18 August 2014

Das europäische Misstrauensparadox: Die EU zwischen Elitenvertrauen und Demokratieversagen

Nachdem die Europawahlen vorüber sind und der Aufmerksamkeitswert des Europäischen Parlaments sich auf ein normales Maß einzupendeln beginnt, sollte es möglich sein, wieder einen nüchternen Blick auf die Realität des supranationalen Experiments zu werfen. Unübersehbar ist eine Reihe von Paradoxa, in die das europäische Einigungsprojekt hineingelaufen ist, aus denen es mit der systemeigenen Integrationslogik nicht mehr herauskommt.

Eine der folgenreichsten Paradoxien der europäischen Integration lautet: Die EU erwartet von ihren Bürgern, dass sie ihr Vertrauen entgegenbringen. Sie selbst ist jedoch ein System des institutionalisierten Misstrauens. Dafür spricht nicht nur die konstitutive Bedeutung, die den (völkerrechtlichen) Verträgen und insgesamt dem Recht im europäischen Verband zukommt. Wenn man sich darauf verlassen könnte, dass die andere Partei sich an die getroffenen Abmachungen hält, bräuchte es keiner rechtlichen Vorkehrungen. Aber auch das besondere Institutionenarrangement, das die europäische Einigung trägt, ist Ausdruck des geringen Vertrauens, das unter den Mitgliedsländern herrscht. Allein das Europarecht und das institutionelle System vermögen den hohen Verpflichtungscharakter der von den Mitgliedstaaten ausgehandelten Ergebnisse und damit die Kontinuität des Unternehmens zu verbürgen.

Die Europaforschung geht deshalb von der „Integration durch Recht“ als von einem eigenständigen und grundlegenden Integrationsmodus aus. Die Rechtsprechung insbesondere des Europäischen Gerichtshofes gilt vielen sogar als die entscheidende Triebkraft des Einigungsprozesses. Seine Auslegung der Verträge hat nicht nur zur Etablierung einer verfassungsähnlichen Ordnung auf europäischer Ebene wesentlich beigetragen. Sie hat auch eine so von den Gründerstaaten weder erwartete noch erwünschte Eigendynamik des schleichenden Kompetenzverlustes auf Seiten der Mitgliedstaaten eigeleitet. Dieser Prozess entspringt, wie der Verfassungsjurist Dieter Grimm zeigt, in erster Linie der juristischen Eigenlogik. Diese basiert auf der unvermeidlichen Unvollständigkeit von Verträgen, die niemals alle aktuellen und zukünftigen Eventualitäten zu regeln vermögen. Sie beruht aber auch auf der politischen Unabhängigkeit der Gerichte und auf dem fachlichen Monopol der Juristen. Um den Preis einer Verselbständigung des Rechts wirken so die Europarechtsexperten und der Europäische Gerichtshof als Vertrauensgeneratoren in dem im Übrigen durch wechselseitigen Argwohn der Staaten charakterisierten EU-Verband.

Dass die Beziehung zwischen Staaten auch im europäischen Rahmen in der Regel nicht von einer wechselseitigen Erwartung kooperativen oder gar solidarischen Verhaltens geprägt ist, überrascht freilich nicht. Soziales Vertrauen ist in Machtbeziehungen stets eine knappe Ressource. Staaten sind rationale Akteure, die interessengeleitet und strategisch agieren. Selbst bei einer generellen Verständigungsbereitschaft bleibt die Vermutung, alle Mitgliedstaaten verfolgten primär nationale Interessen, handlungsbestimmend. Und das gilt allen Beteiligten als vollkommen rational und legitim. Wenn auch inzwischen die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der europäischen Integration mit zu den grundlegenden politischen Eigeninteressen der meisten EU-Staaten zu zählen ist, so stehen für die Regierungen im europäischen Verband doch die einzelstaatlichen, insbesondere die wirtschaftlichen und politischen Interessen selbstverständlich immer im Vordergrund. Das ist schon aus wahltaktischen Gründen unerlässlich, denn die Politiker finden nicht in Brüssel oder Straßburg, sondern in ihrem jeweiligen Land ihre wichtigste Legitimationsbasis. Wenn über mehrere Jahrzehnte hinweg eine kontinuierliche Kooperation der Mitgliedstaaten im Zeichen der europäischen Einigung erreicht werden konnte, so ist das im Wesentlichen durch zwei institutionelle Vorbedingungen gewährleiste worden: Durch das mit den Gründungsverträgen geschaffene Institutionenarrangement einerseits, andererseits durch den „funktionalistischen“ Mechanismus der Integration. Die historischen Erfolge der europäischen Integration fußen vor allem auf institutionellen Vertrauensgeneratoren.

