28 June 2012

Brokkoli für alle! Obamas Gesundheitsreform passiert den Supreme Court

Die gute Nachricht zuerst: Amerika hat nun ein Gesundheitssystem. Der Supreme Court hat, vielen Befürchtungen zum Trotz, den Patient Protection and Affordable Care Act (ACA), Obamas große Gesundheitsreform – und einen der wenigen Meilensteine seiner Präsidentschaft – für verfassungsmäßig erklärt, jedenfalls in seinen wesentlichen Teilen.

Zu entscheiden hatte der Supreme Court zum einen über die Frage, ob die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht, abgesichert durch eine Steuerstrafe, von den enumerierten Bundeskompetenzen umfasst ist. Zur Debatte standen die Kompetenz zur Regulierung des Handels zwischen den Bundesstaaten (Commerce Clause) und die Steuerkompetenz (Taxing Clause); notfalls die Auffangklausel (Necessary and Proper Clause), die integrale Bestandteile eines anderweitig kompetenzgemäßen Gesetzeswerks mitumfassen kann.

Zum anderen ging es darum, ob die Ausweitung des staatlichen Armen-Versicherungsprogramms Medicaid – erst zu 100%, später zu mindestens 90% vom Bund finanziert – verbotenen Zwang auf die Bundesstaaten ausübt. Denn diese können sich zwar entscheiden, diese Ausweitung mitzumachen – tun sie dies aber nicht, würden sie sämtliche Bundesbeteiligung an ihren bisherigen Medicaid-Programmen verlieren.

Die mündliche Verhandlung und die Bedeutung des Gesetzes habe ich im März hier, hier, hier und hier besprochen.

Der Supreme Court hat nun entschieden: Die Versicherungspflicht ist verfassungsmäßig, aber zu ihrem Glück zwingen darf der Bund die Bundesstaaten nicht.

Wer ist nochmal die Mehrheit?

Das Urteil ist ein Brocken, so wie es die mehrtägige mündliche Verhandlung erwarten ließ: 187 Seiten, davon 59 Seiten für die Mehrheitsmeinung, 61 für die teilweise abweichende Meinung, und  65 + 2 Seiten für die Dissente. Ich habe gleich nach den Vorträgen von Susanne Baer und Linda Alcoff den Abend damit verbracht, dieses Monster zumindest in seinen bestimmenden Teilen durchzuarbeiten und für das Verfassungsblog aufzubereiten (man verzeihe mir, wenn sich dieser Eintrag daher etwas trockener liest als die letzten!).

Das Ergebnis: Die Versicherungspflicht ist verfassungsmäßig, die Ausweitung von Medicaid auch – nur die Drohung des Verlusts sämtlicher Bundesförderung ist gefallen.

Chief Justice Roberts hat sich mal wieder auf die Seite der Mehrheit geschlagen, wenngleich er mit weiten Teilen seines Urteils dann doch allein dasteht. Es ist das erste Mal dass er mit den Liberalen in einer 5:4-Entscheidung stimmt, also ohne einen weiteren Konservativen in der Mehrheit. Überhaupt ist gar nicht so leicht herauszufinden, wer eigentlich was sagt:

ROBERTS, C. J., announced the judgment of the Court and delivered the opinion of the Court with respect to Parts I, II, and III–C, in which GINSBURG, BREYER, SOTOMAYOR, and KAGAN, JJ., joined; an opinion with respect to Part IV, in which BREYER and KAGAN, JJ., joined; and an opinion with respect to Parts III–A, III–B, and III–D. GINSBURG, J., filed an opinion concurring in part, concurring in the judgment in part, and dissenting in part, in which SOTOMAYOR, J., joined, and in which BREYER and KAGAN, JJ., joined as to Parts I, II, III, and IV. SCALIA, KENNEDY, THOMAS, and ALITO, JJ., filed a dissenting opinion. THOMAS, J., filed a dissenting opinion.

Alles klar? Also:

Chief Justice Roberts hat die Mehrheitsmeinung geschrieben, allerdings hat er eine Mehrheit zusammen mit den Richterinnen Ginsburg, Sotomayor und Kagan und dem Richter Breyer nur für folgende Teile seines Urteils gefunden:

  • Die Entscheidung des Gerichts wird nicht durch den Anti-Injunction Act gehemmt, bis die erste Steuerstrafe fällig wird, weil der Gesetzgeber sie als penalty, nicht als tax bezeichnet hat.
  • Die Steuerstrafe ist dennoch eine rechtmäßige Ausübung der Taxing Power.
  • Die Medicaid-Ausweitung fällt unter die Spending Clause, ist aber wegen ihres Zwangscharakters für die Bundesstaaten verfassungswidrig, kann aber einfach dadurch gerettet werden, dass die Drohung des Förderungsentzugs abgetrennt aufgehoben wird.

Seine Ausführungen zur Commerce Clause und zur Necessary and Proper Clause tragen Roberts’ Kolleg_innen dagegen nicht mit. Stattdessen befinden sie in einem von Richterin Ginsburg scharf formulierten Sondervotum, dass die Versicherungspflicht auch unter diesen Kompetenztiteln hätte erlassen werden dürfen. Ihrer Ansicht, die Ausweitung von Medicaid sei verfassungsmäßig, schließt sich allerdings nur Sotomayor an; beide stützen jedoch im Ergebnis die Abtrennungslösung von Roberts.

Justice Kennedy, die große Hoffnung der Liberalen, hat sich diesmal auf die Seite der Konservativen geschlagen: Er hat mit Scalia, Thomas und Alito eine abweichende Meinung geschrieben, die es in sich hat.

Richter Thomas hat noch eine hinzugefügt, in der er auf nur zwei Seiten sein „ceterum censeo“ wiederholt: Die Ausweitung der Commerce Clause auf Sachverhalte, die den Handel zwischen den Bundestaaten lediglich beeinflussen, führe genau zu solchen Übersteigerungen der Regelungswut des Bundes wie im Fall des ACA geschehen.

Steuern sind, wenn „Steuern“ draufsteht – oder: Falsa demonstratio non nocet. Der Anti-Injunction Act und die Tax Clause

Justice Alito hatte den Vertreter der Bundesregierung, Solicitor General Donald B. Verrilli, Jr., in der mündlichen Verhandlung aufgezogen:

General Verrilli, today you are arguing that the penalty is not a tax. Tomorrow you are going to be back and you will be arguing that the penalty is a tax.

