht ein aktiver und aggressiver Angriff steht im Mittelpunkt des Gewaltbegriffs, sondern die Ausübung von körperlich wirkender Macht über einen anderen, und hierfür ist die Unterscheidung zwischen aktiv und passiv unerheblich. Gewalt ist daher jede körperliche Kraftentfaltung, die körperlich wirkenden Zwang ausübt, um geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden.6) Hiervon sind auch Sitzblockaden erfasst, weil sie den Betroffenen mithilfe der „ersten Reihe“ unüberwindbare Hindernisse in den Weg stellen.
References
↑1 | Übersicht bei Rengier, StrafR BT II, § 23 Rn. 2 ff. |
---|---|
↑2 | Roxin/Greco, AT I, § 15 Rn. 11 mit Nachweisen. |
↑3 | Übersicht zur Entstehungsgeschichte bei NK-StGB/Toepel, § 240 Rn. 2 ff. |
↑4 | Überblick bei MüKo-StGB/Sinn, § 240 Rn. 5 ff. mit Nachweisen. |
↑5 | Rengier, StrafR BT II, § 23 Rn. 39. |
↑6 | Rengier, StrafR BT II, § 23 Rn. 23. |
5 Comments
Comments are closed.
Lieber Florian,
vielen Dank für deinen gut geschriebenen Beitrag, der noch einmal deutlich macht, dass der Gewaltbegriff der “Zweiten-Reihe-Rechtsprechung” nicht einfach mit einem vergeistigten Gewaltbegriff gleichzusetzen ist. Dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass es sich hier um einen argumentativen Kniff handelt, um “mit besserer Begründung” doch wieder die Ergebnisse des vergeistigten Gewaltbegriffs zu bekommen. Siegmar Lengauer weist aus meiner Sicht zurecht darauf hin, dass auch der Gewaltbegriff der “Zweiten-Reihe-Rechtsprechung” weit vom Alltagsverständnis entfernt ist. Dass Sitzblockaden gemeinhin als friedliche, gewaltfreie Form des Protests gelten, kann man nicht einfach als sprachliches Missverständnis abtun. Der entscheidende Punkt scheint mir zu sein, dass es eben nicht ausreicht, dass es nur irgendeine körperliche Aktivität der Täterin und eine physische Wirkung beim Opfer gibt, sondern die Aktivität selbst unmittelbar körperlich auf das Opfer einwirkt. Damit fallen in der Tat auch die von dir genannten Beispiele der Explosion per Knopfdruck und des Einschließens durch Umdrehen eines Schlüssels heraus. Aber dafür gibt es entweder eigene Tatbestände, oder die Handlungen bleiben im Sinne des fragmentarischen Charakters des Strafrechts straflos. Natürlich ist ein weiterer Gewaltbegriff nicht undenkbar. Aber damit verliert das Tatbestandsmerkmal tendenziell seine begrenzende Funktion. Der Hinweis auf den Normzweck, die Willensentschließungsfreiheit des Opfers zu schützen, greift m.E. zu kurz. Denn § 240 StGB stellt eben nicht jede Nötigung unter Strafe, sondern nur solche, die durch die spezifischen Angriffsmittel der Gewalt oder der Drohung begangen werden. Diese Einschränkung ermöglicht es nicht zuletzt Bagatellen auszusortieren, bei denen das Strafrecht fehl am Platz ist. Das wäre zwar theoretisch auch mit der Verwerflichkeitsklausel möglich, aber damit hängt die Strafbarkeit von unsicheren Abwägungen ab. Und in der Rechtsprechung wird wohl vielfach davon ausgegangen, dass eine Handlung, die als Gewalt zu qualifizieren ist, auch strafbar sein müsse. Man kann Sitzblockaden durchaus als Instrumentalisierung Unbeteiligter kritisieren. Dennoch handelt es sich hier um eine friedliche Protestform, die etwas ganz anderes ist als echte Gewalt gegen Personen oder Sachen. Das Strafrecht sollte diesen Unterschied nicht einfach übergehen.
Danke für deine wie immer sehr klugen Anmerkungen, lieber Jakob. Weil ich manche davon schon habe kommen sehen, möchte ich dir in aller Kürze darlegen, weshalb ich trotzdem anderer Ansicht bin.
