“Cameron hat völlig Recht. Wir müssen über Rückbau reden.”
Herr Isensee, Herr Hillgruber, Sie stehen beide in der Tradition des klassischen deutschen Staatsrechts, das der politischen, protoföderalen Seite der europäischen Integration gewöhnlich eher wenig abgewinnen kann. Aus Ihrer Bonner Perspektive – wenn Sie an Europa 2023 denken, wie gefällt Ihnen, was Sie da sehen?
Isensee: Als Staatsrechtslehrer fällt es mir schwer, den Propheten zu spielen. Ich gehöre auch nicht zu denen, die immer auf Seiten der kommenden Dinge stehen, sondern stehe zunächst einmal auf der des geltenden Rechts. Aber wenn man die jetzige Krise betrachtet, fällt auf, was verschont bleibt von ihr, was nicht in Frage gestellt ist. Und das ist der gemeinsame Binnenmarkt. Den hat auch der britische Premier Cameron in seiner großen Unterhausrede nicht abschaffen wollen. Er ist der harte, konsensfeste Kern der europäischen Union und das Magnetzentrum, das andere Länder anzieht. Dieser Kern wird auf jeden Fall überdauern. Er ist so evident vernünftig, so evident vital, dass auf diesem Fundament die Zukunft sich entfalten wird.
Hillgruber: So sehe ich das auch. Den harten Kern des Binnenmarktes und ein Set von darüber hinausgehenden Zuständigkeiten auf europäischer Ebene wird es auch in Zukunft geben, einen weiteren substanziellen Ausbau allerdings kaum. Eher sollte man, wie die Briten es fordern, Kompetenzen auf die Mitgliedsstaaten zurückverlagern, vor allem, wenn weitere Kompetenzen auf die europäische Ebene verlagert werden sollen. Das wäre ein Stück vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Bürgern, zu zeigen, dass Kompetenzverlagerung nicht immer nur in einer Richtung stattfindet. Ich bin deshalb auch sehr unglücklich über die rigide Pauschalität, mit der die Überlegungen der britischen Regierung zurückgewiesen wird.
Isensee: Cameron hat völlig Recht. Wir müssen über einen Rückbau der Zuständigkeiten reden. Das Subsidiaritätsprinzip dient in der Praxis immer nur dazu, mehr Zuständigkeiten zu fordern und gemeinsame Lösungen als bessere Lösungen zu propagieren. Es dient auch der Beruhigung, dass alles geprüft wird, ob es dem Subsidiaritätsprinzip standhält, aber diese Prüfung findet gar nicht statt. Wir haben stattdessen eine kaninchenhafte Fruchtbarkeit des europäischen Normgebers, der tagtäglich mehr Normen produziert als auch der fleißigste und rezeptionsfreudigste Europajurist verarbeiten kann. Herr Hillgruber hat mal gesagt, dass die Formel im Lissabon-Vertrag von der „immer engeren Union“ bei manchen den Reflex auslöst, sich an den Hals zu greifen: Das klingt wie ein Würgegriff.
Wird denn dieses Projekt einer immer engeren Union im Jahr 2023 noch lebendig sein?
Isensee: Ich glaube nicht, dass das Projekt vollständig scheitert, aber die Kurve wird sich abflachen. Für ihre Stabilität spricht, dass die politische Union, um sich fortzuentwickeln, nicht einmal mehr Erfolge braucht. Der große Misserfolg der Währungsunion, der Pfusch am Bau, der Umschlag des Selbstverständnisses der EU in einen Raum der Überreglementierung, der Verängstigung und Rechtsaufweichung schadet merkwürdigerweise der Integrationskraft nicht. Jetzt ist es die Krise, die einen weiteren Ausbau hervorbringt. Es ist ein Zeichen der Vitalität der Integration, dass sie selbst aus ihren Fehlern noch Kraft schöpft.
Hillgruber: Das schlichte Credo lautet immer: Mehr Europa ist die Antwort auf jede Krise. Das wird so nicht weitergehen. Es muss deutlich werden, dass jede Weiterentwicklung nicht einfach irgendeiner Sachlogik folgt, sondern aus einer demokratischen Willensentscheidung hervorgehen muss, die so oder anders ausfallen kann. Angesichts der Zurückhaltung in den nationalen Gesellschaften Europas würde ich vermuten, dass hier der Zug eher etwas langsamer fährt. Aber es wird auch keinen vollständigen Stopp oder gar eine Entgleisung geben.