Tatsächlich hatte Verrilli es mit seinem Argument nicht leicht. Da die Regierung die Entscheidung über die Gesundheitsreform nicht mit in den Wahlkampf nehmen wollte, musste er argumentieren, dass die tax penalty zur Durchsetzung der Versicherungspflicht eine Strafe, keine Steuer sei. Allerdings musste er dann am nächsten Tag der Verhandlung argumentieren, dass diese Strafe eine rechtmäßige Ausübung der Steuergesetzgebungskompetenz sei.

Genauso aber sieht es nun die Mehrheit des Supreme Court. Roberts sieht den wesentlichen Unterschied darin, dass der Anti-Injunction Act ein Gesetz des US Congress ist, während die Verfassung darüber steht. Daher stehe es bei Gesetzen dem Congress frei, durch Wahl der entsprechenden Terminologie eine Regelung durch den Anti-Injunction Act abzusichern oder eben nicht. Bei der Frage, ob ein Gesetz gegen die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung verstoße, könne es dagegen nicht auf die Terminologie ankommen, sondern es müsse eine materielle Prüfung erfolgen.

It is up to Congress whether to apply the Anti-Injunction Act to any particular statute, so it makes sense to be guided by Congress’s choice of label on that question. That choice does not, however, control whether an exaction is within Congress’s constitutional power to tax.

Entscheidend sei, dass die Steuerstrafe wie eine Steuer erhoben werde, und zwar vom Internal Revenue Service, der auch sonstige Steuern erhebt. Steuern hätten praktisch immer eine intendierte Steuerungswirkung, dies spreche nicht gegen die Ausübung der Kompetenz. Ebensowenig sei es ein Gegenargument, dass mit der tax penalty Inaktivität besteuert werde – denn dies sei auch bei Kopfsteuern so, die die Verfassung gerade erlaube. Von einem Kaufzwang könne ebenfalls keine Rede sein – vielmehr werde erwartet, dass 4m Menschen im Jahr lieber die Steuer zahlen als eine Versicherung abschließen werden, denn die Steuer kann niedriger, darf aber nicht höher sein als die Kosten einer Versicherung. Dies Entscheidung stehe ihnen völlig frei, betont Roberts. Anreize zu Käufen aber dürfe der Gesetzgeber durchaus setzen – dies tue er ja auch bei Hauskäufen oder Berufsausbildungen.

Muss es Commerce geben, um ihn regulieren zu dürfen?

Roberts lehnt dagegen – ohne die anderen Mehrheitsvoten – eine Anwendung der Commerce Clause ab. Danach hat der US-Congress die Kompetenz „to regulate Commerce with foreign Nations, and among the several States, and with the Indian Tribes.“ Roberts folgt dabei dem Hauptargument der klägerischen Bundesstaaten: Regulierung setze ein zu Regulierendes als präexistent voraus, während der ACA das zu regulierende – Versicherungskäufe – erst erzeuge. Wenn aber der Kongress nun auch das Nichtstun regulieren dürfe, dann sei die Commerce Power kein begrenzter Kompetenztitel mehr, sondern umfasse praktisch alles:

Every day individuals do not do an infinite number of things.

So könne die Regierung auch ihre Bürger und Bürgerinnen zwingen, Gemüse zu kaufen, um gesund zu bleiben, weil das Nichtverzehren von gesundem Essen zu Übergewicht und damit zu Gesundheitskosten in Höhe von $148 Mrd. pro Jahr führe: „That is not the country the Framers of our Constitution envisioned.“

Freerider statt Nichtstuer

So fröhlich die Verhandlung war: Richterin Ginsburg wird in ihrem abweichenden Votum – unterstützt von Sotomayor, Kagan und Breyer – an mehreren Stellen richtiggehend fuchsig. Schon gleich am Anfang wirft sie Roberts den Fehdehandschuh hin:

This rigid reading of the [Commerce] Clause makes scant sense and is stunningly retrogressive.

Sie gibt ausführlich die Argumente der Regierung wieder, warum die Versicherungspflicht notwendig ist, um einerseits das Freerider-Problem der Nichtversicherten zu lösen und andererseits die Öffnung des Versicherungsmarkts für diejenigen finanziell abzusichern, die wegen Vorerkrankungen oder überhöhten individuellen Prämien keine Versicherung bekommen konnten. Die einzelnen Bundesstaaten könnten dies allein nicht auffangen, weil sie dadurch Pull-Faktoren schaffen würden, die ihr System überlasteten. Gerade das Problem isolierter Handelsregelungen habe es notwendig gemacht, die Commerce Clause einzuführen. Und die sei auf den ACA auch ohne Probleme anwendbar.

Denn die Freerider – die Nichtversicherten, die auf Kosten der Versicherten jährlich ungedeckte Gesundheitsleistungen i.H.v. $42.7 Mrd. in Anspruch nehmen – seien gerade nicht untätig. Ihr Handeln sei, „instead, an economic decision Congress has the authority to address under the Commerce Clause.“ Zudem gingen 60% aller Nichtversicherten in einem laufenden Jahr zum Arzt, 90% im Laufe von fünf Jahren. Wann genau, das sei gerade nicht bekannt, da Krankheiten und Unfälle plötzlich passieren könnten; dann aber müsse man zum Arzt.

The Brokkoli horrible

Dies, so Ginsburg und die anderen, unterscheide den Gesundheitsmarkt vom Autokauf, den Roberts, CJ. anführte, oder vom berüchtigten Brokkoli-Beispiel (Brokkoli ist in den USA ungefähr so beliebt wie in Deutschland Rosenkohl):

Although an individual might buy a car or a crown of broccoli one day, there is no certainty she will ever do so. And if she eventually wants a car or has a craving for broccoli, she will be obliged to pay at the counter before receiving the vehicle or nourishment. She will get no free ride or food, at the expense of another consumer forced to pay an inflated price.

Reguliert werde damit nicht Untätigkeit, sondern die Art der Bezahlung für Gesundheitsleistungen: im Vorhinein statt bei Bedarf, und durch eine Versicherung statt aus der Tasche.

