Das Solms-Trilemma: Wie sich die Neuregelung des § 1 Abs. 2 GO-BT am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zog
Als Hermann Otto Solms, der Alterspräsident des 19. Deutschen Bundestags, die konstituierende Sitzung am vergangenen Dienstag um 11 Uhr mit einer Ansprache eröffnete, die ein lateinisches Zitat enthielt, bliesen einige Kritiker sogleich in das anti-elitäre Horn und bemängelten die Verwendung bildungsbürgerlichen Geheimsprechs in einer Rede, in der zugleich der Dialog mit den Bürgern „auf Augenhöhe“ angemahnt wurde. Die Kritiker dürften nicht geahnt haben, dass der Auftritt des Hermann Otto Solms noch weitaus größere intellektuelle Zumutungen mit sich brachte, die mit der rechtlichen Qualifikation seiner Inthronisation als Alterspräsident zusammenhängen und in rechtstheoretisch schwierige Fahrwasser führen. Wer hatte eigentlich entschieden, dass Solms, der an Dienstjahren (abgesehen von Wolfgang Schäuble, der in Erwartung seiner Wahl zum Bundestagspräsidenten verzichtet hatte), aber nicht an Lebensjahren älteste Abgeordnete der konstituierenden Sitzung bis zur Übergabe des Staffelstabs an Schäuble um einige Minuten nach 13 Uhr vorsitzen durfte? Und auf welcher rechtlichen Grundlage? Wäre der bis 2013 praktizierten Tradition gefolgt worden, hätte mit dem Abgeordneten Wilhelm von Gottberg von der AfD das tatsächlich älteste Mitglied die Sitzung eröffnen und anfänglich leiten dürfen.
Bekanntlich hatte der Bundestag noch kurz vor der Sommerpause die betreffende Vorschrift des § 1 Abs. 2 GO-BT dahingehend geändert, dass nunmehr nicht mehr das Lebensalter sondern das Dienstalter entscheidend sei. Die AfD hat dieses Vorgehen naturgemäß bemängelt und von einer „lex AfD“ gesprochen, da seinerzeit schon abzusehen war, dass voraussichtlich die AfD den ältesten Abgeordneten stellen würde. Bemerkenswerterweise brachte die AfD-Fraktion am Dienstag gleich einen Geschäftsordnungsantrag ein (BT-Drs. 19/2), in welchem die Heranziehung des (neugefassten) § 1 Abs. 2 GO-BT aus juristischen Gründen kritisiert wird: „Die Regelung zur Bestimmung des Alterspräsidenten ist bereits selbst Bestandteil einer durch den Grundsatz der Diskontinuität nicht mehr geltenden Geschäftsordnung und erfolgt damit ohne rechtliche Grundlage.“ Hier haben die Antragsteller tatsächlich einen Punkt (um diese schöne Lehnübersetzung aus dem Englischen zu gebrauchen). Denn geändert wurde am 1. Juni 2017 (vgl. Plenarprotokoll 18/237, S. 24169 ff.) die in der konstituierenden Sitzung des 18. Bundestags am 22. Oktober 2013 beschlossene Geschäftsordnung, welche nun mit Zusammentritt des neuen Bundestags gem. Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG infolge der Beendigung der 18. Wahlperiode seine Rechtswirkung verloren hat; also genau: am vergangenen Dienstag um 11 Uhr.
„Systembruch“?
Nach Aufruf des zweiten Tagesordnungspunkts beschloss der neue Bundestag nun mit breiter Mehrheit die Fortgeltung der alten Geschäftsordnung und folgte damit dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion (BT-Drs. 19/1). In diesem Augenblick hat sich der Bundestag also kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie (Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG) eine Geschäftsordnung gegeben, die – wie die alte – den neugefassten § 1 Abs. 2 enthält, welcher mit Herrn Solms (nach dem Verzicht Schäubles) den zweitdienstältesten Abgeordneten zum Alterspräsidenten macht, oder besser: hätte machen können, wäre der Fortgeltungsbeschluss nicht erst nach Eröffnung der Sitzung und bereits unter Leitung des Alterspräsidenten Solms gefasst worden.
