27 August 2020

Die Corona der Coronaleugner und das Versammlungsrecht

I. Die provozierende Frage „Haben Rechte Rechte?“ ist längst beantwortet: Mit großer Sensibilität achten Verfassungs- und Verwaltungsgerichte darauf, dass Meinungen und Meinungsäußerungen von Rechtsextremisten amtlicherseits nicht be- oder verhindert werden. Die schlechthin konstituierende Bedeutung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit für die Demokratie, die Offenheit und Weite des geschützten Meinungsspektrums, welche gerade auch unerwünschte Themen und Ansichten einbezieht; das Fehlen spezifischer Schrankenbestimmungen gegen verfassungswidrige Äußerungen nach Art des Art. 17 EMRK und die jüngste Selbstkorrektur des BVerfG , wonach es keine spezifischen Schranken der Meinungsfreiheit gegen rechts gebe1): Die Entdeckung des Anti-NS-Basiskonsenses des GG als Leitlinie auch der Verfassungsauslegung ist bis auf die Entscheidung zu § 130 StGB weitgehend folgenlos geblieben. Die Möglichkeiten zu Versammlungsverboten sind von daher eng begrenzt: Auch der weit formulierte § 15 Abs. 1 VersG ist grundgesetzkonform auszulegen und darf dessen Wertungen nicht rückgängig machen.

II. Das betrifft sowohl die Versammlungsthemen wie auch die Versammlungsformen, also das „Ob“ und das „Wie“ der Versammlungen. Hier ist der Streit der Versammlungsrechtstheorien2) weithin folgenlos geblieben: Die zulässigen Themen der Versammlungen werde am Demokratieprinzip und der Meinungsfreiheit festgemacht. In diesem Sinne sind Versammlungen eher spezifische Ausdrucksformen der Meinungskundgabe analog „Wort, Schrift und Bild“ (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG). Und deren zulässige Inhalt sind weit gefasst: Wo es nicht gerade um personalisierende Fragen der Ehre geht, kommen nur die allgemeinen Gesetze in Betracht. Und diese stellen spätestens nach der jüngsten Selbstkorrektur des BVerfG darauf ab, ob die Meinungen wegen ihrer geistigen oder ihrer sonstigen, eben nicht geistigen Wirkungen beschränkt werden sollen (BVerfG, B. v. 7.7. aaO.). Oder anders ausgedrückt: Die Grenze liegt dort, wo Worte Taten werden. Bis dahin gilt: Jede auch noch so unerwünschte Meinung oder Meinungsäußerung muss hingenommen werden.

Dem setzt auch das Demokratieprinzip keine zusätzlichen Grenzen: Freiheit ist auch hier primär die Freiheit der Dissenter, der Oppositionen, und seien sie noch so klein und noch so abseitig. Und es kommt auch nicht darauf an, ob die Versammlungsthemen demokratieförderlich sind oder nicht. Eine funktionierende Demokratie muss das ertragen, und sie erträgt das auch. Nur zur Erinnerung: Am 25.8.2020 wurden Umfrageergebnisse veröffentlicht, wonach bis zu 87 % der Bevölkerung die Maskenpflicht für sinnvoll bzw. notwendig halten. So viel Akzeptanz muss man erst einmal schaffen! Es ist also nur eine Minderheit, die dagegen ist. Sie allerdings erhält durch eine rege Demonstrationstätigkeit versammlungsteilnehmender Reisekader eine überproportionale Resonanz in Medien und Öffentlichkeit. 

Für die Versammlungsfreiheit bedeutet dies: Es kommt nicht zentral darauf an, wer demonstriert. Mögen Veranstalter oder Teilnehmer noch so rechts- oder linksextrem sein, die Demonstrationsfreiheit steht ihnen zu. Und deshalb darf man ihre Veranstaltungen auch nicht verbieten. Es kommt vielmehr darauf an, was das Thema der Veranstaltung ist und welche Äußerungen dort zu erwarten sind. Hier – und nur hier – darf angesetzt werden, und die Schrankenbestimmungen lassen wie schon erwähnt wenig Raum. „Extremismus“ ist als solcher weder rechts- noch polizeirechtswidrig. Und Protest gegen staatliche Grundrechtseingriffe – mögen diese auch noch so gerechtfertigt sein – ist ein Kernelement von Demokratie, Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Erst wenn dieser Protest die wenigen rechtlichen Grenzen zu überschreiten oder in Taten umzuschlagen droht, kann versammlungsrechtlich eingegriffen werden. Diese Gefahr muss eine „unmittelbare“, also in modernerer Terminologie eine „gegenwärtige“ sein. Ob dafür hinreichend tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, müssen die Sicherheitsbehörden im Einzelfall prüfen und sind im Konfliktfall darlegungslastig.

