Wohlfühldemokratie als Alternative zum Repräsentativsystem
Bürgerräte in Österreich
Die Unzufriedenheit mit der Leistungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie auf allen Ebenen ist bekannt. Sie wirkt bürger:innenfern und abgehoben und steht im Verdacht, die Präferenzen der Bürger:innen unzureichend zu berücksichtigen. Das Heilmittel direkte Demokratie begegnet insbesondere in den Zirkeln der akademischen Eliten erheblicher Skepsis: Sie soll spaltend sein, weil auf ein Ja oder Nein hinauslaufend, anfällig für populistische Stimmungsmache und durch mitunter unsachlich agierende Meinungsmacher dominiert sein.
In dieser demokratischen Melancholie wurde das Instrument des Bürger:innenrates als dritter Weg zwischen Repräsentation und Identität geboren. In diesem Setting teilen die Bürger:innen, repräsentiert durch eine „Zufallsauswahl“, der Politik im Rahmen eines Berichts ihre Meinungen zu bestimmten mehr oder weniger grundsätzlichen Fragen mit. Der Politik wird die Haltung der Bürger:innen nicht in der brutalen Härte eines Volksentscheids kommuniziert, sondern in verträglichen Portionen in Form von Empfehlungen. Im Bürger:innenrat werden Extrempositionen abgeschliffen, herauskommt die umgängliche Mitte, mit jeweils leichten Tendenzen auf die eine oder andere Seite des politischen Spektrums. Zur Entspannung der Politik trägt auch bei, dass die Empfehlungen des Bürger:inennrats letztlich unverbindlich sind und lediglich eine Handlungsanleitung darstellen, der entsprochen werden kann oder eben nicht.
Die Eignung der Bürger:innenräte zur unaufgeregten Behandlung auch drängender Fragen wurde von der Politikwissenschaft bereits vor einigen Jahren festgestellt, wobei Nanz/Leggewie in ihrem 2020 erschienenen Werk „Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung“ besonders auf das Vorarlberger Beispiel hingewiesen haben. Dieses soll daher auch hier als erstes behandelt werden.
Normative Annäherungen an das Unverbindliche
Die Konzeption des Bürger:innenrates mit seiner Unverbindlichkeit und Informalität widerstrebt per se einer normativen Verankerung. Muss, was zwangsläufig unverbindlich ist, weil es sonst wegen Umgehung der Parlamentshoheit verfassungswidrig wäre, unbedingt verbindlich unverbindlich gemacht werden? Jedoch will eine legalistische Verfassungskultur für jedes staatliche Handeln, auch wenn es sich lediglich um die Ermächtigung handelt, sich beraten zu lassen, eine gesetzliche Grundlage schaffen. Wenn sich die Politik mit der Konsultative schmückt, sollte sie dann nicht gewisse Grundsätze wie Zufallsauswahl und Repräsentativität festschreiben?
Der Vorarlberger Verfassungsgeber hat sich diesem schwierigen Thema in sehr zurückhaltender Weise angenähert:
Gemäß Art. 1 Abs. 4 der Vorarlberger Landesverfassung bekennt sich das Land zur direkten Demokratie in Form von Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen und „fördert auch andere Formen der partizipativen Demokratie“. Den Gesetzesmaterialien der 2013 erfolgten Novellierung (Beilagennummer 1/2013) zufolge sind damit insbesondere Bürger:innenräte gemeint: „Als eine vielversprechende Methode der partizipativen Demokratie hat sich zum Beispiel jene des Bürgerrates herausgestellt. Im Rahmen von Bürgerräten – wie sie in der Vergangenheit auf Initiative oder mit Unterstützung des Landes schon erfolgreich stattgefunden haben – besteht unter Teilnahme von nach dem Zufallsprinzip und unter Beachtung der Diversität ausgewählten Personen die Möglichkeit, allgemeine oder konkretere Themen (insbesondere der Gesetzgebung und der Verwaltung) in einem gut strukturierten Prozess zu erörtern und die einschlägigen staatlichen Entscheidungsträger zu beraten.“
Vorgaben, wie diese Form der partizipativen Demokratie im Einzelnen administriert werden soll, enthält die Vorarlberger Regelung, die übrigens 2017 im Wege des lernenden Föderalismus vom Land Kärnten wörtlich als Art. 1 Abs. 4 in dessen Landesverfassung implementiert wurde, nicht. Ebenso wenig jene des § 3 Abs. 2 Vorarlberger Gemeindegesetz, laut der Gemeinden diese Formen der partizipativen Demokratie fördern sollen.