Noch vor Aufruf des Tagesordnungspunkts 1 (Eröffnung der Sitzung durch den Alterspräsidenten) ließ Solms über den besagten Antrag der AfD abstimmen, der auf die Wahl eines „Versammlungsleiters“ zu Sitzungsbeginn abzielte. Nur durch dieses Verfahren, so die Antragsteller in ihrer Begründung, könne der „Systembruch“, den die Anwendung einer Norm aus der alten Geschäftsordnung darstelle, überwunden werden, da nur dieses „weder einer partielle Vorwegnahme noch eine systemwidrige Fortgeltung von Geschäftsordnungsregelungen“ beinhalte. Das Argument ist klar: Der Rückgriff auf die Geschäftsordnung des 18. Bundestags muss ins Leere gehen, weil diese in diesem Zeitpunkt nicht mehr gegolten hat, der Vorgriff auf die Geschäftsordnung des 19. Bundestags scheitert daran, dass diese hier noch nicht gegolten hat (insofern steht im Übrigen der zweite Geschäftsordnungsantrag der AfD-Fraktion zur ‚Neu’-Fassung des § 1 Abs. 2 GO-BT in seiner alten Form, BT-Drs. 19/4, im Widerspruch zum ersten Antrag; denn die neu-alte Neufassung käme für dem 19. Bundestag zu spät und wäre für den 20. Bundestag – der eigenen Argumentation folgend – schon nicht mehr relevant). Wie kann dieses Problem nun befriedigend gelöst werden?
Der Sumpf und der Schopf
In der Rechtstheorie ist das sog. Münchhausen-Trilemma, das der Philosoph Hans Albert formuliert hat, geläufig; es beschreibt die trilemmatische Situation, in die gerät, wer die Geltung einer Norm letztbegründen will. Dieser muss nämlich, so Albert, sich entweder in einem Zirkelschluss verfangen, auf eine die Geltung der Norm ihrerseits begründende weitere Norm abstellen, was die Frage nach der Geltung dieser Norm aufwirft oder schließlich, um dem aus letzterem folgenden infiniten Regress zu entgehen, die Rekurskette einfach abbrechen lassen und auf eine Behauptung setzen (z.B. Lehre vom pouvoir constituant, die Grundnorm bei Kelsen, die Dezision bei Schmitt).
Überträgt man diese argumentative Schablone auf die Frage, warum die Norm, wonach dem dienstältesten Abgeordneten die Alterspräsidentschaft zukomme, gilt, wird klar, dass ein Abstellen auf § 1 Abs. 2 GO-BT dem Zirkelschluss entspricht. Die dritte Option lassen wir mal außen vor (Lars Brocker vertritt im BeckOK, 34. Edit., Art. 39, Rn. 15 immerhin die Ansicht, es handele sich um einen „politische[n] Entscheidungsakt […], der von dem bisherigen Parlamentspräsidenten gemeinsam mit dem sog. „Vor-Ältestenrat“ […] auf der Grundlage der bisherigen Geschäftsordnung […] vorzubereiten ist.“ Allein: auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage?)
Der Rekurs auf eine weitere, höhere Norm scheint hingegen vielversprechend und hier kommt naturgemäß die Verfassung in Betracht, die sich zu der Frage allerdings ausschweigt. Das tut sie indes auch in der Frage, wer die nach Art. 39 Abs. 2 GG „spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl“ einzuberufene konstituierende Sitzung des neuen Bundestags terminiert und eben einberuft; hier hat sich die Praxis etabliert, dass diese Aufgabe – entgegen dem strikten Diskontinuitätsgrundsatzes – der Präsident des letzten Bundestags zukommt. Im Schrifttum wird dieser wahlperiodenübergreifende Akt – der alte Präsident ist im Zeitpunkt der Vornahme dieser Amtshandlung immerhin noch im Amt, die Maßnahme greift aber auf die folgende Periode aus – auf einen Satz des Verfassungsgewohnheitsrechts zurückgeführt.
