Sitzen ist keine Gewalt
Eine österreichische Perspektive auf passive Proteste und den Nötigungstatbestand
Deutsche Gerichte bestrafen Aktivist*innen der Klimabewegung, die an Sitzblockaden teilnehmen, immer wieder wegen Nötigung. Passives Verhalten ist allerdings keine Gewalt. In Österreich handelt es sich dabei um einen Leitsatz zur Nötigung, der sich in fast allen Kommentierungen und Lehrbüchern zu § 105 österreichisches Strafgesetzbuch (öStGB) findet. Er gehört zum Standardrepertoire. Deshalb hagelt es Kritik, wenn die Justiz in der Alpenrepublik davon vereinzelt abweicht. Nach wie vor ist der österreichische Gewaltbegriff in der sogenannten Körperlichkeitstheorie verankert: Danach muss der Täter zwar nicht unmittelbar mit erheblicher Kraft auf den Körper des Opfers einwirken, weshalb etwa auch das Verabreichen von Betäubungsmitteln Gewalt darstellen kann. Wer aber bloß psychisch auf das Opfer einwirkt, übt keine Gewalt aus. Dasselbe gilt für Sitzblockaden, denn sie zeichnen sich gerade durch den Verzicht auf Krafteinsatz aus. Gewaltanwendung setzt körperliche Aktivität voraus, das ergibt sich bereits aus dem Wortsinn von „Gewalt“. Der Täter muss schon selbst „Hand anlegen“ – wie es Bertel/Schwaighofer/Venier treffend formulieren (Strafrecht BT I § 105 Rz. 2). Passiven Widerstand erfasst der Gewaltbegriff hingegen nicht.
Zweite-Reihe-Rechtsprechung
Dieses österreichische Postulat wird bei vielen deutschen Kolleg*innen eher einen Impuls zur Relativierung oder sogar Widerrede auslösen (anders hier). Immerhin hat doch das Bundesverfassungsgericht in seinem Kammerbeschluss vom 7. März 2011 (1 BvR 388/05) die Ansicht des Bundesgerichtshofs (BGH) bestätigt, nach der sich wegen Nötigung gemäß § 240 Abs. 1 deutsches Strafgesetzbuch (StGB) strafbar machen könne, wer an einer Sitzblockade teilnehme. Gerichte könnten das Sitzen nämlich als Anwendung von Gewalt beurteilen: Im gegenständlichen Fall hatten Demonstrierende sich auf eine Zufahrtsstraße gesetzt und dadurch Fahrzeuglenker*innen den Weg versperrt. Dahinter stauten sich Autos in mehreren Reihen. Auf die Fahrzeugführer*innen in der ersten Reihe sei dadurch rein psychischer Zwang ausgeübt worden. Jedoch wären die Fahrzeugführer*innen ab der zweiten Reihe wegen der vor ihnen stehenden Autos physisch an der Weiterfahrt gehindert gewesen. Daraus schließt der BGH, dass die Sitzblockade an sich als Anwendung von Gewalt gegen diese Fahrzeugführer*innen zu qualifizieren sei.
Noch einmal zum besseren Verständnis für mich als in Österreich sozialisierter Jurist: Personen, die auf dem Boden sitzen, wenden gegenüber jenen Personen Gewalt an, die durch sich ebenfalls nicht bewegende Fahrzeuge vor ihnen an der Weiterfahrt gehindert werden. Niemand bewegt sich, alle sitzen (auf der Straße oder im Auto), trotzdem Nötigung mittels Gewaltanwendung. „Nicht einleuchtend? Macht nichts. Ist Strafrecht. Strafrecht ist nicht einleuchtend. Strafrecht ist Strafrecht“ – schreibt Steinbeis 2011 (s. hier). Ein derart extensiver Gewaltbegriff erscheint jedenfalls um einiges rechtfertigungsbedürftiger als die Eingangsthese, wonach passiver Widerstand keine Gewaltanwendung bedeutet.
Außerdem stellt sich die Frage, ob die Justiz stets dieselben Maßstäbe anlegt, wenn sie Protestaktionen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen (etwa die aktuellen „Bauernproteste“) oder die Ausübung staatlichen Zwangs (z.B. während einer Verkehrskontrolle) rechtlich bewertet. Wenn dann noch strafrechtliche Folgewirkungen bedacht werden, löst das bei mir schwerwiegende Bedenken aus: Ein Wegzerren oder Schlagen von sitzenden Demonstrierenden kann doch nicht ernsthaft als „Notwehr der zweiten Reihe“ gegen „gewalttätige“ Protestierende gelten. Problematisch ist der extensive Gewaltbegriff zudem, weil Sitzblockaden dann auch als Widerstand gegen die Staatsgewalt (§ 269 öStGB) gewertet werden könnten (vgl. dazu auch hier und hier).