1. Zunächst ist es keine Besonderheit des Gewaltbegriffs, dass er in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich verstanden wird. Man denke nur an die „Gewalt gegen Sachen“, die du auch erwähnst und die im außerrechtlichen Sprachgebrauch im Zusammenhang mit Protesten oft auftaucht, vom Gewaltbegriff des § 240 StGB aber jedenfalls für sich genommen nicht erfasst wäre. Wenn während des G 20-Gipfels in Hamburg Autos brennen, ist das im Alltagsverständnis kein friedlicher und gewaltfreier Protest, aber trotzdem keine Gewalt im Sinne des § 240 StGB. Dass das Alltagsverständnis eines Begriffs sich nicht immer 1:1 mit dem (straf-)rechtlichen deckt, kennen wir auch sonst zur Genüge. Spontan denke ich daran, dass von § 261 StGB (Geldwäsche) – ob zu Recht oder nicht – viel mehr erfasst ist als die amtliche Überschrift im täglichen Sprachgebrauch vermuten lässt, oder dass das Anhören einer Tonbandaufzeichnung vor Gericht einen Augenscheinsbeweis darstellt. Es schadet also nicht unbedingt, dass Sitzblockaden gemeinhin als friedliche Protestform angesehen werden, weil sich die Begriffe nicht immer decken. Das ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass es kein allgemeingültiges Verständnis von Gewalt gibt – sonst bräuchten wir auch nicht zu diskutieren. Ich mache mich deshalb auf die Suche nach dem nötigungsspezifischen Gewaltbegriff und lege dazu Wert auf das Schutzgut und die Systematik.
2. Ich stimme dir zu, es muss irgendeinen Konnex zwischen der Kraftentfaltung auf der einen und der Zwangswirkung auf der anderen Seite geben – die Frage ist nur, wie eng diese Verbindung sein muss. Mit Blick auf die erste Reihe, deren Verhalten den Protestierenden nach dem Vorbild des § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB zugerechnet wird (ob allein die Zwangswirkung oder auch die Kraftentfaltung zugerechnet werden sollte, wollte ich bewusst offenlassen, aber gehen wir mal von letztgenannter Variante aus), halte ich die Verbindung für ausreichend: Die erste Reihe bremst ab (Kraftentfaltung), die zweite muss deshalb auch abbremsen, wenn sie nicht auf die erste Reihe auffahren will (Zwangswirkung). Soll die Verwirklichung der „Gewalt“ davon abhängen, ob die zweite Reihe auf die erste auffährt und damit das (oder “ein”) Unmittelbarkeitskriterium erfüllt oder ob sie vorher anhält, um das zu vermeiden?
3. Du hast Recht, ein engerer Gewaltbegriff hätte eine stärker begrenzende Funktion als mein (bzw. das herrschende) Verständnis. Das ist immer so. Du denkst die Strafbarkeit dabei vom fragmentarischen Charakter des Strafrechts her, ich denke sie (jedenfalls in diesem Fall) stärker vom Schutzgut des Straftatbestandes her und habe versucht, meine Gründe dafür darzulegen.
Ich freue mich darauf, die Diskussion bei Gelegenheit fortzusetzen. Grüße nach Freiburg!
Eine schöne Diskussion. Ich finde den Fokus, den Florian auf das Schutzgut legt, überzeugend. Diese Betrachtung lässt es zu, im Einzelfall zu verstehen, was “Gewalt” sein soll.
Wenn man bestimmte Handlungen abstrakt betrachtet und dazu noch mit Prämissen versieht (“Sitzblockaden gelten gemeinhin als friedliche Handlung”), verstellt man den Blick auf die konkreten Auswirkungen der Handlung auf Andere.
Auch der Bau von Mauern gilt gemeinhin als förderliche und friedliche Handlung bei der Versorgung der Bevölkerung von Wohnraum. Aber wenn ich eine Person in vier hohe Wände “einmauern” würde, begeht man sicher eine Freiheitsentziehung (vllt. sogar Totschlag/Mord, wenn wir dieses abstrakte Beispiel einmal ausreizen wollen).
Bei einer Einzelfallbetrachtung anhand bestimmter Prinzipien (insb. Schutzgutbetrachtung) kann Gewalt also viele verschiedene Formen annehmen. Das Strafrecht hält aber Auswege bereit um bestimmte Konsequenzen dieses Begriffsverständnis zu relativieren. Bei § 240 StGB etwa die Notwendigkeit der “Verwerflichkeit”. Ich denke hier passen die nachvollziehbaren Erwägungen gegen die Strafbarkeit der “Klimakleber” besser hin.