Diese immanente Schwäche des demokratischen und liberalen Verfassungsdenkens einschließlich des aus ihm hergeleiteten Neutralitätsprinzips bedeutet aber keineswegs „Neutralität bis zum Selbstmord“. Auch wenn die Grenzen des Prinzips noch viel zu wenig ausgelotet sind: Hier besteht jedenfalls Anlass zu besonderer Wachsamkeit, und zwar zunächst der Zivilgesellschaft selbst. Deren Funktionieren in Deutschland ist ein positives Zeichen lebendiger Demokratie. Aber auch die Staatsorgane sind nicht wehrlos, sondern in besonderem Maße zum Handeln aufgerufen. Man darf fast nie verbieten, wohl aber informieren (was in Coronazeiten gut gelang, sonst wäre das hohe Maß an Akzeptanz nicht erreichbar gewesen). Und man darf Gefahraufklärung betreiben, etwa die Veranstaltungen vom Verfassungsschutz beobachten lassen, weil der an andere Grenzen als die Polizei- und Ordnungsbehörden gebunden ist und auch im Vorfeld tätig werden darf. Eben deshalb darf er auch Versammlungen nicht verbieten, solche Polizeibefugnisse stehen ihm nicht zu. Ihm muss es vor allem darum gehen festzustellen, ob tatsächliche Verbindungen zur extremistischen Gruppierungen bestehen, welche den Umsturz betreiben, und dagegen (aber eben nur dagegen) dann auch mit rechtlichen Mitteln vorgehen. 

III. Als Anlass für staatliche Restriktionen von Versammlungen bleibt dann eher das „Wie“ ihrer Durchführung. Verstöße gegen Maskenpflicht und Abstandsregelungen sind zwar nur Ordnungswidrigkeiten, können allerdings zu Gefährdungen für Leben und Gesundheit führen. Sie betreffen nicht nur die Teilnehmenden selbst, welche sich immerhin freiwillig dem Risiko aussetzen, sich gegenseitig zu infizieren. Denn nach der Veranstaltung und einer möglichen Infektion gegen sie anderswo hin, treffen andere Leute am Arbeitsplatz, in Familie und Freizeit, die nun auch einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind. Sie haben nicht freiwillig zugestimmt und könnten dies auch gar nicht jedenfalls für solche Leute, die sie selbst dann weiter infizieren könnten. Eben deshalb sind Großveranstaltungen gegenwärtig komplett untersagt. Und Versammlungen mit mehr als 500 oder 1000 erwarteten Teilnehmenden fallen darunter.

Aber damit ist das Problem noch nicht gelöst. Denn Maskenpflicht und Abstandsregelungen sind Kernelemente dessen, wogegen die Versammelten protestieren. Ein Verstoß gegen diese Pflichten wäre dann auch eine Form des Protests, der durch den massenhaften Rechtsverstoß eine verstärkte Wirkung erhalten könnte. Auch die Umstände der Versammlungen können nämlich rechtlich relevant werden, etwa der Zeitpunkt (am Gedenktag u.ä,) oder der Ort (am Mahnmal u.a.). Und was hierfür gilt, kann man auch auf die Form anwenden: Der Protest gegen Beschränkungen für Motorradfahrer kann besonders wirksam durch Bikerkorsos artikuliert werden. Und warum sollte das bei Anti-Coronamaßnahmen-Demos anders sein? Kann also eine Versammlungsfreiheit, welche auch Umstände und Form der Veranstaltung mitschützt, also Verstöße gegen die Maskenpflicht und Abstandsregelungen rechtfertigen? Und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen und in welchen Grenzen?