Das auf Jean Monnet zurückgehende und historisch vorbildlose Institutionendesign sieht die Europäische Kommission als selbständiges Initiativ-, Kontroll- und Sanktionsorgan vor. Sie fungiert gleichsam als der Dritte im Bunde, im Sinne Georg Simmels, wobei zugleich Funktionen des tertius supra partes wie des tertius intra pares ausgeübt werden. Die Bedeutung dieser triadischen Struktur für die Fortschritte der Integration vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie ist gewissermaßen das Einsteinsche e=mc2, die geniale Erfolgsformel des ganzen Unternehmens. Sie verkörpert das nur noch von der Autonomie des Gerichtshofs der Europäischen Union übertroffene Grundprinzip der Supranationalität. Damit ist die europäische Institutionen-Triade zugleich Ausdruck des bis heute weltweit unerreichten Institutionalisierungsgrades des europäischen Projekts.

Durch die Errichtung einer dritten, weitgehend autonomen Institution wurde ein effektives Gegengewicht zu den Staaten und den nationalen Interessen geschaffen. Wie so oft liegt die Lösung des Problems auch hier in einer einfachen, aber findigen organisationstechnischen Vorkehrung. Die Aufteilung der Kompetenzen sieht eine in der Geschichte politischer Institutionen einmalige Trennung von Gesetzgebungsinitiative und Beschlusszuständigkeit vor. Erstere liegt nahezu ausschließlich bei der Kommission; über letztere verfügt in erster Linie der Ministerrat, also das Gremium der Staaten. Das Europäische Parlament kann zwar wichtige, aber bis heute in der Substanz nur limitierte Mitwirkungsrechte im Rahmen des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“ geltend machen. Auch dass die Hauptverantwortlichkeit für die Definition und Durch­setzung der „allgemeinen Interessen der Union“, mithin für die inhaltliche Konkretisierung des „europäischen Gemeinwohls“ auf die Kommission übertragen wurde, ist als eine Konsequenz des zwischenstaatlichen Mistrauens und seiner Institutionalisierung zu betrachten.

Neben der Ausdifferenzierung des Prinzips der Supranationalität erweist sich außerdem der damit inaugurierte funktionalistische Integrationsmodus von entscheidender Bedeutung. „Funktionalismus“ besagt in diesem Zusammenhang zweierlei: Erstens die Verständigung der Mitgliedstaaten auf sektorale Integration, die zunächst die Wirtschaft, insbesondere den Markt zum Ausgangspunkt der Europäisierung nimmt. Dies geschah in der Erwartung, dass sich aufgrund der Interdependenzen des jeweiligen Funktionssystems weitere Integrationsfortschritte einstellen würden („spill over“), gleichsam als Emergenzeffekte, ohne dass es dafür eigens kostenintensiver Verhandlungen und Paktierungen bedürfte. Zweitens wird dabei von vornherein auf Festlegungen hinsichtlich der Endgestalt („Finalität“) des gesamten Unternehmens verzichtet. Die anzustrebende Verfassungsordnung, die geographische Ausdehnung des Integrationsraumes oder auch die Ausgestaltung der europäischen Sozialpolitik bleibt zugunsten einer Politik der kleinen Schritte im Vagen. Das erleichtert die Konsensfindung unter den Mitgliedstaaten enorm. Die damit einhergehende „negative Integration“ mit dem ihr eigenen „unpolitischen Modus“ (Dieter Grimm), der wiederum vor allem der Kommission die inhaltliche Definitionsmacht in Fragen der europäischen Politik überantwortet, übernimmt drei entscheidende Entlastungsfunktionen: Einerseits ermöglicht sie eine Reduktion der Transaktionskosten; andererseits erfolgt eine Plausibilisierung institutioneller Vertrauenswürdigkeit durch Delegation von Kompetenzen an einen unabhängigen, überparteilichen und technokratischen Dritten. Schließlich lassen sich damit offene politische Konflikte, etwa um Werte und/oder materiale Verteilungskriterien, im Verborgenen halten. Dadurch wird ein intransparenter Schleier der Einmütigkeit und der allgemeinen Kompromissbereitschaft geschaffen, der die tatsächlichen Widersprüche und Ambivalenzen des EU-Systems verdeckt.

Die beschriebene Kernstruktur des supranationalen Verbandes trägt also einerseits wesentlich dazu bei, das zugrunde liegende wechselseitige Misstrauen der Mitgliedstaaten zu kaschieren. Gleichzeitig schafft es aber auch unerwartet neue Spielräume für eine kontinuierliche und erfolgreiche Kooperation und damit für eine schrittweise Weiterentwicklung des Integrationsprojekts. Dieses beschränkt sich allerdings nur auf die Eliten.

