Comme il faut!
Wie der senegalesische Verfassungsrat die Verfassung des Landes schützt
Die1) Anfang Februar 2024 erfolgte, etwas fadenscheinig anmutende Ankündigung des (noch amtierenden) Staatsoberhauptes des Senegal, Chérif Macky Sall, die zum 25. Februar 2024 angesetzten, regulären Präsidentschaftswahlen aus Gründen von Streitigkeiten über das nationale Wahlgesetz ad interim auszusetzen, ließ aufhorchen.
Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1960 hatte der Senegal, mit der Ausnahme einiger Startschwierigkeiten insbesondere in den 1960er Jahren, denn erst seit Mitte der 1970er Jahre existiert ein Mehrparteiensystem, das vergleichsweise ungestörte konstitutionelle System einer (naturgemäß französisch anmutenden) Präsidialrepublik aufbauen können. Vergleichsweise bedeutet hier, dass der Senegal ungleich etlicher anderer Staaten in seiner geographischen Nachbarschaft bis dato keine Militärputsche oder andere ultimativ fatale Verfassungskrisen erlebte – auch wenn man einlenken muss, dass es insbesondere in den letzten Jahren Abstriche hinsichtlich des demokratischen Systems dort gegeben hat. Wie etwa der Vorreiter der Idee einer Teilnahme Griechenlands an den Europäischen Gemeinschaften, König Pavlos I. der Hellenen, bereits 1957 überaus zutreffend bemerkte:
“sofern in der weiteren Nachbarschaft eines Staates Militärbewegungen ausbrechen, ist es eine Frage der Zeit, dass auch in jenem Staat Putsche stattfinden”.2)
Durch die Aktion des Präsidenten kann es also nicht zum für Ende Februar 2024 geplanten Urnengang kommen – was seine eigene Amtsdauer künstlich prolongiert. Diesen Vorgang hat nun der Verfassungsrat des Senegal (Conseil constitutionnel) gerügt und schützt das Land damit wieder einmal vor verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten.
Politischer Hintergrund
Chérif Macky Sall wurde bei den Präsidialwahlen 2012 zum ersten Mal in dieses Amt gewählt und bei den Folgewahlen 2019 wiedergewählt: Die ursprünglich siebenjährige, einmal erneuerbare Amtszeit des Staatspräsidenten wurde durch die Verfassungsänderung 20163) auf jeweils fünf Jahre und maximal zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten reduziert (Art. 27 Sätze 1 und 2 Verf.). Die Regelung sollte freilich erst bei der auf die Wahl 2019 folgenden, also der im Februar 2024 stattfindenden Wahl greifen.
Sall wird bereits seit Beginn seiner Amtszeit von seiner liberalen Partei Alliance pour la république (APR) unterstützt, die sich in einer, zuletzt bei der Parlamentswahl 2022 bestätigten, Dauerkoalition mit drei weiteren politischen Parteien befindet. Rein exemplarisch hatte er schon im Herbst 2013 recht eigenmächtig den Premierminister ausgewechselt, was in gewisser Hinsicht wohl ein Vorbote der aktuellen politischen Entwicklungen im Senegal gewesen ist.
Das letzte Wort: der senegalesische Verfassungsrat
Art. 91 der Verfassung legt in unmissverständlicher Form fest, dass die Judikative die ranghöchste Autorität Senegals in Verfassungsfragen darstellen soll. Zu dieser zählt seit dem Jahr 1992 ganz fundamental der Verfassungsrat. Dieser besteht kraft aktueller Verfassungslage aus sieben Personen, namentlich dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und fünf Mitgliedern (Art. 89 Satz 1 Verf.), die für eine sechsjährige Amtszeit bestellt werden (Art. 89 Satz 2 Verf.). Erneute Bestellung in dieses Amt ist seit der großen Verfassungsrevision von 2016 ausdrücklich nicht möglich (Art. 89 Satz 6 Verf. i.V.m. Art. 3 des Organgesetzes4)). Dieser Umstand soll offensichtlich einer allzu großen Machtkonzentration in Händen der Verfassungsrichter vorbeugen.