Isensee: Es gibt aber noch einen weiteren Punkt. Es hat sich in der Eurokrise erstmals so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit herausgebildet. Das Problem, wie man mit Griechenland und den Schulden der Mittelmeerstaaten umgeht und welche Rettungsschirme man entwickelt, ist ein Thema für alle geworden, von Athen bis Berlin und Stockholm. Das ist neu. Das ist in der Tat ein Ansatz, dass sich, wenn schon nicht ein europäisches Volk, so doch eine europäische Gesellschaft etabliert. Mit anderen Worten: So ganz schlecht ist es um die Zukunft der EU nicht bestellt.
Sie erstaunen mich. Dass sich gegenwärtig die europäischen Völker ums Geld streiten wie die Kesselflicker, werten Sie als positiven Schritt im Sinne einer politischen Integration Europas?
Isensee: Öffentlichkeit heißt nicht Einheit, sondern dass um gemeinsame Themen miteinander gestritten wird. Und das passiert jetzt in Europa erstmals. In den Ruinen der Währungsunion keimt neues Leben. Man denkt jetzt nüchterner als in den 50er Jahren, die Emphase ist Sorge und Skepsis gewichen. Im Streit finden die europäischen Gesellschaften jetzt erstmals zusammen. Es ist paradox, aber auch Fehler können integrierend wirken.
Was wäre denn die politische Dimension einer solchen europäischen Öffentlichkeit?
Isensee: Das Europäische Parlament, bisher ein Parlament ohne Volk, könnte von unten her Resonanz bekommen. In den letzten 20 Jahren war Europa ein Thema der politischen Klasse, der Berufseuropäer. Das ändert sich jetzt.
Also ein in Euroskeptizismus vereintes Europa?
Isensee: Europa ist jetzt ein Thema der Bürger. Eins der Sorge und des Widerspruchs, aber das ist eben das Thema, das sie jetzt zusammenführt.
Sehen Sie das auch so, Herr Hillgruber?
Hillgruber: Nicht ganz. Sicher, die Krise und die Rettungsmaßnahmen stehen in ganz Europa auf der Tagesordnung. Aber sie haben andererseits auch wie kaum ein anderes Thema Dinge auseinandergerissen, die schon zusammengeführt waren. Bei Geld hört bekanntlich die Freundschaft und dann auch die Gemeinschaft auf. Von einer genuinen europäischen Öffentlichkeit würde ich da nicht sprechen. Die jeweiligen Öffentlichkeiten in den Mitgliedsstaaten haben sich dieses Themas angenommen, aber doch in einer bemerkenswert nationalen Konfiguration.
Herr Isensee hatte vorhin davon gesprochen, dass die letzten 20 Jahre, die Epoche der Währungsunion, sich als Irrweg herausgestellt hat. Müsste man nicht aus Ihrer Sicht noch weiter zurückgehen und den Schritt in die Supranationalität, die Etablierung des Europarechts als eigene, vom Völkerrecht unterschiedene Rechtsordnung als Beginn allen Übels bezeichnen?
Hillgruber: Ich stand dieser etwas selbstherrlichen Attitüde des Europarechts, es sei etwas ganz Eigenes und habe mit dem Völkerrecht nichts zu tun, immer kritisch gegenüber. Ich halte das Völkerrecht für weit genug, um Platz vorzuhalten auch für integriertere Formen von Staatenverbindungen, wie die Europäische Union es ist. Historisch wird man aber sehen, dass immer wieder Schritte zunächst im klassischen völkerrechtlichen Instrumentarium vollzogen wurden, denen dann später eine Vergemeinschaftung nachfolgte. Schengen etwa, oder die Außen- und Sicherheitspolitik. Auch hier haben wir beides, mit ESM und Fiskalpakt, die die völkerrechtliche Form nutzen, aber gemeinschaftsrechtlich wieder eingefangen werden sollen, wenn auch in vielleicht fragwürdiger Form mit dem neuen Art. 136 III AEUV. Das wird auch künftig ein mixtum compositum aus Unions- und Völkerrecht bleiben, zumal auch künftig noch mehr als bisher nicht alle bei allem mitmachen werden und die nötige Einstimmigkeit für Vertragsänderungen nicht zustande kommt.
Also alles wie gewohnt? Hat nicht die jüngste intergouvernementale Dynamik in Europa eine neue Qualität?
Isensee: Dass das Völkerrecht zunächst den Boden für neue Verträge gibt, die dann in Gemeinschaftsrecht übergeleitet werden können, ist klar. Die Union kennt schon immer verschiedene Geschwindigkeiten. Freilich ist die Frage, wie tief die Unterschiede sein können. Und es gibt Unterscheidungen wie die zwischen Währungsunion und den Ländern außerhalb von ihr, die spaltend wirken und gefährlich sind. Aber die völkerrechtlichen Elemente sind kein Verfallszeichen, sondern eines der Lebenskraft. In der Krise schlägt die Stunde der Mitgliedsstaaten.