Während Art. 5 Abs. 5 der Salzburger Landesverfassung im Wesentlichen dasselbe wie die zitierte Bestimmung der Vorarlberger Landesverfassung stipuliert, wird § 20 der Salzburger Gemeindeordnung demgegenüber etwas deutlicher.
Diese Bestimmung wagt sich – im Gendern etwas unsicher – an die Regelung des Unverbindlichen wie folgt heran:
„Die Gemeindevertretung kann die Einrichtung von Bürgerinnen- und Bürgerräten zu bestimmten Themen der Gemeindevollziehung beschließen. In Bürgerinnen- und Bürgerräten diskutieren im Zufallsverfahren ausgewählte Gemeindemitglieder Fragestellung und erstellen dazu einen Bericht, der in einer Sitzung der Gemeindevertretung präsentiert wird (Bürgerratsbericht). Zur Auswahl der Mitglieder des Bürgerrates kann die Gemeindevertretung die im Abs 1 genannten Daten der Gemeindemitglieder verarbeiten. Eine Verpflichtung zur Mitwirkung im Bürgerrat besteht nicht. Nähere Bestimmungen zur Einberufung und die von der Gemeindevertretung beschlossene Geschäftsordnung der Bürgerinnen und Bürgerräte sowie zur Erstellung des Bürgerratsberichtes kann die Gemeindevertretung durch Verordnung erlassen.“
Derartige Geschäftsordnungen in Verordnungsform wurden in Salzburg, soweit ersichtlich, keine erlassen. Die Landeshauptstadt Salzburg führte 2021 jedenfalls einen Bürger:innenrat zum örtlichen Raumordnungskonzept durch.
Für landesweite Bürger:innenräte sorgt die Bestimmung des § 82 der Geschäftsordnung des Salzburger Landtages, wonach der Präsident nach Anhörung der Präsidialkonferenz Instrumenten der partizipativen Demokratie gemäß Art. 5 Abs. 5 der Landesverfassung abhalten kann.
Immerhin findet sich in der Kärntner Stadt Villach eine seit 1. Januar 2019 in Kraft befindliche „Richtlinie zur Einberufung und Durchführung von Bürgerräten“, ein von der Stadtverwaltung ausgearbeiteter und rechtlich unverbindlicher Text.
Soweit der insgesamt bescheidene normative Befund in Österreich zu den Bürger:innenräten: Es gibt landesverfassungsrechtliche Bekenntnisse zu den Bürger:innenräten in Vorarlberg, Kärnten und Salzburg und einige Leitlinien auf kommunaler Ebene. Dies schadet jedoch nicht allzu viel, denn das Unverbindliche kann ja jederzeit installiert werden, wenn nur ein politischer Wille vorhanden ist. Schließlich kann sich jedes staatliche Organ beraten lassen, was nachfolgend am Beispiel des bisher einzigen österreichweiten Bürgerrates demonstriert werden soll.
(K)ein „Mini-Österreich“ – der Klimarat als erster nationaler Bürger:innenrat
Aufgrund einer Entschließung des Nationalrats vom 26. März 2021 (160/E XXVII. GP) setzte die Bundesregierung 2022 einen Klimarat ein, dessen Repräsentativität nach Auffassung des zuständigen Bundesministeriums so weit ging, dass er auf der Homepage als „Mini-Österreich“ tituliert wurde. Das Parlament wünschte sich, dass dieser Kllimarat aus mindestens 100 Personen zusammengesetzt sein sollte, „die jeweils seit mindestens fünf Jahren ihren Hauptwohnsitz in Österreich haben, mindestens 16 Jahre alt sind und einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft hinsichtlich Geschlecht, Alter, Bildungsstand, Einkommen und Wohnort, abbilden, zusammen. Die Auswahl erfolgt nach dem Zufallsprinzip durch ein Sozialforschungsinstitut. Dies stellt sicher, dass die Teilnehmer*innen repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ausgewählt werden.“
Selbstverständlich konnte der Klimarat nicht ohne fachkundige Begleitung agieren. Diese wurde im Klimaforscher Georg Kaser und der Umweltökonomin Birgit Bedner-Friedl gefunden. Unter ihrer Ägide berieten noch eine große Zahl weiterer Wissenschafter:innen den Bürger:innenrat.
