Wackliges Parteienkartell
Die Formulierung „Entscheidungen in eigener Sache“ ist in Österreich weder in der Rechts- noch in der Politikwissenschaft gebräuchlich. Die damit umschriebenen Elemente der Rechtsordnung und des politischen Systems werden jedoch seit langem diskutiert, besonders im Kontext der Kombination von Konkordanzdemokratie und der dominanten Rolle der politischen Parteien, die für Österreich typisch ist. Seit den 1990er-Jahren verlieren diese beiden Elemente an Einfluss. „Entscheidungen in eigener Sache“ lassen sich nicht mehr bloß mit Verweis „auf die Rechtslage“ rechtfertigen.
Continue reading >>Österreich als Insel der Seligen?
In Deutschland findet schon seit Jahrzehnten ein Diskurs statt, der bei seinem österreichischen Nachbarn anklopft, aber nicht wirklich angekommen ist: Jener über Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache. Der fehlende rechtspolitische Diskurs lässt auf den ersten Blick vermuten, dass österreichische Abgeordnete nicht in eigener Sache entscheiden, sondern stets zum Gemeinwohl aller. Nüchtern betrachtet offenbart sich jedoch ein anderes Bild.
Continue reading >>Das Ende verstaatlichter Asylrechtsberatung in Österreich?
Vor knapp zwei Jahren kam es zu einem der größten Systembrüche im österreichischen Asylwesen. Die Rechtsberatung von Flüchtlingen, die bis dahin von nichtstaatlichen Organisationen verantwortet war, wurde einer Bundesagentur unter entscheidendem Einfluss des Innenministers übertragen. Nun wird diese Konstruktion vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) überprüft. Eine erste Einordnung.
Continue reading >>Mehr Fortschritt wagen in der Stiftungsfinanzierung
Das beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren zur staatlichen Finanzierung der Desiderius-Erasmus-Stiftung belebt erneut die Forderung nach einem förmlichen Parlamentsgesetz zur Regelung der staatlichen Förderung der parteinahen Stiftungen. Dass ein solches Gesetz verfassungsrechtlich notwendig ist, ist jedenfalls innerhalb der Rechtswissenschaft seit Langem unstreitig – unabhängig von dem AfD-Kontext, der für die abermalige Virulenz des Themas sorgt. Das österreichische Publizistikförderungsgesetz (PubFG), könnte für den deutschen Gesetzgeber im Grundsatz ein legistisches Vorbild sein. Für den Umgang mit der Desiderius-Erasmus-Stiftung müssten allerdings zusätzliche Regelungen gefunden werden.
Continue reading >>Die Made im NATO-Speck
Der Krieg in der Ukraine hat innerhalb kürzester Zeit Grundprämissen des etablierten österreichischen Neutralitätskonzepts in Frage gestellt – selbst ein NATO-Beitritt wurde diskutiert. Der Gang dieser Diskussion vermochte innerhalb kürzester Zeit die gesamten rechtlichen Schwachstellen des österreichischen Neutralitätskonzepts offen zu legen. Gleichzeitig zeigt sich, wie opportun es für Österreich ist und weshalb wohl auch weiter daran festgehalten wird.
Continue reading >>Das österreichische Impfpflichtgesetz
Der österreichische Nationalrat beschloss am 20.01.2022 mit breiter Zustimmung das Gesetz über die Pflicht zur Impfung gegen COVID-19. Am Donnerstag wird darüber im Bundesrat abgestimmt. Viele Details bleiben in dem neuen Gesetz allerdings ungeregelt. Der Gesetzgeber hat durch Verordnungsermächtigungen die inhaltliche Ausgestaltung der Impfpflicht größtenteils auf den Gesundheitsminister übertragen. Das sorgt für Flexibilität, birgt aber auch die Gefahr, dass wesentliche politische Entscheidungen der Verwaltung überlassen werden. Zur Abwehr der aktuellen Omikron-Welle kommt die allgemeine Impfpflicht zu spät, bietet aber zumindest längerfristig einen gesetzlichen Rahmen für die weitere Pandemiebekämpfung.