Und nun nimmt Ginsburg es auch mit den konservativen dissenters auf. Diese befürchten, bei solcher Anwendung verwandle sich die Handelsklausel in ein „hideous monster whose devour­ ing jaws . . . spare neither sex nor age, nor high nor low, nor sacred nor profane.“ Zu solcher Sorge bestehe kein Anlass, schon gar nicht im Fall von Brokkoli: Menschen die Brokkoli kaufen müssten, würden ihn deswegen noch lange nicht essen, geschweige denn gesund zubereiten und sonst gesund leben – diese Kausalkette zu unterstellen, wäre das „piling inference upon inference“, wegen dem der Supreme Court im Fall von Waffenverboten (Lopez) und Regelungen zu sexueller Gewalt (Morrison) einen „substanziellen Einfluss auf den zwischenstaatlichen Handel“ abgelehnt hatte. Auch bei der Regulierung von Tätigkeit könne man absurde Beispiele bilden, z.B. dass die Gemüsepflicht auch durch das Verbot des Kaufs von Fleisch, Fisch und Michprodukten eingeführt werden könnte. Solch abwegige Beispiele könnten aber nicht dazu führen, die Kompetenzen des Congress einzugrenzen – und hier wird die Richterin richtig wütend:

THE CHIEF JUSTICE accepts just such specious logic when he cites the broccoli horrible as a reason to deny Congress the power to pass the individual mandate. Cf. R. Bork, The Tempting of America 169 (1990) (“Judges and lawyers live on the slippery slope of analogies; they are not supposed to ski it to the bottom.”). But see, e.g., post, at 3 (joint opinion of SCALIA, KENNEDY, THOMAS, and ALITO, JJ.) (asserting, outlandishly, that if the minimum coverage provision is sustained, then Congress could make “breathing in and out the basis for federal prescription”).

You will know it when you see it: Necessary and Proper

Auch an Roberts’ Ausführungen zur Necessary and Proper Clause lässt sie kein gutes Haar:

If long on rhetoric, THE CHIEF JUSTICE’s argument is short on substance.

Nur zwei Entscheidungen könne er anführen, und im übrigen seien seine Belege „underwhelming“. Seine Erklärung, die Versicherungspflicht sei vielleicht „necessary“ aber nicht „proper“, weil sie das föderale Gefüge aus den Angeln hebe, entbehre jeder Begründung:

In failing to explain why the individual mandate threat­ ens our constitutional order, THE CHIEF JUSTICE disserves future courts. How is a judge to decide, when ruling on the constitutionality of a federal statute, whether Con­ gress employed an “independent power,” ante, at 28, or merely a “derivative” one, ante, at 29. Whether the power used is “substantive,” ante, at 30, or just “incidental,” ante, at 29? The instruction THE CHIEF JUSTICE, in effect, provides lower courts: You will know it when you see it.

Und sie weist ihn auch zurecht, was die Tax Clause angeht – die anzuwenden hat sich Roberts nämlich erst bereit gezeigt, nachdem er die Commerce und die Necessary and Proper Clauses abgelehnt hatte. Es obliege dem Gericht eine Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber, und so sei es verpflichtet, eine (gerade noch) haltbare Auslegung der Verfassungstitel anderen vorzuziehen, wenn dadurch das Gesetz gerettet werden könnte. Verfassungskonforme Auslegung also – warum er dafür seine langen Ausführungen zur Commerce Clause brauchte, will Ginsburg nicht einsehen.

Einem geschenkten Gaul…? Medicaid und der Zwang zum Glück

Schließlich ging es ja auch um die Medicaid-Erweiterung. Medicaid deckt bisher nur bestimmte Gruppen besonders Bedürftiger ab – Über-65jährige, Kinder, Schwangere und bestimmte chronisch Kranke. Der ACA dehnt Medicaid nun auf alle Menschen unter 65 aus, die weniger als 133 % der Armutsgrenze verdienen, also derzeit 14.500 USD Jahreseinkommen oder weniger. Die Bundesstaaten haben schon jetzt die Wahl, Medicaid-Programme einzuführen, doch die finanzielle Beteiligung des Bundes macht dies so attraktiv, dass alle es tun, auf die eine oder andere Weise. Und diesmal macht der Bund das Bittere (der Eigenbeteiligung) sogar besonders süß: Anfänglich übernimmt der 100% der Mehrkosten, später wird dies nach und nach auf 90% abgesenkt werden. Doch diesmal riskieren die Staaten alles, wenn sie nicht mitmachen: Der Bund wird Nichtkooperation damit bestrafen, sämtliche Medicaid-Unterstützung abzuziehen. Für die meisten Staaten bedeutete dies einen Wegfall von etwa 10% ihres Jahresbudgets.

Kompetenztitel ist die Spending Clause: Der Bund darf sein Geld in den Staaten einsetzen, und er darf damit auch ihre Politik steuern – er darf sie aber nicht zwingen. Denn dies, so Chief Justice Roberts, würde das föderalistische System gefährden und damit den höchsten amerikanischen Wert, die Freiheit:

That system “rests on what might at first seem a counterintuitive insight, that ‘freedom is enhanced by the creation of two governments, not one.’” […]. For this reason, “the Constitution has never been understood to confer upon Congress the ability to require the States to govern according to Congress’ instructions.” […] Otherwise the two-government system established by the Framers would give way to a system that vests power in one central government, and individual liberty would suffer.

Medicaid mache einen derart großen Anteil des Budgets aus, dass kein Staat sich diesen Verlust leisten könne; damit aber würden die Staaten zu ihrem Glück gezwungen, statt sich frei entscheiden zu können. Dies stelle verbotenen Zwang dar.

Ginsburg und Sotomayor sehen das anders; doch die Lösung Roberts’ tragen sie mit: Die Lösung liegt darin, dass der U.S. Code, in den der Act sich einfügt, im entsprechenden Abschnitt in §1303 ausdrücklich vorschreibt, dass einzelne nichtige Bestimmungen andere unberührt lassen. Und andere Bestimmungen des ACA sollten nach dem mutmaßlichen Willen des Congress ebenfalls bestehen bleiben.

Save the best for last

So, ich bin müde – die 65 Seiten von Scalia, Kennedy, Thomas und Alito hebe ich mir für morgen auf. Denn wie ich Scalia kenne, wird es wieder einige knallige Formulierungen geben – die „Steuer aufs Atmen“, die Ginsburg zitiert hat, lässt ja hoffen!

Für heute aber ist die Welt gerettet, jedenfalls ein ganz kleines bisschen.

Nora Markard ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich “Staatlichkeit im Wandel” an der Universität Bremen.

Von NORA MARKARD

Die gute Nachricht zuerst: Amerika hat nun ein Gesundheitssystem. Der Supreme Court hat, vielen Befürchtungen zum Trotz, den Patient Protection and Affordable Care Act (ACA), Obamas große Gesundheitsreform – und einen der wenigen Meilensteine seiner Präsidentschaft – für verfassungsmäßig erklärt, jedenfalls in seinen wesentlichen Teilen.