Schließlich tagten 84 Menschen und erstatteten der Bundesregierung einen durchaus beachtlichen Bericht mit Empfehlungen an die Politik. Die Euphorie der Bürger:innen wurde freilich rasch eingebremst. Die Empfehlungen wurden kurzfristig nur zu einem geringen Teil umgesetzt, was nicht nur an der schwierigen rechtlichen Umsetzbarkeit bestimmter Wünsche liegt, die teilweise recht massive Verfassungsänderungen erfordern würden, sondern auch an den überzogenen Erwartungshaltungen.
Der Klimarat veranschaulicht paradigmatisch die Grundproblematik der Adressierung von Wünschen der Bürger:innen an die Politik, die sich umso mehr verschärft, je höher das Gremium angesiedelt ist:
Die Erfüllbarkeit der Forderungen ist in einem von den Sachzwängen beherrschten politischen Diskurs extrem schwierig. Nicht nur die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen – insbesondere des Föderalismus, die zu kennen oder gar Beachtung zu schenken weder den Bürger:innen noch ihrer wissenschaftlichen Begleitung zugemutet werden kann – stehen einer Umsetzung entgegen. Auch die widerstreitenden Interessen innerhalb einer Koalitionsregierung sowie die Kurzfristigkeit politischen Handelns führt dazu, dass die Politik den Bericht eines Bürger:innenrats sehr rasch aus den Augen verliert.
Aber kommen wir auf Strukturprobleme des Bürger:innenrats selbst zurück: Das Gremium ist nicht repräsentativ, auch wenn er sich noch so bemüht: Während Geschlechterparität noch verhältnismäßig leicht herzustellen ist (im Klimarat bestand das Verhältnis 44 Männer zu 40 Frauen), gilt dies bei der Widerspiegelung der Diversität einer Gesellschaft schon nicht mehr. Menschen mit Migrationshintergrund sind bereits im Gruppenbild augenscheinlich unterrepräsentiert, der Blick auf die Liste der Teilnehmer:innen bestätigt die erste Vermutung. Wie es um die Repräsentativität der sozialen Schichtungen steht, kann mangels Ausführungen des Berichts zu diesem Thema nur spekuliert werden, aber eines ist klar: Es handelt sich sicherlich nicht um ein „Mini-Österreich“.
Die Integration jener Menschen, die sich nicht für die allgemeinen politischen Belange interessieren oder dem bestehenden System kritisch gegenüber stehen, dürfte im Rahmen der Bürger:innenräte im Übrigen umso schwieriger sein, je höher das Gremium auf den Hierarchieebenen der Staatlichkeit angesiedelt ist.
Deshalb ist Zurückhaltung in der Euphorie über ein Instrument, in dem Bürger:innen sachlich Grundsatzfragen einer Gemeinschaft diskutieren, angebracht: Je höher die Erwartungen geschraubt werden, umso mehr droht eine augenblicksbezogene Wohlfühldemokratie zurückzubleiben, die spätestens dann mit Frustrationserscheinungen zu kämpfen hat, wenn die Politik das implizite Versprechen, sich der Anliegen des Bürgerrates anzunehmen, nicht einzulösen vermag.
Mehr Bürger:innenräte wagen
Dieser kritische Befund zur Praxis der Bürger:innenräte bedeutet nicht, dass der dritte Weg zwischen Repräsentation und Identität nicht gangbar wäre. Auf der kommunalen und teilweise auch auf der regionalen Ebene, wo sich Politik und Bürger:innen nicht nur im Rahmen von Zusammenkünften wie eben einem Bürger:innenrat begegnen, kann ein Bürger:innenrat der lokalen Politik wichtige Impulse geben. Tatsächlich eignen sich örtliche Raumordnungskonzepte, Bebauungspläne, Zentrumsgestaltungen durchaus für solche Diskussionsforen.
Hier ist auch eine Kommunikation auf Augenhöhe und nicht abgeschirmt durch wohlwollende Mediator:innen und Kommunikations:beraterinnen, die versuchen, die Sprache der Bürger:innen in jene der Politik zu übersetzen, möglich. Solche Experimente können durchaus gelingen, und zwar unabhängig davon, wie stark sich der jeweilige Gesetzgeber zu den Instrumenten der partizipativen Demokratie bekennt und ein Normsetzer versucht, das Auswahlverfahren sowie die impliziten Spielregeln eines sachlichen Diskurses in Geschäftsordnungen für Bürger:innenräte zu implementieren.
Von daher kann durchaus empfohlen werden, die Bürger:innen auch ohne außenwirksames normatives Beiwerk, sondern lediglich auf Basis interner Richtlinien (siehe etwa das Villacher Beispiel) zu installieren und die so gewonnene Zeit in eine Kultur der Offenheit gegen über Vorschlägen von außen zu investieren.