Continue reading >>Austria’s Struggle to Respond to Climate Change
Cancelling the planned construction of a highway tunnel beneath a Viennese national park in December 2021, the Green Minister for Climate Action Leonore Gewessler left local politicians outraged. Although the Austrian Constitution provides different links to sustainability and climate change, the Austrian Constitutional Court decided in a landmark case five years ago to interpret the constitutional provisions on climate change in a restrictive manner leading (bottom-up) ambitions to strengthen climate change litigation into a constitutional deadlock. The recent decision of Mrs. Gewessler opens up new (top-down) approaches towards an ecological executive.
Continue reading >>Curing the Symptoms but not the Disease
Traffic violations are not a proportionate justification to effectively deprive a person of her EU citizenship. This may sound obvious but in reality it was not, as the crucial Grand Chamber case of JY decided on January 18 demonstrates. This is a significant yet predictable addition to the edifice of EU citizenship post-Rottmann. Regrettably, the forward-looking judgment is myopic up to the point of an error of judgement as to the fundamental challenges at play in the factual constellation at hand.
Continue reading >>Effective Accountability Mechanisms in Austrian Constitutional Culture
Former Austrian chancellor Sebastian Kurz, who dominated the political arena in the last years, left politics at the begin of December 2021. The strengthening of two constitutional accountability mechanisms strongly contributed to this downfall: First, the competence to establish a parliamentary committee of inquiry without a parliamentary majority, and second, the strengthening of the public prosecutors' independence.
Continue reading >>Auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben
Österreich findet sich also in einem Zustand verdichteter normativer Volatilität, in dem – (wenn auch nicht allzu sehr) zugespitzt – an einen Tag nicht sicher ist, was am nächsten gilt. Das provoziert Unsicherheit. Und es ist rechtsstaatlich problematisch; nicht nur, weil Pressekonferenzen und -mitteilungen erneut an die Stelle des Bundesgesetzblattes treten, wenn es um den Rechtsrahmen geht, der die tägliche Lebensführung der Normunterworfenen bestimmt. Sondern ganz grundlegend.
Continue reading >>Unappetitliches aus Österreich
Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz musste nach neuen Enthüllungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft sein Amt niederlegen. Der Vorgang wirft Fragen und Erklärungsbedarf auf.
Continue reading >>Machtlos an der Regierung
Für die parlamentarische Entwicklung der österreichischen Grünen waren zwei Kernthemen ausschlaggebend: Klimaschutz und Menschenrechte für alle. Seit sie in einer Koalition mit der neuen ÖVP von Sebastian Kurz mitregieren, vermissen politische Beobachter*innen und Teile der grünen Basis das Engagement für eine menschenrechtskonforme Fluchtpolitik. Die mit-regierenden Grünen haben ihre einst profilierte Menschenrechtspolitik aufgegeben – wenn auch aus Koalitionsräson. Diese Macht- und Einflusslosigkeit der Grünen hat aber nicht nur realpolitische Gründe, sondern auch institutionelle bzw. rechtliche. Sie ist das Ergebnis des faktischen Verfassungsumbaus, der in der Ära Kurz in Österreich stattgefunden hat.
Continue reading >>Der Fall Brandstetter und der österreichische Verfassungsgerichtshof
Der Skandal um private Chat-Nachrichten zwischen einem Richter des österreichischen Verfassungsgerichtshofs und einem Sektionschef des Justizministeriums wirft ein Schlaglicht auf ein Problem des Verfassungsgerichtshofs generell: dass seine Mitglieder ihr Amt neben ihrem Beruf ausüben.
Continue reading >>An Austrian Abyss of Cronyism and Corruption
The Kurz government has been involved in a series of scandals, culminating on 12 May with the Chancellor becoming subject of a formal investigation for allegedly providing false testimony before Parliament. In attempts to cover up the governments’ involvement in the various scandals, the rule of law has certainly been challenged in Austria. However, so far, the Austrian Rechtsstaat prevailed.
