Anschubsen oder Wegschubsen: Ein Fall von politischer Fehlsteuerung in der Flüchtlingspolitik
Obwohl deutsche Politiker immer wieder öffentlichkeitswirksam Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg verkünden, sind die Möglichkeiten für Syrer, nach Deutschland zu kommen, um hier Asyl zu beantragen, sehr begrenzt. Soweit Flüchtlinge auf dem Landweg über andere EU-Staaten nach Deutschland kommen, war – jedenfalls bis vor kurzem – das Erstaufnahmeland für sie und ein eventuelles Asylverfahren zuständig. Die Einreise auf dem Luftweg setzt ein Visum für Deutschland voraus, was in der gegebenen Lage faktisch nicht zu erlangen ist.
Angesichts der katastrophalen Lage in Syrien haben alle deutschen Bundesländer – mit der, man möchte fast sagen, „üblichen“ Ausnahme von Bayern – humanitäre Aufnahmeprogramme für syrische Familienangehörige aufgelegt. Dass Prozedere ist denkbar einfach: Bereits in Deutschland lebende Syrer können den Nachzug von Verwandten beantragen, soweit eine Person mit hinreichendem Einkommen sich bereit erklärt, im Bedarfsfall für deren Unterbringungs- und Lebenshaltungskosten aufzukommen. Die Person, die diese so genannte Verpflichtungserklärung abgibt, kann der einladende Syrer selbst oder ein anderer in Deutschland lebender Dritter sein.
Gemeinnützige Vereine wie die „Flüchtlingspaten Syrien“ in Berlin oder „Herberge für Menschen auf der Flucht“ in Hamburg bringen verfolgte Syrer und deutsche Verpflichtungsgeber zusammen und helfen den Flüchtlingen bei der Wohnungs- und Jobsuche. Sie greifen dabei das Gefühl von immer mehr Deutschen auf, dass angesichts der Katastrophe in Syrien mehr getan werden müsste als nur den in Deutschland bereits lebenden Flüchtlingen zu helfen. Die Abgabe von Verpflichtungserklärungen ermöglicht den durch Schutzgelderpressungen in den IS-besetzen Gebieten, Folter durch das Assad-Regime oder Zwangsrekrutierung für die kämpfende Truppen bedrohten Syrern eine Ausreise nach Deutschland – und zwar ohne dass sie ihr Leben auf dem Weg über das Mittelmeer in die Hände von profitorientierten Schleppern legen oder auf dem schwierigen Weg über die Balkanroute korrupte Beamte schmieren müssen.
Der Bund und die Länder haben dabei einen zentralen Hebel in der Hand, mit dem sie entscheiden, ob die Aufnahmeprogramme zum Erfolg werden. Wird die Geltung der geforderten Verpflichtungserklärungen begrenzt, etwa auf den Zeitraum bis zur Anerkennung des Betreffenden als Asylant oder Flüchtling nach Genfer Konvention, dann wird ein gezielter Anreiz gesetzt, solche Verpflichtungserklärungen abzugeben. Das finanzielle Risiko für den Verpflichtungsgeber ist dann überschaubar, weil es nur die Zeit von wenigen Monaten betrifft.
In der politischen Steuerungslehre wird ein solches Setzen von kleinen Anreizen als „Nudging“ – Anschubsen – bezeichnet. Statt immer mehr Aufgaben in staatliche Verantwortung zu übernehmen, zielt der Ansatz des Nudging darauf ab, durch die manchmal minimale Veränderung von Rahmenbedingungen Anreize zu setzen, um Eigenengagement zu fördern. Die Verpflichtungserklärung mit praktisch handhabbarem Risiko bietet Bundesbürgern, die dem Sterben in Syrien und auf dem Mittelmeer nicht mehr tatenlos zusehen wollen, eine Option sich zu engagieren. Sie fördert gleichzeitig die schnelle Integration der Flüchtlinge, indem diese an ein Netzwerk von Personen angebunden werden, die durch privates Engagement Zugang zu Wohnungs- und Arbeitsmarkt vermitteln können.
Aber genau diese interessante Steuerungsidee der Politik droht gerade im Kompetenz- und Finanzstreit zwischen dem Bund und den Ländern zerrieben zu werden. Einige Bundesländer wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein handhaben die Verpflichtungserklärungen so, dass sie mit der offiziellen Anerkennung eines Flüchtlings auslaufen, weil man fürchtet, das bürgerschaftliche Engagement sonst auf Null zu reduzieren. In anderen Bundesländern wie etwa Berlin, Sachsen und Brandenburg werden die Verpflichtungsgeber dagegen zeitlich unbefristet haftbar gemacht. Das Aufnahmeprogramm wird damit faktisch unterlaufen.
Die Bundesregierung baut im Moment Druck auf die Bundesländer auf, die die Verpflichtungserklärungen befristen wollen, weil die sozialen Unterstützungsleistungen überwiegend aus Bundesmitteln erbracht werden müssen. Es ist auffällig, dass auf Grund dieses Drucks besonders die rot-grünen Landesregierungen in Hamburg und Baden-Württemberg auf die Linie der Hardliner in der Flüchtlingspolitik einzuschwenken scheinen und die Verpflichtungserklärer zeitlich unbegrenzt und in der Höhe unbefristet haftbar machen wollen.
Die originelle Idee des Nudging, die hier das erste Mal in der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik ausprobiert wird, droht auf der Arbeitsebene selbst konterkariert zu werden. In einer Phase, in der sich die Situation in Syrien immer weiter verschlimmert und täglich Dutzende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, werden Bürger, die bereit sind, sich für syrische Flüchtlinge zu engagieren, massiv verunsichert. Ein typisches Beispiel von politischer Fehlsteuerung.
Man braucht sich nichts vorzumachen. Wer im Moment mit auch nur halbwegs offene Augen die Nord-Süd-Strecken der deutschen Bahn befährt, kann sehen, wie viele Flüchtlinge dort sitzen, die häufig mit nicht mehr als ihren Kleidern auf dem Leib über die Türkei und den Balkan oder über das Mittelmeer nach Deutschland gelangen. Es ist diese wilde Flucht nach Deutschland, die im Moment die Aufnahmestellen an die Grenzen ihrer Kapazität bringt. Die legale Einreise über die existierenden Aufnahmeprogramme für syrische Flüchtlinge ist derzeit die Alternative, mit der sich die Einreise wenigstens teilweise kanalisieren ließe. Was Bundes- und Landespolitik in der Flüchtlingsfrage wollen, drückt sich nicht in den Sonntagsreden sich betroffen gebender Politiker aus, sondern zeigt sich an kleinen, aber letztlich entscheidenden Fragen wie der Befristung von Verpflichtungserklärungen.
Dieser Artikel ist zuvor in der TAZ erschienen und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Autors.