Interessant ist insbesondere die Zusammensetzung: Die Verfassungsrichter (inkl. des Präsidenten der Kammer, vgl. Art. 89 Satz 4 Verf.) sollen vom Staatspräsidenten bestellt werden, darunter mindestens zwei aus einer vom Präsidenten des Parlaments (Assemblée nationale) vorgelegten Liste von vier prominenten Persönlichkeiten (Art. 89 Satz 3 Verf.).
Der letztgenannte Passus ist überaus vage (wie definiert sich Prominenz?), und wird durch das Organgesetz (Art. 4) allenfalls peripher, materiell allerdings überhaupt nicht behandelt: Letzteres stellt nämlich auf die fachliche Qualifikation ab – insofern können hier nur Höchstrichter, Generalstaatsanwälte, Rechtsprofessoren, Spitzen der Verwaltung oder Rechtsanwälte als Verfassungsrichter kreiert werden, sofern ein Kandidat eine mindestens zwanzigjährige Berufserfahrung aufweisen kann. Letzteres bietet zwar eine fachliche Gewähr, kann aber nicht das mutmaßliche Handverlesen von Verfassungsrichtern verhindern. Diese verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Grundlagen sind also vergleichsweise5) sehr abstrakt. Zudem waren seit 2012 stets Politiker der angeführten Regierungskoalition Vorsitzende der Assemblée nationale, zunächst eine Dekade lang Moustapha Niasse, seit 2022 Amadou Mame Diop.
Die aktuelle Kammer des Verfassungsrates wurde (angesichts der bereits knapp zwölfjährigen Amtszeit des Amtsinhabers nicht verwunderlich) von Staatspräsident Chérif Macky Sall bestellt. Trotz dieses Umstandes wandte sich der Conseil constitutionnel Mitte Februar 2024 vehement gegen das Staatsoberhaupt und erklärte die präsidial angekündigte Wahlverschiebung für verfassungswidrig. Zudem ordnete der Rat baldmögliche Neuwahlen an.
Theoretische Kompetenz
Dies entspringt einer der wichtigsten Kompetenzen des Verfassungsrates, die im frankophon beeinflussten Verfassungskontext seit jeher eine signifikante Rolle einnimmt: Das zweitwichtigste Kompetenzfeld des Verfassungsrates, nach der abstrakten Normenkontrolle, ist nämlich die Wahlprüfung. Dazu gehören allgemein die Kontrolle der Erfüllung der Wählbarkeitsvoraussetzungen der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl, die Entscheidung über Anfechtungen dieser Wahl, die Veröffentlichung des amtlichen Endergebnisses und die Abnahme des feierlichen Amtseides des gewählten Kandidaten. Der Verfassungsrat bestätigt etwa alle Kandidaten einer Präsidentschaftswahl und nur er kann (ausdrücklich lediglich im Todesfalle eines Kandidaten) eine Wahlverschiebung anordnen (Art. 29 Sätze 1, 3 Verf.).
Maximal 45, mindestens 30 volle Tage vor Ablauf der Amtszeit eines Staatspräsidenten6) muss der Urnengang stattfinden (Art. 31 Abs. 1 Verf.); und 29 volle Tage hiervor veröffentlicht der Verfassungsrat die Kandidatenliste (Art. 30 Satz 1 Verf.), wie im Januar 2024 geschehen.
Keine „Mauschelei“
Noch-Präsident Sall reagierte umgehend auf den Beschluss des Verfassungsrates und machte deutlich, dass die Präsidentenwahl alsbald durchgeführt werden soll. Stand heute (18. Februar 2024) ist noch kein neuer Wahltermin bekannt – es erscheint als zweifelhaft, ob das ursprünglich avisierte Datum, der 25. Februar, schon aus logistischen Gründen haltbar ist. Es steht dem Senegal zu wünschen, dass die Ankündigung von Sall kein leeres Wort bleiben wird. Es ist jedenfalls zunächst einmal beruhigend, dass die sachliche Verfassungsautorität des Conseil constitutionnel hier auf den ersten Blick keine “Mauschelei” erlaubte.