Eine Gelegenheit zur kritischen Auseinandersetzung damit bot sich beim 10. Symposium des Jungen Strafrechts in Berlin. Dort diskutierten Strafrechtswissenschaftler*innen unter dem Titel „Strafrecht und Krise“ u.a. die Frage der Rechtfertigung zivilen Ungehorsams sowie die Verwerflichkeit von Blockadeaktion im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB. Inmitten dieser angeregten Debatte warfen dann Kollege Dietrich und ich eine als Frage formulierte, sprichwörtliche „heiße Kartoffel“ in den Raum: Wie kann es überhaupt sein, dass deutsche Gerichte Sitzblockaden als Gewalt und damit als tatbestandliches Unrecht qualifizieren?
Vergeistigung des Gewaltbegriffs
Die Resonanzen zeigten, dass die Zweite-Reihe-Rechtsprechung auch bei vielen deutschen Kolleg*innen auf wenig Gegenliebe stößt. Wirkmächtig ist sie dennoch – und das wohl nicht nur in Deutschland. Wie eingangs erwähnt, tendiert auch die österreichische Justiz mitunter in Richtung einer „Vergeistigung“ des Gewaltbegriffs (s. bereits 15 Os 5/96: „unter Gewalt ist nicht nur die Benutzung kinetischer Energie zu verstehen“). Dass ihr die deutsche Rechtsprechung dabei als Vorbild dienen könnte, ist nicht weit hergeholt. Schwaighofer dazu im Wiener Kommentar:
„Der BGH war spitzfindig genug, darauf zu verweisen, dass die zum Anhalten gezwungenen vorderen Fahrzeuge eine massive Barriere erzeugen […] So ist zu befürchten, dass über kurz oder lang der deutsche vergeistigte Gewaltbegriff auch in Österreich einzieht.“
Bisher hält die österreichische Strafrechtswissenschaft dagegen: Bloß passives Verhalten lasse sich mangels eigenen Krafteinsatzes selbst dann nicht als Gewalt beurteilen, wenn es das Gegenüber als Widerstand erlebt. Diese Brandmauer gegen eine „Dematerialisierung“ des Gewaltbegriffs zeigt aber Risse, durch die das Argument von der „mittelbaren physischen Zwangswirkung“ einsickern kann.
Das ist ja die zentrale Aussage des BGH in der Zweiten-Reihe-Rechtsprechung: Von der nötigenden Wirkung her betrachtet mache es keinen Unterschied, ob Protestierende andere Personen durch den Einsatz eigener Körperkraft oder mittels der Fahrzeuge in der ersten Reihe physisch an der Weiterfahrt hindern. Ausschlaggebend sei die „nicht bloß psychische Zwangswirkung“ auf die Fahrzeuglenker*innen ab der zweiten Reihe. Um diese Wirkung zu erreichen, würden die Demonstrierenden die Fahrzeuglenker*innen in der ersten Reihe psychischem Zwang aussetzen und sie dadurch bewusst als Werkzeuge benutzen.
Die „Vergeistigung“ des Gewaltbegriffs ist damit nur soweit eingegrenzt, als es gegenüber der ersten Reihe zu keiner Gewaltanwendung im Sinne des Nötigungstatbestands kommt. Mit Blick auf die Nötigungswirkung kann die bloße „Anwesenheit der Person“ aber als Gewaltanwendung beurteilt werden. Der Preis dafür ist eine Gleichstellung von passivem Widerstand und Gewaltanwendung.
Hindernisse als Gewalt?
Das Bundesverfassungsgericht hat die Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH im Wesentlichen bestätigt (BVerfGE 92,1 – Sitzblockade II). Es ist allerdings dem Merkmal der „psychischen Zwangseinwirkung“ entgegengetreten, das der BGH zuvor in Hinblick auf Sitzblockaden (insbesondere BGHSt 23,46 – Laepple-Urteil) herausgearbeitet hatte. Karlsruhe stellte damit klar, dass eine Person, die nur psychischen Zwang ausübt, keine Gewalt anwendet. Die körperliche Anwesenheit an einer Stelle, die eine andere Person passieren möchte, genügt also noch nicht. Dies wird damit begründet, dass durch eine „Ausweitung des Gewaltbegriffs“ auch zahlreiche sozialadäquate Verhaltensweisen erfasst würden, die man dann eigentlich nur mittels der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB ausschließen könnte. Zudem führt das Gericht überzeugend aus, dass es nicht praktikabel sei, nach dem „Gewicht der psychischen Einwirkung“ zu differenzieren, um den Tatbestand wieder einzuhegen. Dieser Maßstab sei schließlich noch unbestimmter als der Begriff der Gewalt an sich. Deshalb ließe sich nicht mehr vorhersehen, welches Verhalten, das auf einen anderen Menschen psychisch einwirkt, gegen die Norm verstößt und welches nicht. Dies wirke sich auch in anderen Bereichen des Strafrechts aus und verursache damit systemische Ungewissheit.