Sie hatten den Rückbau von Kompetenzen gefordert. Wie muss man sich das vorstellen? Wie setzt man das ins Werk?
Hillgruber: Zunächst so, wie Cameron das vorhat: durch eine umfassende Analyse der Kompetenzverteilungen jenseits des Vertragstextes, die Rechtsprechung des EuGH eingeschlossen. Dann muss sich in der Tat eine Regierungskonferenz der Frage annehmen, ob die Kompetenzverteilung so bleiben kann oder ein Rückbau nötig ist. Vor dem Hintergrund dessen, was Herr Isensee zur Funktionsweise des Subsidiaritätsprinzips gesagt hat, erscheint es mir unverzichtbar, die Kompetenzen wirklich klar zuzuweisen und auf konkurrierende Zuständigkeiten, die dann durch das Subsidiaritätsprinzip reguliert werden, zu verzichten. Das hat sich auch im deutschen Bundesstaat nicht bewährt und wurde deshalb ja auch in der Föderalismusreform bis zu einem gewissen Grad reformiert.
Welche Kompetenz hätten Sie denn gern zurückverlagert?
Hillgruber: Da fällt mir als erstes der ganze Bereich des Antidiskriminierungsrechts ein. Das war im Amsterdamer Vertrag eine Fehlentwicklung. Soweit man da Handlungsbedarf sieht, sollte das auf nationaler Ebene geschehen, wo gewisse Übertreibungen auch wieder zurückgenommen werden könnten, wenn die Mehrheitsverhältnisse danach sind. Das geht auf europäischer Ebene nicht, was im Übrigen demokratietheoretisch höchst problematisch ist.
Inwiefern?
Hillgruber: Es wird immer gesagt, auf europäischer Ebene werde genauso demokratisch entschieden wie auf nationaler. Das stimmt aus zwei Gründen nicht. Erstens verdünnt sich natürlich das demokratische Mitspracherecht jedes Einzelnen, je größer die Einheit ist. Noch wichtiger ist aber etwas anderes. Es wird häufig lamentiert, wie schwierig und langwierig es ist, Entscheidungen auf europäischer Ebene herbeizuführen. Das gilt in beide Richtungen. Wenn einmal eine Entscheidung gefallen ist, ist es genauso schwierig, um nicht zu sagen unmöglich, sie zu revidieren. Deshalb erleben wir einen ständigen Anstieg des Acquis Communautaire und keinen Abbau. Es gibt keine Perspektive, etwas, das einmal geregelt worden ist, abzuändern. Das setzt einen Fundamentalsatz der Demokratie außer Kraft, nämlich dass Demokratie nur Herrschaft auf Zeit ist. Das ist auf nationaler Ebene anders.
Aber muss das so sein? Man könnte doch die Wahlen zum Europaparlament, das seinerseits den Kommissionspräsidenten wählt, so gestalten, dass wechselnde Mehrheiten wechselnde Kommissare nach sich ziehen können.
Hillgruber: Die Schwierigkeit der Entscheidungsfindung ist auf Ebene der Mitgliedsstaaten angesiedelt. Dort gibt es in 27 Regierungen ständig Machtwechsel, die sich wechselseitig austarieren und neutralisieren. Das sorgt dafür, dass es keinen grundlegenden Wechsel auf europäischer Ebene geben kann.
Dieses Problem kann man kaum durch ein anderes institutionelles Design lösen.
Hillgruber: Schwerlich, wenn wir nicht alles durch einfache Mehrheit entscheiden wollen. Um so genauer muss man jetzt die Kompetenzverteilung unter die Lupe nehmen. Wir sollten da auch nicht zu ängstlich sein. Selbst der amerikanische Bundesstaat – so weit sind wir ja noch gar nicht in Europa – leistet sich mehr Diversität und einzelstaatliche Zuständigkeiten, ohne daran zu zerbrechen, als wir in der EU.
Sie haben von einer Regierungskonferenz gesprochen, die diese Rückverlagerung der Kompetenzen vornehmen müsste. Aber von der britischen Regierung abgesehen ist mir keine einzige bekannt, die sich dieser Aufgabe begeistert annehmen möchte. Hat man es da aus Ihrer Sicht mit schierer Unvernunft zu tun? Oder wo rührt dieser eigenartige Unwille gewöhnlich ja höchst machtbewusster Politiker, die eigenen Kompetenzen zu mehren, her?