Genau dies scheidet angesichts der erfolgten Änderung des parlamentarischen Brauchs zur Bestimmung des Alterspräsidenten nun aber freilich aus. Die in der Beschlussempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses (BT-Drs. 18/12376, S. 4) wiedergegebene Geltungsbegründung (Inhaltsbegründung im Übrigen: Erfahrungsargument) der CDU/CSU-Fraktion, die als einzige das Problem überhaupt thematisiert, nimmt sich dünn aus: „Der Bundestag könne festlegen, dass künftig das Mitglied mit der längsten Mandatsdauer diese Aufgabe wahrnehme. […] Da der Bundestag sich zu Beginn einer Wahlperiode als Verfassungsorgan selbständig neu konstituiere, greife der neue Bundestag hierzu gewohnheitsrechtlich auf die Verfahrensregelungen des vorherigen Bundestages zurück, sofern dies für die Konstituierung erforderlich sei. Zu diesen Regelungen gehöre auch die Festlegung in der jeweils vorherigen Geschäftsordnung, welches Mitglied den neuen Bundestag als Alterspräsident eröffne.“ Dass ein Verfassungsgewohnheitsrechtssatz dieses Inhalts existiert, erscheint indes angesichts der stetigen Übung der einen Alterspräsidentenregelung mehr als fraglich. Bleibt wieder nur § 1 Abs. 2 GO-BT: Muss sich die Norm am Ende wie weiland Münchhausen am eigenen Schopfe aus dem Sumpf empor ziehen?
Konkludente Wahl des Versammlungsleiters Solms
Die Pointe ist wohl eine andere. Die AfD-Fraktion hat mit ihrem Antrag zur Geschäftsordnung betreffend die Wahl eines Versammlungsleiters selber unfreiwillig zur Heilung des Rechtsgrundlagenmangels beigetragen. Indem der Bundestag es mit breiter Mehrheit ablehnte, einen Versammlungsleiter zu wählen und stattdessen auf Herrn Solms setzte, hat er – implizit und konkludent – diesen zum Versammlungsleiter erklärt. Der Bundestag hat dem Antrag entsprochen, indem er ihn verworfen hat. Die Paradoxie der Geltung des § 1 Abs. 2 GO-BT ist durch eine paradoxe Abstimmung zur Geschäftsordnung aufgelöst worden. Am Ende haben alle Beteiligten Recht behalten und die Alterspräsidentschaft Solms hat ihre Rechtsgrundlage bekommen. Womöglich wird sich in Zukunft hierauf aufbauend ein neues Verfassungsgewohnheitsrecht bilden.
Die Annahme, die in der zitierten BT-Drs. 18/12376 durchscheint – dass der Diskontinuitätsgrundsatz insoweit durchbrochen ist, als die alte GOBT für die konstituierende Sitzung bis zum Beschluss einer neuen GO fortgilt -, erscheint mir recht logisch und die sinnvollste Erklärung. Nach irgendwelchen Regeln muss sich die Eröffnung der Sitzung und die Abstimmung über eine Geschäftsordnung ja richten. Nun kann man entweder annehmen, bis dahin würden verfassungs(gewohnheits)rechtliche Grundsätze gelten, deren Herleitung unklar wäre, oder aber es gilt die alte GOBT und die Diskontinuität (die ja selbst eher implizites Verfassungsrecht ist) ist insoweit durchbrochen (oder von mir aus durch die verfassungsimmanente Schranke der Funktionsfähigkeit des Parlaments eingeschränkt). Auch die langjährige Übung, den (Lebens-)Alterspräsidenten die Sitzung eröffnen zu lassen, spricht meiner Meinung nach nur dafür, dass man auf die kurzzeitige Fortgeltung der alten GOBT gesetzt hat – andernfalls hätte man § 1 Abs. 2 ja niemals aufgenommen.
Nicht alle formalen geschäftsordnungsmäßigen Mängel müssen rechtswidrige Rechtsunwirksamkeit begründen. Ein neukonstituierter Bundestag kann nur nicht rechtswirksam beschliesen, wenn von Verfassungs wegen anderes, wie eine andere Parlamentsleitung vorgesehen wäre. Ansonsten kann bis zur Neuregelung eine nur durch parlamentarisches Funktionieren beschränkte Verständigung genügen. Die Frage der Parlamentsleitung einer konstituierenden Parlamentssitzung bis zum Beschluss einer neuen Geschäftsordnung kann grundsätzlich eher geringere (verfassungs-)rechtliche Bedeutung zukommen. Das muss nicht bedeuten, dass dies nicht Gegenstand umfangreicher literarisch wissenschaftlicher Befassung oder von ausuferndem politischen oder juristischen Streit sein kann.
