Die neue Abschottung Chinas
In der Berichterstattung zur Eröffnung der Olympischen Spiele gerieten die sportlichen Ergebnisse in den Hintergrund. Vorherrschendes Thema waren und sind die radikalen Maßnahmen, mit denen die Organisatoren Chinas Null-Covid-Strategie auch angesichts des Zustroms von zehntausenden von Athlet:innen, Journalist:innen und Funktionär:innen aufrechterhalten wollen. Und wenn der Olympia-Tross nach dem 20. Februar die Heimreise antritt, wird sich deutlich zeigen, dass die Olympische Blase nur ein Indiz für ein viel grundlegendes Problem ist: die neue Abschottung Chinas.
Die Pandemie als Katalysator
Seit dem Beginn der Pandemie ist die Mobilität in Richtung China drastisch eingeschränkt. Die Auswirkungen sind in verschiedenen Bereichen spürbar. Der internationale Tourismus ist gänzlich zum Erliegen gekommen. Wirtschaftliche Kooperationen leiden ebenfalls unter den Reiserestriktionen. Und auch in der Wissenschaft macht sich zusehends die Erkenntnis breit, dass es aller Voraussicht nach nicht „nur“ bei einem dritten Jahr ohne direkten Zugang nach China blieben wird. Dies betrifft die Wissenschaftskooperation im Allgemeinen, insbesondere aber das Fach, das sich in Forschung und Lehre primär mit China beschäftigt, sprich die Sinologie oder die Chinawissenschaft.
Die Pandemie und damit einhergehend die chinesische Null-Covid-Strategie entpuppt sich als Katalysator für eine Entwicklung, die bereits vor einigen Jahren einsetzte. Auf internationalen Tagungen in China herrschte zuletzt eine zusehends angespannte Atmosphäre. Auffällig häufig waren Versuche wahrnehmbar, Forschungsthemen durch Bezugnahme auf Zitate des KP-Vorsitzenden Xi Jinping zu legitimieren. Der Druck, Vortragsskripte vorab einzureichen, nahm ebenfalls zu. Auch die Rahmenbedingungen für Feldforschung wurden zusehends repressiver. Hinzu kamen Unsicherheiten in Bezug auf die Sicherheit von Daten auf mobilen Endgeräten in einem Land, in dem der Alltag ohne Nutzung dieser Geräte kaum bestreitbar ist. 2017 sorgte eine Änderung des NGO-Gesetzes dafür, dass der Handlungsspielraum von ausländischen Stiftungen massiv eingeschränkt wurde. Angesichts der zunehmenden Restriktionen kam es nicht überraschend, als China dazu überging, ungewollte Chinaforschung durch die Verweigerung von Visa verhindern zu wollen. Zu spüren bekam dies im März letzten Jahres das Berliner Mercator-Institut für China-Studien (Merics), das gleich als ganze Institution auf die Liste der Sanktionierten kam. Als Reaktion auf die zunehmenden Repressionen kündigte Thorsten Brenner, Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin, letztes Jahr im Tagesspiegel an, künftig auf China-Reisen gänzlich zu verzichten. Mit dem Beginn der Pandemie wurde der wissenschaftliche Austausch mit China also keineswegs im vollen Schwunge ausgebremst, sondern er geriet mit bereits gedrosselter Geschwindigkeit in einen Zustand der Versandung.
Zu den von China ausgehenden Restriktionen kommt ein seit Jahren zunehmender Rechtfertigungsdruck, dem sich die Chinaforschung in Deutschland ausgesetzt sieht. Kritik wurde und wird vor allem an Konfuzius-Instituten festgemacht, die im wissenschaftlichen Austausch mit China eine wichtige Rolle spielen und deren Kontrolle durch die chinesische Regierung nicht wegdiskutiert werden kann. (Randbemerkung: Dass hieraus eine kollektive Abhängigkeit von oder gar Unterwerfung der deutschen Chinawissenschaft vor China resultiert, muss jedoch ausdrücklich in Abrede gestellt werden). Gleichzeitig wurde die politische Forderung nach einer Stärkung von China-Kompetenzen vorgebracht und entsprechende Förderprogramme aufgestellt. Auch wenn sich dieses Desiderat an Wissenschaftler:innen und Studierende aller Disziplinen und nicht primär an die Chinawissenschaft richtete, erscheint eine Umsetzung dieser Programme ohne Input der bereits vorhandenen China-Expertise nur schwer vorstellbar.