Vielen Dank für die beiden interessanten und ausgewogenen Beiträge. Kriminalpolitisch kann ich das Plädoyer für eine engere Auslegung des Gewaltmerkmals des ersten Beitrags nur allzu gut nachvollziehen. Allerdings teile ich die Auffassung dieses Beitrags, dass die Zweite-Reihe-Rechtsprechung nicht zu einer Vergeistigung des Gewaltbegriffs geführt hat. Generell erscheint es schwierig, der Interpretation des Tatbestandsmerkmals „Gewalt“ klare sprachliche (verfassungsrechtliche) Grenzen zu ziehen. War es doch gerade der Österreicher Wittgenstein, der überzeugend herausgearbeitet hat, dass sich die Bedeutung eines Begriffs stets aus dem Gebrauch in der Sache ergibt. Sprachkonventionen sind einem fortlaufenden Wandel ausgesetzt und stark kontextabhängig. Ein rein sprachlich verstandenes Analogieverbot nach Art. 103 Abs. 2 GG hat mithin begrenzte Potenz. Das kommt auch in den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu § 240 StGB zum Ausdruck. Die Grenze kann nicht anhand klarer Kriterien begründet werden, was sich an den gespaltenen Voten zeigt – mehr Dezision als rationaler Nachweis. Dass das Gewalt-Merkmal auf Fälle von Angriffen/Aggressionen beschränkt werden sollte, dafür mag man kriminalpolitisch (mit Verweis auf den Ultima-Ratio-Charakter des Strafrechts) werben, begrifflich-notwendig ist das meines Erachtens nicht.
Auch aus dem Verschleifungsverbot lässt sich meines Erachtens nichts herleiten. Dieses steht nicht einmal einer (klar abzulehnenden) vergeistigten Deutung entgegen. Nach dem Verbot darf ein Tatbestandsmerkmal nicht zu Lasten des Beschuldigten derart ausgelegt werden, dass es in einem anderen aufgeht. Mit anderen Worten: Wenn das legislative Konzept eine „Strafbarkeits-Treppe“ von vier Stufen vorsieht, darf der Rechtsanwender die Treppe nicht zu einer drei-stufigen umbauen. Andernfalls missachtet er das gesetzgeberische Konzept (Gewaltenteilung, strikter Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG) zu Lasten des (potenziellen) Täters. Eine täterbelastende Verschleifung ist demnach nur zwischen Tatbestandsmerkmalen, die kumulativ vorliegen müssen, möglich. Die verschleifende Interpretation von alternativen Merkmalen (wie die Nötigungsmittel Gewalt oder Drohung) erweitert den Anwendungsbereich der Norm hingegen nicht.
Vor dem Hintergrund der zurückhaltenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle des demokratisch legitimierten Strafgesetzgebers (Einschätzungsprärogative in einer wertpluralen Gesellschaft, gesetzgebungskritische Rechtsgüterschutzkonzepte, die nicht an die Verfassung angebunden sind, sind zahnlos) muss der strikte strafrechtliche Gesetzesvorbehalt aus Art. 103 Abs. 2 GG meines Erachtens an Bedeutung gewinnen. Dies setzt voraus, dass sich der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren in Zukunft zu den strafrechtslimitierenden Funktionen! einzelner Merkmale noch klarer äußert. So wird eine rationale Diskussion, ob und inwiefern eine Interpretation ein Merkmal funktionell entgrenzt, ermöglicht.
Sie, lieber Herr Slognat, lenken den Fokus der Diskussion demnach meiner Meinung nach völlig zu Recht auf die spezifische Funktion des Gewaltmerkmals. Anders als Sie würde ich das Merkmal zwar enger fassen, sehe aber, dass dies alles andere als zwingend ist!
Was ich mich jetzt frage: Nötigt die Regierung nicht alle jungen Menschen, indem sie keinen Klimaschutz betreibt, schließlich wird deren künftige Freiheiten eingeschränkt um mehr Freiheiten heute zu ermöglichen? Eine andere wirkmächtige Möglichkeit etwas dagegen zu tun, außer vllt Notwehr der jüngeren (zb durch Sabotage an fossiler Infrastruktur), ist ihnen nunmal nicht möglich. Protest ist schließlich nur effektiv wenn er stört und nachdem der öffentliche Raum zum Großteil dem Auto zur Verfügung gestellt wird und nicht dem Mensch (paradoxerweise scheint das Auto über dem Menschen zu stehen) gibt es wenig andere Mittel.
Durch dieses absichtliche Nichthandeln der Regierung wird zum einen psychische Gewalt ausgeübt (zb Angst um die eigene Zukunft, die faktisch begründet ist) und zum anderen physische Gewalt, da der persönliche legale Handlungsspielraum so klein ist oder gemacht wurde, dass ein wirkmächtiges Handeln den eigenen Willen auf eine lebenswerte Zukunft unmöglich macht.