Bevor man versucht das “Solms-Trilemma” zu lösen, sollte man m.E. erst prüfen, ob es sich um ein wirkliches Problem oder nur um ein Scheinproblem handelt.
§ 125 S. 1 GOBT kodifiziert das verfassungsgewohnheitsrechtliche Prinzip, dass nur solche Vorlagen der Diskontinuität unterfallen, die der Beschlussfassung unterliegen. Der Erlass der GO erfolgt zwar durch Beschluss (vgl. PlPr. 19/1, S. 4C ff. [12A]). Damit erledigt sich aber die Beschlussfassung. Eine weitere Bestätigung der GO ist, wie sich aus § 126 GO ergibt, für ihre Rechtsverbindlichkeit nicht erforderlich. Damit ist die GO zum Zeitpunkt des Zusammentretens des neuen Bundestages keine beschlusspflichtige Vorlage mehr, die der Diskontinuität unterliegt. Im Übrigen ist zu beachten, dass es sich bei der GO um (Innen-)Recht handelt. Bei übrigen Rechtsakten (z.B. Gesetzesbeschlüssen) ist man sich einig, dass diese Beschlüsse nicht der Diskonitnuität zum Opfer fallen. Es wäre doch sehr verwunderlich, wenn man fordern würde, dass der neue Bundestag die gesamte Rechtsordnung neu beschließen müsste.
Nichts anderes ergibt sich aus Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG. Danach muss sich der BT eine GO geben. Doch die Norm besagt nichts über die Geltungsdauer der GO (ebensowenig wie die GO selbst, die keinerlei Bestimmung über ihr Außertrafttreten hat) und über die Art und Weise der GO-Gebung (Neufassung oder Weitergeltungsanordnung). Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG erlaubt – was gerade auch ständige Praxis ist (BT-Drs. 15/1; BT-Drs. 17/1; BT-Drs. 18/1; BT-Drs. 19/1; vgl. aber BT-Drs. 16/1) – die unveränderte Weitergeltung der GO zu beschließen. Dadurch würde sich der BT die GO zu eigen machen und sich so juristisch eine eigene GO geben. Es ist keinesfalls zwingend, dass aus der Pflicht zur GO-Gebung auch deren Unterwerfung unter die Diskontinuität folgt.
Mal abgesehen von der Frage, wie zwingend und umfassend der Grundsatz der Diskontinuität nun wirklich ist (Mir scheint er ein Import aus dem britischen Verfassungsrecht, der sich mit deutschem Rechtsverständnis und Verfassungswortlaut etwas beißt), würde ich die Lösung aus einer Kombination vom Ansatz von Brocker und einer durch die alte Geschäftsordnung bewirkten Ermessensbindung herleiten:
Der Präsident des alten Bundestag lädt zur konstituierenden Sitzung mit dem Tagesordnungspunkt „Übernahme der Sitzungsleitung durch den alterspräsidenten“ ein. Die Frage, wen er damit meint, wie auch nach welchen Kriterien dieser die Sitzung zunächst leiten soll, ist der Geschäftsordnung des alten Bundestages als Maßstab zu folgen – alles andere wäre ohne jeden konkreten normativen Anhaltspunkt völlig willkürlich und daher abzulehnen.
Danke für diesen erhellenden Beitrag. Die einfachste und sauberste Lösung wäre offensichtlich eine Regelung im Grundgesetz selbst, so wie bspw. in der Verfassung Bulgariens:
“Artikel 75. Die neu gewählte Nationalversammlung wird nicht später als einen Monat nach der Wahl der Nationalversammlung vom Präsidenten der Republik zu ihrer ersten Sitzung einberufen. Beruft der Präsident die Nationalversammlung nicht innerhalb dieser Frist ein, wird sie von einem Fünftel der Abgeordneten einberufen.
Artikel 76. (1) Die erste Sitzung der Nationalversammlung wird vom ältesten anwesenden Abgeordneten eröffnet.”
Damit wären alle eventuellen Unklarheiten beseitigt.