Zu entscheiden hatte der Supreme Court zum einen über die Frage, ob die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht, abgesichert durch eine Steuerstrafe, von den enumerierten Bundeskompetenzen umfasst ist. Zur Debatte standen die Kompetenz zur Regulierung des Handels zwischen den Bundesstaaten (Commerce Clause) und die Steuerkompetenz (Taxing Clause); notfalls die Auffangklausel (Necessary and Proper Clause), die integrale Bestandteile eines anderweitig kompetenzgemäßen Gesetzeswerks mitumfassen kann.

Zum anderen ging es darum, ob die Ausweitung des staatlichen Armen-Versicherungsprogramms Medicaid – erst zu 100%, später zu mindestens 90% vom Bund finanziert – verbotenen Zwang auf die Bundesstaaten ausübt. Denn diese können sich zwar entscheiden, diese Ausweitung mitzumachen – tun sie dies aber nicht, würden sie sämtliche Bundesbeteiligung an ihren bisherigen Medicaid-Programmen verlieren.

Die mündliche Verhandlung und die Bedeutung des Gesetzes habe ich im März hier, hier, hier und hier besprochen.

Der Supreme Court hat nun entschieden: Die Versicherungspflicht ist verfassungsmäßig, aber zu ihrem Glück zwingen darf der Bund die Bundesstaaten nicht.

Wer ist nochmal die Mehrheit?

Das Urteil ist ein Brocken, so wie es die mehrtägige mündliche Verhandlung erwarten ließ: 187 Seiten, davon 59 Seiten für die Mehrheitsmeinung, 61 für die teilweise abweichende Meinung, und  65 + 2 Seiten für die Dissente. Ich habe gleich nach den Vorträgen von Susanne Baer und Linda Alcoff den Abend damit verbracht, dieses Monster zumindest in seinen bestimmenden Teilen durchzuarbeiten und für das Verfassungsblog aufzubereiten (man verzeihe mir, wenn sich dieser Eintrag daher etwas trockener liest als die letzten!).

Das Ergebnis: Die Versicherungspflicht ist verfassungsmäßig, die Ausweitung von Medicaid auch – nur die Drohung des Verlusts sämtlicher Bundesförderung ist gefallen.

Chief Justice Roberts hat sich mal wieder auf die Seite der Mehrheit geschlagen, wenngleich er mit weiten Teilen seines Urteils dann doch allein dasteht. Es ist das erste Mal dass er mit den Liberalen in einer 5:4-Entscheidung stimmt, also ohne einen weiteren Konservativen in der Mehrheit. Überhaupt ist gar nicht so leicht herauszufinden, wer eigentlich was sagt:

ROBERTS, C. J., announced the judgment of the Court and delivered the opinion of the Court with respect to Parts I, II, and III–C, in which GINSBURG, BREYER, SOTOMAYOR, and KAGAN, JJ., joined; an opinion with respect to Part IV, in which BREYER and KAGAN, JJ., joined; and an opinion with respect to Parts III–A, III–B, and III–D. GINSBURG, J., filed an opinion concurring in part, concurring in the judgment in part, and dissenting in part, in which SOTOMAYOR, J., joined, and in which BREYER and KAGAN, JJ., joined as to Parts I, II, III, and IV. SCALIA, KENNEDY, THOMAS, and ALITO, JJ., filed a dissenting opinion. THOMAS, J., filed a dissenting opinion.

Alles klar? Also:

Chief Justice Roberts hat die Mehrheitsmeinung geschrieben, allerdings hat er eine Mehrheit zusammen mit den Richterinnen Ginsburg, Sotomayor und Kagan und dem Richter Breyer nur für folgende Teile seines Urteils gefunden:

  • Die Entscheidung des Gerichts wird nicht durch den Anti-Injunction Act gehemmt, bis die erste Steuerstrafe fällig wird, weil der Gesetzgeber sie als penalty, nicht als tax bezeichnet hat.
  • Die Steuerstrafe ist dennoch eine rechtmäßige Ausübung der Taxing Power.
  • Die Medicaid-Ausweitung fällt unter die Spending Clause, ist aber wegen ihres Zwangscharakters für die Bundesstaaten verfassungswidrig, kann aber einfach dadurch gerettet werden, dass die Drohung des Förderungsentzugs abgetrennt aufgehoben wird.

Seine Ausführungen zur Commerce Clause und zur Necessary and Proper Clause tragen Roberts’ Kolleg_innen dagegen nicht mit. Stattdessen befinden sie in einem von Richterin Ginsburg scharf formulierten Sondervotum, dass die Versicherungspflicht auch unter diesen Kompetenztiteln hätte erlassen werden dürfen. Ihrer Ansicht, die Ausweitung von Medicaid sei verfassungsmäßig, schließt sich allerdings nur Sotomayor an; beide stützen jedoch im Ergebnis die Abtrennungslösung von Roberts.

Justice Kennedy, die große Hoffnung der Liberalen, hat sich diesmal auf die Seite der Konservativen geschlagen: Er hat mit Scalia, Thomas und Alito eine abweichende Meinung geschrieben, die es in sich hat.

Richter Thomas hat noch eine hinzugefügt, in der er auf nur zwei Seiten sein „ceterum censeo“ wiederholt: Die Ausweitung der Commerce Clause auf Sachverhalte, die den Handel zwischen den Bundestaaten lediglich beeinflussen, führe genau zu solchen Übersteigerungen der Regelungswut des Bundes wie im Fall des ACA geschehen.

Steuern sind, wenn „Steuern“ draufsteht – oder: Falsa demonstratio non nocet. Der Anti-Injunction Act und die Tax Clause

Justice Alito hatte den Vertreter der Bundesregierung, Solicitor General Donald B. Verrilli, Jr., in der mündlichen Verhandlung aufgezogen:

General Verrilli, today you are arguing that the penalty is not a tax. Tomorrow you are going to be back and you will be arguing that the penalty is a tax.

Tatsächlich hatte Verrilli es mit seinem Argument nicht leicht. Da die Regierung die Entscheidung über die Gesundheitsreform nicht mit in den Wahlkampf nehmen wollte, musste er argumentieren, dass die tax penalty zur Durchsetzung der Versicherungspflicht eine Strafe, keine Steuer sei. Allerdings musste er dann am nächsten Tag der Verhandlung argumentieren, dass diese Strafe eine rechtmäßige Ausübung der Steuergesetzgebungskompetenz sei.