Continue reading >>Judikative versus Exekutive
Der österreichische Bundespräsident tritt am 6. Mai 2021 vor die Presse und verkündet, „dass etwas eingetreten ist, das es in dieser Form noch nicht gegeben hat“. Sollte wider Erwarten ein Untersuchungsausschuss des österreichischen Parlaments nicht die vollständigen ihm zugesprochenen Informationen bekommen, „werde er seinen verfassungsmäßigen Pflichten entsprechen“ und das verfassungsgerichtliche Urteil exekutieren. Wie konnte es so weit kommen?
Continue reading >>Muddling through Mutation Times or the Return of Federalism in Austria
While the Austrian government´s reactions during the first wave of Covid-19 in spring 2020 are considered to have been successful, disillusionment followed in the fall 2020 with a second wave, for which the government did not seem to have prepared properly. The third period (January to April 2021), on which I will focus in this blog entry, shows a mixed performance of the government.
Continue reading >>Stirb an einem anderen Tag
Am 11. Dezember 2020 hob der österreichische Verfassungsgerichtshof das Verbot der Hilfeleistung zum Suizid als verfassungswidrig auf. Erst wenige Monate zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für nichtig erklärt. Die Entscheidungen bedeuten für beide Staaten signifikante Liberalisierungsschritte. Nun sind die Gesetzgeber gefordert.
Continue reading >>No Benefit of Hindsight
Austria is currently in the midst of a second hard lockdown. This move came after a somewhat carefree summertime that ended rather chaotic. Since then, the government has reacted late, the public was informed at short notice, coordination of the administration was poor and the enacted legislation and enforcement of measures are constitutionally problematic.
Continue reading >>No “Censor for the World”
Will the internet become a “worldwide censorship machine”? Has the “risk that a single EU court within a single EU member state would become the censor for the world” been realized? Not quite. Much of the critique of the recent Austrian Supreme Court ruling Glawischnig-Piesczek/Facebook Ireland Limited is based on a wrong reading of the law and policy behind the judgment.
Continue reading >>Was die Verfassung über uns sagt
Durchweg positive Revuen waren es, die man die letzten Wochen und Monate durch alle österreichischen Formate hindurch aus Anlass des hundertjährigen Bestehens des Bundes-Verfassungsgesetzes lesen durfte. Doch ist eine Verfassung ohnedies nur soviel wert, wie die gelebte Verfassungskultur. Wäre es daher nicht gewinnbringender, aus Anlass des hundertjährigen Bestehens des B-VG über die gelebte Verfassungsrealität zu reflektieren? Denn es ist letztlich diese, die den Zustand einer Gesellschaft widerspiegelt.
Continue reading >>Von der Ausnahme zum Alltäglichen
Das Sicherheitsrecht gilt als ebenso dynamisches wie instabiles Rechtsgebiet. Ein Grund hierfür ist, dass Sicherheitsgesetzgebung häufig anlassbezogen ist und auf Einzelereignisse reagiert. Die Spuren des Terroranschlags in Wien am 2.11.2020 waren kaum beseitigt, da legten sowohl die Österreichische Bundesregierung als auch die Europäische Kommission Entwürfe für neue Anti-Terror-Pakete vor. Beide Pakete sind weitere Bausteine einer Gesetzgebung, die auf konkrete Anlässe mit allgemeinen Gesetzen reagiert und auf diese Weise das Außergewöhnliche verallgemeinert, während das Normale denormalisiert wird.
Continue reading >>Ein Schnellschuss ins rechte Seitenaus
Wenige Tage nach dem Anschlag von Wien am 2. November hat die österreichische Bundesregierung die Leitlinien eines Anti-Terror-Pakets präsentiert. Zwar hätte der Anschlag auch schon mit den derzeitigen juristischen Möglichkeiten zur Überwachung von Gefährder*innen verhindert werden können. Aber ungeachtet dessen sollen im Eilzugstempo (geplant noch im Dezember 2020) rechtliche Verschärfungen beschlossen werden, die massiv in Grund- und Freiheitsrechte eingreifen. Mit einer vernunftgeleiteten Kriminalpolitik, die auch in solchen Zeiten mit Bedacht reagiert und sich nicht vom Boulevard treiben lässt, haben diese Pläne nichts zu tun.
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