Dieses Verfassungsorgan, von Haus aus dafür zuständig, die senegalesische Verfassung gegen Verletzungen jeglicher Art zu schützen, wird zwar wie beschrieben qua Rechtslage in einer Form kreiert, die hinsichtlich der personellen Zusammensetzung Skepsis einer (zu) großen, einschlägigen Einflussnahme des Staatspräsidenten nach sich ziehen kann. Im vorliegenden Fall hatte diese Skepsis der personellen Zusammensetzung aber (bis dato) keine Rechtfertigung, sondern spricht vielmehr für eine Stärke des Systems, da der Conseil constitutionnel in sehr klarer Form deutlich machte, dass mit ihm keine der Exekutive beliebende Auslegung der Verfassung möglich ist.
Die reichhaltige Erfahrung der Kammer in Fragen der Wahlgerichtsbarkeit7)und die, insbesondere seitens der anderen Gewalten, diskussionslose Annahme dieser Rechtsprechung kann ein Indiz dafür sein, dass dem Senegal wahrscheinlich auch diesmal weitere verfassungsrechtliche Schwierigkeiten erspart bleiben.
References
↑1 | Zur besseren Lesbarkeit des Beitrags wurde das generische Maskulinum verwendet. Die verwendeten Personenbezeichnungen beziehen sich jedenfalls – sofern nicht anders kenntlich gemacht – auf alle Geschlechter. Bezüge zu Amtsträgern, politischen Entwicklungen und Wahlergebnissen sind Dimitrios Parashu, Wahlergebnisse der Welt (Bd. 3, Afrika; unveröffentlicht), entnommen. |
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↑2 | Vgl. König Konstantin. Ohne Titel. Bd. 1 (Βασιλεύς Κωνσταντίνος. Χωρίς Τίτλο, Τόμος A’, (unter Mitarbeit von Georgios P. Malouchos), Athen 2015, S. 248/249 (auf Griechisch; Übersetzung ins Deutsche durch den Autor); dies war freilich in gewisser Hinsicht prophetisch für Griechenland (Militärputsch 1967). |
↑3 | Loi n° 2016-10 du 5 avril 2016 portant révision de la Constitution (JORS numéro spécial 6926 du 7 avril 2016, p. 505). |
↑4 | Loi organique 2016-23 n°2016-23 du 14 juillet 2016 relative au Conseil constitutionnel (JORS numéro spécial 6946 du 15 juillet 2016, p. 927). |
↑5 | Vgl. etwa Dimitrios Parashu, Der Verfassungsrat der Elfenbeinküste in: Zeitschrift für öffentliches Recht (ZÖR) 3/2011, S. 367 ff. (371 ff.); denselben, Der Verfassungsgerichtshof der Republik Gabun, in: Zeitschrift ‘Verfassung und Recht in Übersee (VRÜ)’ 4/2016, S. 416 ff. (419 f.). |
↑6 | Die letzte Wahl fand am 24. Februar 2019 statt, und Sall wurde Anfang März 2019 für seine zweite und letzte Amtszeit vereidigt (gem. Art. 37 Verf.). |
↑7 | Verfassungsrechtliche Prüfung u.a. von vier Präsidentschaftswahlen im Februar 1993, Februar–März 2000, Februar 2007 und Februar–März 2012; von sechs Parlamentswahlen im Mai 1993, Mai 1998, April 2001, Juni 2007, Juli 2012 und Juli 2017; von zwei Senatswahlen im Januar 1999 und August 2007; von zwei Referenden im Januar 2001 und März 2016. |
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would it be possible to read an English – or even French (!) – translation of this article ? Thank you.