Jüngst hat die Rechtswissenschaft gezeigt: Im Notstands- oder Katastrophenfall verliert das zentrale Steuerungsinstrument des Sicherheitsrechts, das Übermaßverbot, seine Wirksamkeit3). Denn der Schutz höchstrangiger Rechtsgüter wie des Lebens oder der Funktionsfähigkeit öffentlicher Hände über wiegt jedenfalls bei besonderer Dringlichkeit kollidierende Rechtsgüter stets. Gilt das auch für die Versammlungsfreiheit? Gibt es hier Wege zur praktischen Konkordanz zwischen Schutz von Leben und Gesundheit einerseits und der kommunikativen bzw. symbolischen Funktion von Versammlungen andererseits? Etwa Abstand oder Maske? Oder kurzzeitige Ausnahmen vom Abstandsgebot, um die Botschaft der Teilnehmenden zu symbolisieren („Zusammen gegen Coronamaßnahmen“)? Das sind Fragen, die nur die Fachwissenschaftler und Sicherheitsbehörden gemeinsam beantworten können. Besteht ein Risiko? Und ist das schon eine „unmittelbare Gefahr“? Dann dürfen derartige symbolische Akte nicht mehr verboten werden. Bis diese Frage geklärt ist, kann allerdings auch ein Übergangsbonus gewährt werde nach dem Motto: Lebensschutz ist in diesem Falle wichtiger als der Schutz jederzeitiger Versammlungsfreiheit in allen denkbaren Erscheinungsformen.

IV. Die aktuellen Debatten haben auch viel Positives. Bekanntlich gibt es eine erhebliche Zahl von Leuten, welche behaupten, in Deutschland bestehe keine Meinungsfreiheit. Es gibt Anzeichen dafür, dass zwischen Anhängern dieser Auffassung und den Gegnern der momentanen Coronapolitik eine gewisse Schnittmenge besteht. Für sie müsste eigentlich gelten: Dass sie sich für ihr ebenso irrationales wie verantwortungsloses Treiben, wonach die Coronaregeln für sie selbst bei ihren Veranstaltungen nicht gelten sollen, auf die Grundrechte berufen können, ist ein starkes Zeichen funktionierender Meinungsfreiheit, die in Deutschland ohne Rücksicht auf Inhalt und Wert der Äußerungen garantiert ist. Ich bin nicht so optimistisch anzunehmen, dass potentielle Versammlungsteilnehmer diesen Unterschied überhaupt bemerken. Wer vergessen hat, wie es ist, wenn keine Meinungs- und Versammlungsfreiheit besteht, sollte sich noch einmal die Bilder der aus dem Gefängnis entlassenen belarussischen Oppositionellen ansehen. Wie anders ist es doch hier, wo auch aus noch so abwegigen Gründen und Motiven dem demonstriert werden darf, wenn auch zeitweise nur mit Abstand und Maske.

References

References
1 BVerfG, B. der 2. Kammer des Ersten Senats vom 07. Juli 2020, 1 BvR 479/20, Rn 12 ff, in Abgrenzung von BVerfGE 124, 300, 330 ff
2 demokratische, liberale und konservative Vorverständnisse; dazu Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 7. A., 2018, Art. 8 Rn 9 ff.
3 A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, 2020, S. 232 ff

SUGGESTED CITATION  Gusy, Christoph: Die Corona der Coronaleugner und das Versammlungsrecht, VerfBlog, 2020/8/27, https://verfassungsblog.de/die-corona-der-coronaleugner-und-das-versammlungsrecht/, DOI: 10.17176/20200827-183459-0.

One Comment

  1. Sally Buck Fri 25 Sep 2020 at 21:30 - Reply

    “Für sie müsste eigentlich gelten: Dass sie sich für ihr ebenso irrationales wie verantwortungsloses Treiben, wonach die Coronaregeln für sie selbst bei ihren Veranstaltungen nicht gelten sollen, auf die Grundrechte berufen können, ist ein starkes Zeichen funktionierender Meinungsfreiheit, die in Deutschland ohne Rücksicht auf Inhalt und Wert der Äußerungen garantiert ist.”

    Was ist eine Meinungs- und Versammlungsfreiheit wert, die vermehrt vor Verwaltungsgerichten und Oberverwaltungsgerichten eingeklagt werden muss?

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