Vertrauen ist in politischen Macht- und Herrschaftsbeziehungen zwar in der Regel eher nicht zu erwarten. Durch bestimmte institutionelle Vorkehrungen kann dennoch soziales Vertrauen ungeplant und unerwartet entstehen. Auch wenn Verhandlungs- und Vertragsbeziehungen im Vergleich etwa mit einfachen, auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen Beziehungen meist ein deutlich niedrigeres Vertrauensniveau aufweisen, vermag die aus formalen Übereinkünften und Verträgen hervorgehende Interaktions- und Kommunikationspraxis doch auch vertrauensbildend und -verstärkend zu wirken. Das lässt sich, wie die soziologische Vertrauensforschung zeigt, auf bestimmte soziale Mechanismen zurückführen. Fundamental bedeutsam sind: a) die Häufigkeit und Dichte der Interaktion; b) ein durch formale Austrittshürden und eingefahrene Arbeitsroutinen generierter Locking-in-Effekt; c) die wechselseitige Abhängigkeit der Akteure, d) deren Zugehörigkeit zu Professionsgruppen (Politiker, Beamte, Experten, Wissenschaftler, Juristen etc.) mit gemeinsam geteilten Wertvorstellungen und berufsgruppenspezifischen Normen; schließlich e) Statusgleichheit der Akteure. Solche Triebkräfte lassen sich auch in der Europäische Union ausmachen. Sie kommen namentlich auf der Arbeitsebene, also in den Kabinetten der Kommissare, Generaldirektionen, Ausschüssen und den zahlreichen informellen Kontaktstrukturen zur Geltung.

Wir haben es somit in der Europäischen Union mit einem Institutionalisierungsparadox zu tun: Die Institutionalisierung des Misstrauens generiert ein gewisses Maß an sozialem Vertrauen bei den relevanten Trägergruppen. Allerdings ist auffällig, dass in Europa dieser Systemeffekt weitgehend auf die politisch-administrativen Eliten beschränkt bleibt. Die Bürger Europas finden sich in diesem vertrauensbildenden Prozess nicht einbezogen. Dazu fehlen die demokratischen Kanäle und eine entwickelter europäische Öffentlichkeit. Somit offenbart sich ein Teufelskreis: Je mehr die Institutionalisierung des Misstrauens zwischenmenschliches Vertrauen unter den Eliten Europas hervorbringt, desto stärker greifen bei ihnen Mechanismen der sozialen Abschließung, was die Kluft zwischen Bürgern und Eliten weiter vergrößert. Selbst in Ländern in denen das Institutionenvertrauen traditionell eher schwach ausgeprägt ist, wie in Italien oder Griechenland, bauen die Bürger gerade auch in der Krise selbstverständlich in erster Linie auf den nationalen demokratischen Prozess. Nicht nur, weil in den nationalen Arenen letztlich auch die für Europa entscheidenden politischen Weichenstellungen vorgenommen werden. Sondern auch, weil nur im nationalstaatlichen Rahmen Demokratie noch lebendig ist und hier die Bürger über die gesellschaftlich relevanten Probleme mitbestimmen können.


SUGGESTED CITATION  Bach, Maurizio: Das europäische Misstrauensparadox: Die EU zwischen Elitenvertrauen und Demokratieversagen, VerfBlog, 2014/8/18, https://verfassungsblog.de/das-europaeische-misstrauensparadox-die-eu-zwischen-elitenvertrauen-und-demokratieversagen/, DOI: 10.17176/20170420-184914.

3 Comments

  1. Aufmerksamer Leser Mon 18 Aug 2014 at 09:51 - Reply

    “Wenn man sich darauf verlassen könnte, dass die andere Partei sich an die getroffenen Abmachungen hält, bräuchte es keiner rechtlichen Vorkehrungen.” – So denken nur Winkeladvokaten. Jeder Notar würde jedoch fragen: Wollen Sie wirklich Ihr Haus (Leben, Währung, you name it…) darauf verwetten (!), dass es sich Ihr bester Freund nicht doch noch anders überlegt in zehn (20, 30…) Jahren?

  2. Peter Blickensdörfer Mon 18 Aug 2014 at 11:29 - Reply

    @Aufmerksamer Leser
    Ob die für die EU-Institutionen Bestimmten so denken oder nicht. Sie könnten als Winkeladvokaten im ursprünglichen Verständnis bezeichnet werden. Sie erledigen gegen Bezahlung Angelegenheiten vor allem derjenigen (der Vertragsparteien), die bestimmen, was richtig (Recht) sein soll.

  3. Marc B. Mon 18 Aug 2014 at 14:23 - Reply

    Wie bitte? Die Tatsache, dass sich die EU als Rechtsgemeinschaft gegründet hat, ist ein Zeichen für inherentes Misstrauen? Was ist nur seit Weber aus der Soziologie geworden …

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