Genauso aber sieht es nun die Mehrheit des Supreme Court. Roberts sieht den wesentlichen Unterschied darin, dass der Anti-Injunction Act ein Gesetz des US Congress ist, während die Verfassung darüber steht. Daher stehe es bei Gesetzen dem Congress frei, durch Wahl der entsprechenden Terminologie eine Regelung durch den Anti-Injunction Act abzusichern oder eben nicht. Bei der Frage, ob ein Gesetz gegen die verfassungsrechtliche Kompetenzordnung verstoße, könne es dagegen nicht auf die Terminologie ankommen, sondern es müsse eine materielle Prüfung erfolgen.

It is up to Congress whether to apply the Anti-Injunction Act to any particular statute, so it makes sense to be guided by Congress’s choice of label on that question. That choice does not, however, control whether an exaction is within Congress’s constitutional power to tax.

Entscheidend sei, dass die Steuerstrafe wie eine Steuer erhoben werde, und zwar vom Internal Revenue Service, der auch sonstige Steuern erhebt. Steuern hätten praktisch immer eine intendierte Steuerungswirkung, dies spreche nicht gegen die Ausübung der Kompetenz. Ebensowenig sei es ein Gegenargument, dass mit der tax penalty Inaktivität besteuert werde – denn dies sei auch bei Kopfsteuern so, die die Verfassung gerade erlaube. Von einem Kaufzwang könne ebenfalls keine Rede sein – vielmehr werde erwartet, dass 4m Menschen im Jahr lieber die Steuer zahlen als eine Versicherung abschließen werden, denn die Steuer kann niedriger, darf aber nicht höher sein als die Kosten einer Versicherung. Dies Entscheidung stehe ihnen völlig frei, betont Roberts. Anreize zu Käufen aber dürfe der Gesetzgeber durchaus setzen – dies tue er ja auch bei Hauskäufen oder Berufsausbildungen.

Muss es Commerce geben, um ihn regulieren zu dürfen?

Roberts lehnt dagegen – ohne die anderen Mehrheitsvoten – eine Anwendung der Commerce Clause ab. Danach hat der US-Congress die Kompetenz „to regulate Commerce with foreign Nations, and among the several States, and with the Indian Tribes.“ Roberts folgt dabei dem Hauptargument der klägerischen Bundesstaaten: Regulierung setze ein zu Regulierendes als präexistent voraus, während der ACA das zu regulierende – Versicherungskäufe – erst erzeuge. Wenn aber der Kongress nun auch das Nichtstun regulieren dürfe, dann sei die Commerce Power kein begrenzter Kompetenztitel mehr, sondern umfasse praktisch alles:

Every day individuals do not do an infinite number of things.

So könne die Regierung auch ihre Bürger und Bürgerinnen zwingen, Gemüse zu kaufen, um gesund zu bleiben, weil das Nichtverzehren von gesundem Essen zu Übergewicht und damit zu Gesundheitskosten in Höhe von $148 Mrd. pro Jahr führe: „That is not the country the Framers of our Constitution envisioned.“

Freerider statt Nichtstuer

So fröhlich die Verhandlung war: Richterin Ginsburg wird in ihrem abweichenden Votum – unterstützt von Sotomayor, Kagan und Breyer – an mehreren Stellen richtiggehend fuchsig. Schon gleich am Anfang wirft sie Roberts den Fehdehandschuh hin:

This rigid reading of the [Commerce] Clause makes scant sense and is stunningly retrogressive.

Sie gibt ausführlich die Argumente der Regierung wieder, warum die Versicherungspflicht notwendig ist, um einerseits das Freerider-Problem der Nichtversicherten zu lösen und andererseits die Öffnung des Versicherungsmarkts für diejenigen finanziell abzusichern, die wegen Vorerkrankungen oder überhöhten individuellen Prämien keine Versicherung bekommen konnten. Die einzelnen Bundesstaaten könnten dies allein nicht auffangen, weil sie dadurch Pull-Faktoren schaffen würden, die ihr System überlasteten. Gerade das Problem isolierter Handelsregelungen habe es notwendig gemacht, die Commerce Clause einzuführen. Und die sei auf den ACA auch ohne Probleme anwendbar.

Denn die Freerider – die Nichtversicherten, die auf Kosten der Versicherten jährlich ungedeckte Gesundheitsleistungen i.H.v. $42.7 Mrd. in Anspruch nehmen – seien gerade nicht untätig. Ihr Handeln sei, „instead, an economic decision Congress has the authority to address under the Commerce Clause.“ Zudem gingen 60% aller Nichtversicherten in einem laufenden Jahr zum Arzt, 90% im Laufe von fünf Jahren. Wann genau, das sei gerade nicht bekannt, da Krankheiten und Unfälle plötzlich passieren könnten; dann aber müsse man zum Arzt.

The Brokkoli horrible

Dies, so Ginsburg und die anderen, unterscheide den Gesundheitsmarkt vom Autokauf, den Roberts, CJ. anführte, oder vom berüchtigten Brokkoli-Beispiel (Brokkoli ist in den USA ungefähr so beliebt wie in Deutschland Rosenkohl):

Although an individual might buy a car or a crown of broccoli one day, there is no certainty she will ever do so. And if she eventually wants a car or has a craving for broccoli, she will be obliged to pay at the counter before receiving the vehicle or nourishment. She will get no free ride or food, at the expense of another consumer forced to pay an inflated price.

Reguliert werde damit nicht Untätigkeit, sondern die Art der Bezahlung für Gesundheitsleistungen: im Vorhinein statt bei Bedarf, und durch eine Versicherung statt aus der Tasche.