Hillgruber: Ich kann das allenfalls für Deutschland beurteilen. Hier ist der europäische Integrationsprozess quasi-sakral überhöht, eine heilsgeschichtliche Entwicklung. Da ist ein Innehalten, geschweige denn ein Rückbau einfach nicht vorgesehen und wird als Anschlag auf das gesamte Unternehmen betrachtet. Wobei ich mich immer wieder wundere, wie wenig Vertrauen die politische Klasse in ihr eigenes Einigungswerk hat, dass sie annimmt, dass demokratischer Trial and Error das ganze Unternehmen aufs Spiel setzt. Die Briten sind da nüchterner.
Isensee: In Deutschland errichtet in der Tat die politische Klasse Denk- und Redeverbote, was Europa angeht. In der jetzigen Krise der Währungsunion gilt das Wort von Mark Twain: Als sie die Orientierung verloren hatten, beschleunigten sie ihre Schritte. Aber es gibt auch noch andere Mitgliedsstaaten. Die Rede des britischen Premiers hat die Chance einer solchen Regierungskonferenz vergrößert. Wenn England mit dem Austritt droht, wird das doch von einem erheblichen Teil der Mitgliedsstaaten als empfindliches Übel betrachtet, nicht etwa als den Vorzug, einen Störenfried loszuwerden.
Worin sehen Sie eigentlich noch den Sinn der europäischen Integration?
Isensee: In den 50er Jahren ging es um die Selbstbehauptung der westeuropäischen Staaten gegenüber dem Ostblock. Es gab eine klare Ostgrenze und Werte, denen Europa dienen wollte. Diesem Ziel hat Europa zweifellos erfolgreich gedient. Heute ist dieses Ziel erledigt. Europa ist von mehr oder weniger freundlichen Nachbarn umgeben, die ihrerseits in die Union streben. In den 50er Jahren ging es auch darum, Traditionen zu wahren, das Spezifische des alten Kontinents, sein christliches Erbe. Das hat sich völlig verbraucht. Heute herrscht durch alle politischen Lager ein ganz anderer Gedanke vor: Europa soll sich als neue Weltmacht etablieren und das Erbe der alten europäischen Weltmächte antreten und den USA, dem künftigen China, dem künftigen Indien und vielleicht auch dem künftigen Russland auf gleicher Augenhöhe entgegentreten. Dieses Großmachtstreben ist das Surrogat für das, was Europa verloren hat. Die Bürger wird das nicht beflügeln.
Hillgruber: Für Großmachtfantasien sehe ich auch keinen Platz. Man kann das aber auch nüchterner sehen, im Sinn eines völlig legitimen Selbstbehauptungsinteresses. Es wird zu einem Verteilungskampf um Ressourcen kommen in den nächsten Jahrzehnten. In diesem Kampf wäre es wenig sinnvoll, wenn die europäischen Länder sich daran einzeln beteiligen wollten. Hier kann ein Europa, das mit einer Stimme spricht, einen gewissen Einfluss geltend machen und Entscheidungen zu Lasten Europas möglicherweise verhindern. Auf diesen Feldern ist es sicher sinnvoll, stärker als bisher mit einer Stimme zu sprechen.
Also insoweit mehr Integration?
Hillgruber: Ja, aber mit anderen Akzenten. Graf Kielmansegg hat das völlig überzeugend dargelegt: Wir brauchen mehr Diversität nach innen und mehr Einheitlichkeit nach außen, also – und das wird sicher sehr schwierig – eine stärkere gemeinsame Außenpolitik, beim Außenhandel, der Weltwirtschaftsordnung usw.. Das darf natürlich nicht so weit gehen, dass die Nationalstaaten außenpolitisch völlig mediatisiert würden. Das wird also sicherlich ein umkämpftes Feld bleiben.
Die Fragen stellte Maximilian Steinbeis. Nächste Folge: Giandomenico Majone über Europa á la carte und seine Abscheu gegen europäische Föderalisten, die nicht erklären können, warum es immer noch keine wirkliche gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gibt.
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Gegen das, was Hillgruber und Isensee “sehen, “wenn Sie an Europa 2023 denken”, ist nichts einzuwenden. Das “Projekt einer immer engeren Union im Jahr 2023” werde zwar “scheitern”, aber nicht “vollständig scheitern”. Es müsse “über Rückbau geredet” werden: “mehr Diversität nach innen und mehr Einheitlichkeit nach außen”. Wieviel wovon “mehr”, ist keine Frage des “Staatsrechts”, jedoch nicht so viel “mehr”, dass “die Nationalstaaten außenpolitisch völlig mediatisiert würden”. “Staatsrecht” erklärt nicht Kompetenz. Allenfalls durch Recht bestimmte Zuständigkeit, doch nicht das der Fähigkeit. Und die bisherige “Integration” ist verfassungskonform, so das BVerfG. Wer will (soll) über Rückbau nicht nur reden, wenn der “Bau” mit Zweidrittelmehrheit demokratisch beschlossen worden ist?