Forschung und Diskurs
Ist es also schlimm, wenn Tagungen, Feldforschung und andere Formen des unmittelbaren Austauschs mit Kolleg:innen in China vorerst auf digitale Kanäle verlagert werden müssen? Die Antwort lautet eindeutig Ja. Trotz aller Widrigkeiten der letzten Jahre: Der unmittelbare Austausch mit China hat die Chinawissenschaft seit den 1980er grundlegend verändert. Neben der inhaltlichen Diversifizierung, die sich insbesondere in dem Aufkommen der sozialwissenschaftlichen Chinaforschung widerspiegelt, waren die letzten Dekaden auch die Zeit des fachlichen Dialogs mit China. Für die Sinologie bedeutete dies unter anderem, dass der wissenschaftliche Austausch zunehmend in der chinesischen Sprache stattfand. Dies hatte sich wiederum der Tatsache zu verdanken, dass westdeutsche Studierende der Sinologie nach 1978 längere Studienaufenthalte in China antreten konnten; für Studierende aus der DDR bestand diese Möglichkeit schon deutlich früher. In der Regel wurden diese Aufenthalte für ein intensives Sprachstudium genutzt, was wiederum die Voraussetzung dafür war, dass Kooperation zunehmend in der für das Fach konstitutiven Sprache stattfand. Für Fächer wie die Romanistik mag die Symbiose von Diskursinhalten und Diskurssprache(n) schon lange eine Selbstverständlichkeit sein. Die Sinologie hatte diesbezüglich in den 1980er Jahren einen eklatanten Nachholbedarf. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass sich schrittweise kollegiale und sogar freundschaftliche Vertrauensverhältnisse entwickeln konnten, die sich häufig auch unter widrigen Rahmenbedingungen als belastbar erwiesen. Abseits der Kongressroutine waren Aufenthalte in China auch Momente des Beobachtens, Zuhörens, Diskutierens und fachlichen Kritisierens.
Besonders besorgniserregend ist die aktuelle Situation für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Mit dem Beginn der Pandemie mussten Forschungsprojekte auf unbestimmte Zeit unterbrochen werden. Verschiebungen von Abgabefristen und/oder Neudefinitionen von Projektinhalten sind die Folge. Studierenden in den Chinawissenschaften fehlt seit über zwei Jahren die Perspektive auf einen Studienaufenthalt in China. Zwar bewältigten chinesische Universitäten mit rasanter Geschwindigkeit den Umstieg auf ein digitales Lehrangebot. Es bedarf jedoch keiner weiteren Erklärung, dass eine zwei- bis vierstündige Liveschalte in das digitale Klassenzimmer kein Ersatz für das breite Spektrum an fachlichen und persönlichen Erfahrungen ist, die ein Studienaufenthalt im Lande bietet. Kurzum, die Chinawissenschaft braucht den unmittelbaren Austausch mit China. Dieser ist ein wesentlicher Faktor für innovative, vielseitige und empirisch anspruchsvolle Forschung.
Abschottung – Öffnung – Abschottung – Öffnung 2.0?
Bernhard Zand machte Anfang Februar im Spiegel (6/2022) auf eine tragische Ironie der Geschichte aufmerksam. Unmittelbar nach dem Ende der Olympischen Spiele jährt sich zum 50. Mal der Besuch des US-Präsidenten Nixon, der als Meilenstein auf dem Weg Chinas in Richtung Öffnung zum Westen gilt. Auf die hermetische Abschottung folgte 1978 offiziell die Politik der „Reform und Öffnung“. Reform wurde dabei stets als Wirtschaftsreform verstanden, wobei politische Reformen in der Vergangenheit allenfalls angedeutet wurden. Angesichts von Repressionen und Großmachtsgehabe wirft Zand die provokative Frage auf, ob sich Nixon geirrt habe, als er 1972 Mao Zedong die Öffnung des Landes schmackhaft machte. Letztlich verneint er diese Frage, und diese Absage an ein Zurück zur Abschottung kann und muss auch auf den Wissenschaftsaustausch übertragen werden. Der Münchener Sinologe und Präsident der Max Weber Stiftung Hans van Ess betonte in seinem „Plädoyer für den wissenschaftlichen Austausch mit China“ (FAZ 18.09.2020), dass wir mit der Aufrechterhaltung des Dialogs „nicht unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung aufs Spiel [setzen]. Im Gegenteil, nur so können wir unsere Überzeugungen kommunizieren und Meinungsverschiedenheiten ansprechen.“
Ob wir angesichts der von Masken, Schutzbrillen, Visieren und Ganzkörperanzügen geprägten Bilder aus Peking dazu neigen, die gegenwärtige Abschottung in ihren zeitlichen Dimensionen zu langfristig zu denken, kann aktuell niemand genau beurteilen. Gleiches gilt für die Frage, ob eine Null-Covid-Strategie überhaupt erfolgreich sein kann, wenn global Impfkampagnen mit natürlichen Infektionsdynamiken Hand in Hand gehen. Von der daraus resultierenden Frage, wie lange die Abschottung noch dauern wird, hängt ab, ob wir eines Tages in Bezug auf den Wissenschaftsaustausch mit China das Ende einer vorübergehenden Auszeit oder einen vollständigen Reset erleben, also eine Öffnung 2.0. Letzteres kann auf eine Neuausrichtung der Rahmenbedingungen hinauslaufen, die so grundlegend ist, dass der Austausch insgesamt erneut auf den Prüfstand käme.