Und nun nimmt Ginsburg es auch mit den konservativen dissenters auf. Diese befürchten, bei solcher Anwendung verwandle sich die Handelsklausel in ein „hideous monster whose devour­ ing jaws . . . spare neither sex nor age, nor high nor low, nor sacred nor profane.“ Zu solcher Sorge bestehe kein Anlass, schon gar nicht im Fall von Brokkoli: Menschen die Brokkoli kaufen müssten, würden ihn deswegen noch lange nicht essen, geschweige denn gesund zubereiten und sonst gesund leben – diese Kausalkette zu unterstellen, wäre das „piling inference upon inference“, wegen dem der Supreme Court im Fall von Waffenverboten (Lopez) und Regelungen zu sexueller Gewalt (Morrison) einen „substanziellen Einfluss auf den zwischenstaatlichen Handel“ abgelehnt hatte. Auch bei der Regulierung von Tätigkeit könne man absurde Beispiele bilden, z.B. dass die Gemüsepflicht auch durch das Verbot des Kaufs von Fleisch, Fisch und Michprodukten eingeführt werden könnte. Solch abwegige Beispiele könnten aber nicht dazu führen, die Kompetenzen des Congress einzugrenzen – und hier wird die Richterin richtig wütend:

THE CHIEF JUSTICE accepts just such specious logic when he cites the broccoli horrible as a reason to deny Congress the power to pass the individual mandate. Cf. R. Bork, The Tempting of America 169 (1990) (“Judges and lawyers live on the slippery slope of analogies; they are not supposed to ski it to the bottom.”). But see, e.g., post, at 3 (joint opinion of SCALIA, KENNEDY, THOMAS, and ALITO, JJ.) (asserting, outlandishly, that if the minimum coverage provision is sustained, then Congress could make “breathing in and out the basis for federal prescription”).

You will know it when you see it: Necessary and Proper

Auch an Roberts’ Ausführungen zur Necessary and Proper Clause lässt sie kein gutes Haar:

If long on rhetoric, THE CHIEF JUSTICE’s argument is short on substance.

Nur zwei Entscheidungen könne er anführen, und im übrigen seien seine Belege „underwhelming“. Seine Erklärung, die Versicherungspflicht sei vielleicht „necessary“ aber nicht „proper“, weil sie das föderale Gefüge aus den Angeln hebe, entbehre jeder Begründung:

In failing to explain why the individual mandate threat­ ens our constitutional order, THE CHIEF JUSTICE disserves future courts. How is a judge to decide, when ruling on the constitutionality of a federal statute, whether Con­ gress employed an “independent power,” ante, at 28, or merely a “derivative” one, ante, at 29. Whether the power used is “substantive,” ante, at 30, or just “incidental,” ante, at 29? The instruction THE CHIEF JUSTICE, in effect, provides lower courts: You will know it when you see it.

Und sie weist ihn auch zurecht, was die Tax Clause angeht – die anzuwenden hat sich Roberts nämlich erst bereit gezeigt, nachdem er die Commerce und die Necessary and Proper Clauses abgelehnt hatte. Es obliege dem Gericht eine Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber, und so sei es verpflichtet, eine (gerade noch) haltbare Auslegung der Verfassungstitel anderen vorzuziehen, wenn dadurch das Gesetz gerettet werden könnte. Verfassungskonforme Auslegung also – warum er dafür seine langen Ausführungen zur Commerce Clause brauchte, will Ginsburg nicht einsehen.

Einem geschenkten Gaul…? Medicaid und der Zwang zum Glück

Schließlich ging es ja auch um die Medicaid-Erweiterung. Medicaid deckt bisher nur bestimmte Gruppen besonders Bedürftiger ab – Über-65jährige, Kinder, Schwangere und bestimmte chronisch Kranke. Der ACA dehnt Medicaid nun auf alle Menschen unter 65 aus, die weniger als 133 % der Armutsgrenze verdienen, also derzeit 14.500 USD Jahreseinkommen oder weniger. Die Bundesstaaten haben schon jetzt die Wahl, Medicaid-Programme einzuführen, doch die finanzielle Beteiligung des Bundes macht dies so attraktiv, dass alle es tun, auf die eine oder andere Weise. Und diesmal macht der Bund das Bittere (der Eigenbeteiligung) sogar besonders süß: Anfänglich übernimmt der 100% der Mehrkosten, später wird dies nach und nach auf 90% abgesenkt werden. Doch diesmal riskieren die Staaten alles, wenn sie nicht mitmachen: Der Bund wird Nichtkooperation damit bestrafen, sämtliche Medicaid-Unterstützung abzuziehen. Für die meisten Staaten bedeutete dies einen Wegfall von etwa 10% ihres Jahresbudgets.

Kompetenztitel ist die Spending Clause: Der Bund darf sein Geld in den Staaten einsetzen, und er darf damit auch ihre Politik steuern – er darf sie aber nicht zwingen. Denn dies, so Chief Justice Roberts, würde das föderalistische System gefährden und damit den höchsten amerikanischen Wert, die Freiheit:

That system “rests on what might at first seem a counterintuitive insight, that ‘freedom is enhanced by the creation of two governments, not one.’” […]. For this reason, “the Constitution has never been understood to confer upon Congress the ability to require the States to govern according to Congress’ instructions.” […] Otherwise the two-government system established by the Framers would give way to a system that vests power in one central government, and individual liberty would suffer.

Medicaid mache einen derart großen Anteil des Budgets aus, dass kein Staat sich diesen Verlust leisten könne; damit aber würden die Staaten zu ihrem Glück gezwungen, statt sich frei entscheiden zu können. Dies stelle verbotenen Zwang dar.

Ginsburg und Sotomayor sehen das anders; doch die Lösung Roberts’ tragen sie mit: Die Lösung liegt darin, dass der U.S. Code, in den der Act sich einfügt, im entsprechenden Abschnitt in §1303 ausdrücklich vorschreibt, dass einzelne nichtige Bestimmungen andere unberührt lassen. Und andere Bestimmungen des ACA sollten nach dem mutmaßlichen Willen des Congress ebenfalls bestehen bleiben.

Save the best for last

So, ich bin müde – die 65 Seiten von Scalia, Kennedy, Thomas und Alito hebe ich mir für morgen auf. Denn wie ich Scalia kenne, wird es wieder einige knallige Formulierungen geben – die „Steuer aufs Atmen“, die Ginsburg zitiert hat, lässt ja hoffen!

Für heute aber ist die Welt gerettet, jedenfalls ein ganz kleines bisschen.

Nora Markard ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich “Staatlichkeit im Wandel” an der Universität Bremen.


SUGGESTED CITATION  Markard, Nora: Brokkoli für alle! Obamas Gesundheitsreform passiert den Supreme Court, VerfBlog, 2012/6/28, https://verfassungsblog.de/brokkoli-fr-alle-obamas-gesundheitsreform-passiert-den-supreme-court/, DOI: 10.17176/20181005-184936-0.

7 Comments

  1. Obiter Dictum Sat 30 Jun 2012 at 18:02 - Reply

    Ich kann die Freude über diese Entscheidung nicht teilen. Ob das Ergebnis aus sozialpolitischen Erwägungen zu billigen ist, weiß ich nicht; aber die Begründung finde ich teilweise schon sehr gewöhnungsbedürftig. Natürlich sehe ich das alles mit meiner europäischen Brille.