Liest man in der Entscheidung weiter, wird jedoch ersichtlich, dass selbst dies unter den Verfassungsrichter*innen nicht unstrittig war. So heißt es in der abweichenden Meinung (BVerfGE 92,1 – Sitzblockade II [68 ff.]), dass das Errichten eines körperlichen Hindernisses weiterhin als Gewalt (bereits auf die erste Reihe der Fahrzeuge) verstanden werden sollte. Auf das Ausmaß der aufgewendeten Kraft käme es für die Nötigung nicht an (BGHSt 23, 46 [54]). Schon nach allgemeinem Sprachverständnis sei ja nicht entscheidend, ob es zu einer unmittelbaren Einwirkung auf den Körper des Opfers komme. Die Sitzblockade selbst wirke aber sogar als ein körperliches Hindernis, das sich der Weiterfahrt herannahender Fahrzeuge physisch entgegengestellt. Den Weg zu blockieren, mit dem Ziel, die Fahrzeuginsassen von der Weiterfahrt abzuhalten, bedeute demnach nicht bloß psychisch auf sie einzuwirken. Gewalt liege vielmehr schon darin, dass mit geringem Kraftaufwand ein „psychisch determiniertes“ Hemmnis beim Opfer erreicht werde.
Darin kommt eben jene Auffassung von Gewalt zum Ausdruck, mit der auch der österreichische Oberste Gerichtshof geliebäugelt hat (RIS-Justiz OGH 15 Os 5/96; 13 Os 23/17g: „Querstellen eines Autos als Gewalt“).
Lehre vom psychischen Zwang ist kategorisch abzulehnen
Gegen die Lehre vom psychischen Zwang spricht nicht nur eine Ausweitung des Tatbestandes. Würde der strafrechtliche Gewaltbegriff psychische Gewalt umfassen, dann wäre vielmehr auch das Verhältnis von Gewalt und Drohung derart eingeebnet, dass die Benennung verschiedener Nötigungsmittel von vornherein keine Funktion mehr hätte. Das Nötigungsmittel, das mit der Ausübung psychischen Zwangs in teleologischem Zusammenhang steht, ist die Drohung. Gewalt kann daher nicht auch psychischen Zwang bedeuten, ohne dass dadurch die Binnenlogik der Nötigung zu Bruch geht. Vielmehr muss Gewalt über die Ausübung seelischen Zwangs hinausgehen, indem sie sich materialisiert. Dies stellt das Erfordernis einer körperlichen Zwangswirkung sicher. Hingegen verstößt das Argument, dass eine physisch verursachte, „seelische Hemmung“ eine Zwangswirkung entfalte, die körperlichem Zwang gleichzustellen sei und daher Gewalt begründe, gegen das Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen.
Erfordernis aktiver Gewaltanwendung
Was spricht nur aber eigentlich dagegen, dass auch ein passives Verhalten körperlichen Zwang in subtiler Weise ausüben kann? Bedeutet Gewalt eine physische Einwirkung durch den Täter, die beim Opfer als körperlicher Zwang wirkt, ist das Ausmaß der vom Täter aufgewandten Kraft nicht entscheidend. Der Täter kann zur Erreichung einer Zwangswirkung beim Opfer auch Gegenstände, Waffen, Maschinen oder Substanzen benutzen, z.B. indem er dem Opfer Drogen verabreicht. Untätigkeit genügt hingegen nicht, um Gewalt anzuwenden. Der Grund dafür liegt vor allem schon im Wortsinn des Gewaltbegriffs: Gewalt meint generell eine verursachende Kraft, die durch ein Ereignis oder jemanden ausgeübt wird („Naturgewalt“, „höhere Gewalt“, „Staatsgewalt“ usw.). In Hinblick auf menschliches Verhalten steht der Begriff zudem mit Aggression in Verbindung. Gewalt ist demnach die Realisierung eines Aggressionspotentials durch eigenes Tun. „Passiv aggressives“ Verhalten ist in diesem Sinne keine Gewaltanwendung. Vielmehr ist Gewalt im strafrechtlichen Kontext mit dem Angriffsbegriff verwandt: Das Wesen der Gewalt ist es also, dass ein Mensch ein aggressives Verhalten gegen andere ausübt. Eine solche Anwendung von Gewalt kann daher bei dem Gegenüber zu Widerstand führen. Was Gewalt dazu aber jedenfalls voraussetzt, ist Aktivität.
Widerstand kann passiv sein, Gewalt nicht
Wer nur sitzt, übt keine Gewalt aus, denn es fehlt an der wesensgebenden Aktivität. Wer umgekehrt gegen Menschen vorgeht, die bloß passiv sitzenbleiben, wird selbst zum Aggressor. Eines sollte daher nicht verwechselt werden: Widerstand kann passiv sein, Gewalt nicht! In Österreich stimmt dieses Verhältnis noch. Der in der Körperlichkeitstheorie verankerter Gewaltbegriff gerät aber auch hierzulande zunehmend unter Druck. Bisher hält er aber Stand. Das restriktive Verständnis von Gewalt steht damit einer Kriminalisierung von Sitzblockaden weiterhin entgegen und bewährt mittelbar auch die Versammlungsfreiheit. Gerade daraus, dass eine Ausweitung des Gewaltbegriffs nicht nur Folgen für den Tatbestand der Nötigung nach sich zieht, lassen sich möglicherweise auch Denkanstöße für die deutsche Rechtsprechung und Dogmatik ableiten. Denn die Begründungslast liegt eindeutig bei jenen, die für einen extensiven Gewaltbegriff plädieren.