    Verstehe ich das richtig, dass laut der Mehrheit der Gesetzgeber frei bestimmen kann, ob eine dem Bürger auferlegte Zahlung eine Steuer oder eine Strafe sei, es aber in kompetenzrechtlicher Hinsicht schon von Bedeutung sei, ob materiell eine Steuer oder Strafe vorliege? Könnte das dann nicht dazu führen, dass eine Zahlung kompetenzrechtlich (materiell) eine Strafe ist, sie der Gesetzgeber aber formell als Steuer deklariert oder umgekehrt? Ist so etwas verfassungsrechtlich (Rechtsstaats-, Sachlichkeitsgebot) wirklich völlig unbedenklich?
    Hoffentlich macht so etwas hierzulande nicht Schule: Man lässt eine materielle Geldstrafe, die formell als Steuer travestiert wird, dann einfach vom Finanzamt einheben – und Vater Staat spart sich auf diesem kalten Wege den ganzen Krempel von wegen Art. 6 EMRK.

    Und ist es beim Hauskäufer oder dem Azubi nicht vielmehr so, dass der Staat dessen Ausgaben subventioniert, also den Kaufanreiz positiv verstärkt, aber er gerade nicht die Kauf- bzw. Ausbildungsabstinenz durch eine Strafe … pardon … Steuer sanktioniert? Könnte der Kongress dann also auch Jugendliche, die eine Ausbildung nicht absolvieren, zur Kasse bitten?

  2. Katja Sat 30 Jun 2012 at 20:26 - Reply

    Fuer die Entscheidung, ob etwas eine Steuer oder Geldstrafe ist, ist generell allein die materiellrechtliche Wirkung bestimmend. Der amerikanische Gesetzgeber braucht keine “magic words” (“this is a tax”) in den Wortlaut des Gesetzes aufzunehmen, um seine Taxing Power zu nutzen (und umgekehrt kann er sich auch durch kreative Formulierungen nicht einer verfassungsrechtlichen Klassifizierung als Steuer entziehen, z.B. wenn es eigentlich materiellrechtlich eine Enteignung ist).

    Das liegt daran, wie Roberts auch erklaert, dass der Kongress durch geeignete Wortwahl sich nicht der Bindung an die Verfassung entledigen kann (anders beim Tax Anti-Injunction Act, der nur einfachrechtliches Gesetz ist). Fuer die verfassungsrechtliche Pruefung ist wesentlich, was das Gesetz tut, nicht was es vorgibt zu tun.

    Wesentlich fuer die Entscheidung war uebrigens nicht nur die Erhebung der Abgabe durch den IRS, sondern die Summe ihrer Charakteristiken (z.B. auch die Berechnung). In anderen Worten: if it walks like a tax, quacks like a tax, swims like a tax, and looks like a tax, it probably is a tax.

    Die Wortwahl ist insofern in Amerika relevant, als sich da niemand gerne im Wahlkampf als Steuererhoeher beschimpfen lassen will. Insofern wird das Wort Steuer (und auch sonstige “sozialistische” Terminologie) in Gesetzestexten gerne soweit wie moeglich vermieden.

    Was die Besteuerung von Jugendlichen ohne Ausbildung anbelangt, eine Steuer ist auch eine “deprivation of property” und unterliegt daher generell einem “(substantive) due process review” nach dem 5th and 14th Amendment. Im Deutschen waere das im Endergebnis vermutlich ungefaehr mit einer unverhaeltnismaessigen Grundrechtseinschraenkung (freie Berufswahl) vergleichbar, auch wenn die verfassungsrechtliche Konstruktion natuerlich ganz anders ist.

    Zur generellen Interpretation des Mandats als Steuer empfehle ich die Aufsaetze von Brian Galle im Yale Law Journal [1] und von Jack Balkin im New England Journal of Medicine [2].

    [1] http://yalelawjournal.org/the-yale-law-journal-pocket-part/tax-law/the-taxing-power,-the-affordable-care-act,-and-the-limits-of-constitutional-compromise/
    [2] http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp1000087

  3. Nora Markard Sat 30 Jun 2012 at 22:55 - Reply

    Das hätte ich auch nicht besser formulieren können – Katja hat genau recht, es geht eben nicht darum wie man etwas nennt sondern ob es de facto nach verfassungsrechtlichen Maßstäben kompetenzgemäß ist. Falsa demonstratio non nocet, eben.

    Obama hatte versprochen die Steuern nicht zu erhöhen und wollte daher auf kenen Fall, dass seine Gesundheitsreform als Steuererhöhung daherkommt. Und tatsächlich ist die “penalty” ja niemals höher als die Versicherungsleistung selbst (manchmal sogar deutlich niedriger, erwartet werden daher etwa $ 4Mrd. Steuereinnahmen von Menschen für die es sich eher lohnt das Bußgeld zu bezahlen), so dass er sich zugute halten kann, dass wirklich nur Gesundheitsleistungen finanziert werden.

  4. Obiter Dictum Sun 1 Jul 2012 at 11:41 - Reply

    Ich danke für die Ausführungen, bin damit aber noch nicht ganz zufrieden. Da es kompetenzrechtlich auf die materielle Natur einer Pflichtzahlung ankommt, könnte der Kongress also eine Pflichtzahlung wie eine Steuer schwimmen, quaken und watscheln lassen und damit seine Zuständigkeit nach der tax clause nutzen. Hier gilt: Falsa demonstratio non nocet. Also wenn er die Ente Gans nennt, bleibt sie dennoch eine Ente.
    Bezüglich des Tax Anti-Injunction Act kommt es jedoch gerade auf das Etikett an, das der Kongress der Pflichtzahlung gibt. Hier gilt also: Steuer ist, wenn “Steuer” draufsteht. Was auf kompetenzrechtlicher Ebene noch ungeachtet seiner Bezeichnung eine Ente war, kann der Gesetzgeber durch die Bezeichnung als Gans zur einfachgesetzlichen Gans machen.
    Man ermöglicht dem Präsidenten bzw. dem Kongress dadurch also eine protestatio facto contraria, um ein Wahlversprechen nicht brechen zu müssen. Angesichts einer solchen Rosinenpickerei rechtsstaatliche Bedenken zu hegen liegt nicht allzu fern.

    Können diejenigen, die keine Versicherung abschließen und deshalb Strafe zahlen müssen, weiterhin Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch nehmen, ohne diese separat bezahlen zu müssen? Wenn ja, wäre es dann für einen wirtschaftlich denkenden Menschen nicht sinnvoll, versicherungsfrei zu bleiben und die im Vergleich zur Versicherung kostengünstigere Strafe zu bezahlen? Mit anderen Worten: Wird dadurch der Zweck des Gesetzes, nämlich möglichst alle Bürger zum Abschluss einer Krankenversicherung zu bewegen, nicht verfehlt?

    Und wenn die Versicherungsverweigerer keinen Anspruch auf Gesundheitsdienstleistungen haben: Ist dann der Charakter der Zahlung als Strafe nicht evident?

  5. Nora Markard Sun 1 Jul 2012 at 17:26 - Reply

    Obiter, Du hast es klar erkannt, was Deine zweite Frage betrifft.

    Allerdings ist der Anti-Injunction Act ein Gesetz zum Schutz des Staates, indem er verhindert, dass man durch Klage die Steuerzahlung jahrelang aufschieben kann. Es heißt daher: pay first, litigate later. Wenn man Recht bekommt, gibt es die gezahlte Steuer zurück. Es macht also durchaus Sinn dass der Staat darauf verzichten kann, weil es ja Vorschriften allein zu seinem Schutz sind – anders wäre es sicherlich, wenn dadurch Bürgerrechte ausgehebelt würden. Dieser Frage widmete sich auch ein Teil der mündlichen Verhandlung (ich berichtete), nämlich ob, falls es sich um eine Steuer im Sinne des AIA handelt, dies ein absolutes oder ein verzichtbares Prozesshindernis darstellt. Für letzteres gibt es bereits Präzedenzfälle, aber wenig ausdrückliches.

    Zu Deiner zweiten Frage: Ja, es steht den Menschen tatsächlich frei, den Steuertatbestand dadurch zu erzeugen dass sie ihrer Versicherungspflicht nicht nachkommen. Wenn sie dann die Steuer bezahlen, haben sie sich rechtmäßig verhalten. Für viele wird das tatsächlich attraktiver sein. Zweckgemäß ist diese Regelung trotzdem: Denn sie ist in vielen Fällen ein Anreiz zur Statusverbesserung ohne massive Mehrkosten, sie finanziert andernfalls das Freerider-Problem, und nicht zuletzt ist dies auch der Ausweg aus der verhassten Kontrahierungspflicht.

    Ich finde das ganz elegant, muss ich sagen.

  6. Obiter Dictum Sun 1 Jul 2012 at 18:28 - Reply

    Aber der Kongress hat offenbar die Wahlfreiheit, ob er eine Zahlung dem AIA unterstellt. Vorliegend hat er entschieden: Keine Steuer, um Obama nicht als wortbrüchig dastehen zu lassen. In einem anderen Fall wendet der Kongress auf eine materielle Steuer hingegen den AIA an. Haben wir da nicht ein Problem mit dem Gleichheitssatz? Ich finde, da riecht es gewaltig nach unsachlicher Differenzierung zwischen gleichen Sachverhalten.

    Und zur Regelung “Wer nicht kontrahiert, wird besteuert, zahlt aber jedenfalls nicht mehr als der Versicherte”: Ist das nicht auch gleichheitswidrig? Derjenige, der seiner Primärpflicht (Versicherungsvertragsabschluss) nachkommt, zahlt u.U. mehr als derjenige, der diese Pflicht nicht erfüllt? Ist da nicht – um zu vereinfachen – der Ehrliche der Dumme? Wäre es nicht geboten, sich den Umweg über die Versicherungspflicht zu sparen und Gesundheitsdienstleistungen generell über die (von allen zu entrichtende) Steuer zu finanzieren, auch wenn das Obama das Penalty-Feigenblatt kostet?

    Offen gestanden: Die Entscheidung des SCOTUS wird mir immer unheimlicher.

  7. Katja Mon 2 Jul 2012 at 01:51 - Reply

    Wenn du keine Versicherung abschliesst, dann hast du immer noch das Problem, dass zwischen Versicherungsabschluss und Leistungen aus dem Versicherungsvertrag bis zu 90 Tage liegen koennen. Das heisst, ohne Versicherung gehst du das Risiko ein, dass du bei einem Unfall einen fuenf- bis sechsstelligen Betrag bezahlen darfst (die Emergency Rooms sind verpflichtet, jeden Amerikaner unabhaengig von Versicherung zu versorgen).

    Was den Gleichheitsgrundsatz anbelangt, so gibt es den aequivalent im amerikanischen Recht nicht. Sogenannte strict oder intermediate scrutiny wird nur bei potentiell grundrechtsgefaehrdenden Gesetzen angewandt, insbesondere wenn nach ethnischem Hintergrund oder Geschlecht unterschieden wird. Ansonsten reicht im allgemeinen ein rational basis review, was im Prinzip nicht viel mehr heisst, als dass ein Gesetz nicht sinnlos ist. Dem Gesetzgeber wird da viel Freiraum gelassen.

    Und ja, ein single payer System war definitiv politisch nicht machbar. Das liegt nicht am Supreme Court, sondern am Filibuster im US Senat. Das ist in der Praxis so, als ob jedes Bundesgesetz in Deutschland eine 3/5tel-Mehrheit brauchen wuerde.

    Obama hatte ja nicht mal die Mehrheit, um die sogenannte “public option” durchzusetzen (wo eine oeffentliche Versicherung geschaffen worden waere, die im Wettbewerb mit den Privaten gestanden haette).

    Der PPACA ist ein ganz klassisches Beispiel von Politik als Kunst des Moeglichen.

    Und ja, manchmal finde ich es auch frustrierend, dass manche meiner Landsleute das mit dem TANSTAAFL nicht so zu kapieren scheinen und einen kompletten Sozialstaat, aber bitteschoen ohne Steuern oder Regierungseinwirkung haben wollen. Deprimierendes Zitat von einem Tea-Party-Anhaenger: “Keep your government hands off my Medicare.”

    Das liegt zugegeben auch an den Missinformationskampagnen der Konservativen. So sagte z.B. Betsy McCaughey, frühere stellvertretende Gouverneurin von New York, dass das Gesetz “would make it mandatory — absolutely require — that every five years people in Medicare have a required counseling session that will tell them how to end their life sooner”.

    Sarah Palin sagte, dass Senioren und Behinderte “will have to stand in front of Obama’s ‘death panel’ so his bureaucrats can decide, based on a subjective judgment of their ‘level of productivity in society,’ whether they are worthy of health care”.

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