Ursprung, Wandel und Zukunft der Verfassung: Dieter Grimm zum 80. Geburtstag
In seiner Integrität als Mensch, seiner Genauigkeit und Weitsicht als Rechtswissenschaftler, seiner klaren Sprache als Autor, seinem Engagement für Studierende als Hochschullehrer, seinem ausgeprägten Sinn für Recht und Gerechtigkeit als Bundesverfassungsrichter und seiner öffentlichen Wirkungskraft als Intellektueller ist Dieter Grimm ein Vorbild.
Wer ihm begegnet, ist sofort von seiner Freundlichkeit eingenommen. Dieter Grimm kann zuhören. Er neigt sich seinen Gesprächspartnern zu. Diese Geste ist keine Äußerlichkeit. Sie bringt zum Ausdruck, dass er seine Studenten, Kollegen und Freunde ernst nimmt und ihre Argumente verstehen möchte. In Debatten nimmt sich Dieter Grimm als Person zurück. Es geht ihm stets um die Sache. Auch seine Doktoranden und Postdocs berichten, dass es etwas Besonderes ist, einen rationalen Diskurs, in dem es auf das bessere Argument ankommt, in seinen Seminaren zu erleben.
Dieter Grimm schlägt Brücken zwischen Generationen, zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, zwischen Ländern, zwischen Wissenschaft und Praxis. Diese vielfältigen Bereiche kann er verknüpfen, weil er offen ist für Neues und für andere Kulturen. Als Stipendiat des Cusanuswerkes, der Begabtenförderung der katholischen Kirche, studierte Dieter Grimm in Frankfurt am Main, Freiburg, Berlin, an der Sorbonne und an der Harvard Universität. Als Hochschullehrer wirkte er zunächst an der Universität Bielefeld, bevor er 1999 an die Humboldt-Universität zu Berlin wechselte. Er lehrt seit vielen Jahren auch an der Yale Law School und veranstaltet beispielsweise das „Yale-Humboldt-Seminar“ zur Verfassungstheorie der Weimarer Republik. Als er überlegte, die Tätigkeit an der Yale Law School zu einem Abschluss zu bringen, haben die dortigen Kolleginnen und Kollegen vehement protestiert!
Von der Kompetenz und Integrationskraft Dieter Grimms konnten zwei weitere wissenschaftliche Institutionen mit interdisziplinärer und internationaler Orientierung profitieren: das Wissenschaftskolleg (Wiko) und das Wissenschaftszentrum zu Berlin für Sozialforschung (WZB). Dieter Grimm leitete von 2001 bis 2007 als Rektor das „Wiko“, an dem Wissenschaftler aus aller Welt und aus unterschiedlichen Disziplinen für ein Jahr forschen. Als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates des „WZB“ prägte Dieter Grimm mit seiner Freude an einem interdisziplinären Diskurs die Atmosphäre bei der Evaluation der Forschungsgruppen. Auch hier wurde immer wieder deutlich: Es geht Dieter Grimm um die Sache und die Betrachtung eines Projektes aus unterschiedlichen Perspektiven.
Als Bundesverfassungsrichter in der Zeit von 1987 bis 1999 schlug er die Brücke von der Wissenschaft zur Praxis und hat an wichtigen Entscheidungen zur Meinungsfreiheit, zum Rundfunkrecht, zur Montanmitbestimmung und zur Versammlungsfreiheit mitgewirkt. Sein Sondervotum zum „Reiten im Walde“ von 1989 zeigt einmal mehr seine analytische Genauigkeit und Weitsicht. Er unterscheidet zwischen der Freiheit des Einzelnen, zu tun und zu lassen, was er will und der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Dieter Grimm argumentiert, dass Artikel 2 Absatz 1 GG nicht jede erdenkliche menschliche Betätigung, sondern die „Integrität, Autonomie und Kommunikation des Einzelnen in ihren grundlegenden Bezügen schützt.“ Eine „Banalisierung der Grundrechte“ sei mit einer Ausuferung der Verfassungsbeschwerde verbunden. Die Persönlichkeitsentfaltung, die unter Grundrechtsschutz stehe, hänge nicht vom Reiten im Walde oder dem Füttern von Tauben in öffentlichen Anlagen ab. Letztlich zeigt Dieter Grimm mit diesem Sondervotum die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in einer Demokratie. Ein Verfassungsgericht hat die Aufgabe, den effektiven Schutz der Verfassung zu gewährleisten. Die von der Verfassung offen gelassenen Fragen sollten jedoch möglichst weitgehend der Gestaltungsfreiheit des demokratisch gewählten Gesetzgebers vorbehalten sein. Auch als Mitglied des Bundesverfassungsgerichtes war sich Dieter Grimm der Gefahren einer übermäßigen Justizialisierung von Politik durch Verfassungsrechtsprechung bewusst.
Ursprung, Wandel und Zukunft der Verfassung stehen im Mittelpunkt der rechtswissenschaftlichen Arbeiten Dieter Grimms. Die Verfassung im normativen Sinn hat einen revolutionären Ursprung. Sie entsteht Ende des 18. Jahrhunderts in den Revolutionen in Amerika und Frankreich. Den Kolonisten in Amerika ging es um die Unabhängigkeit von Großbritannien und eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung. In der französischen Revolution wurde im Prozess der politischen Umwälzungen auch die ständisch-feudale Gesellschaftsordnung abgeschafft. Eine Karikatur aus der französischen Revolution macht dies anschaulich. Die Karikatur zeigt die drei Stände – Klerus, Adel und den dritten Stand der Bauern und Bürger -, beim Schmieden neuer Verfassungen: „Schnell, schnell, schnell. Schmiede das Eisen, solange es heiß ist. Schnell, schnell, schnell. Viel Glück! Man muss mit dem Herzen am Werk sein.“ Auf dem Amboss liegt ein Buch mit der Aufschrift „Nouvelles Constitutions.“ Während auf der Karikatur aus dem Jahr 1789 noch die drei Stände an neuen Verfassungen arbeiten, führte die Einberufung der Generalstände im Mai 1789 schon bald zur Nationalversammlung, in der nicht mehr Stände, sondern die Vertreter der gesamten französischen Nation zusammenkamen. In den revolutionären Umbrüchen ging es also um ein neues Herrschaftssystem, nicht nur um das Austauschen von Herrschern.
Für Dieter Grimm ist es wichtig, diesen revolutionären Ursprung der Verfassung im Auge zu behalten. Oft werden Verrechtlichung von Politik und Konstitutionalisierung gleichgesetzt. Dies, so Grimm, führe zu einem „weithin entleerten Verfassungsbegriff.“ Mit einer Verfassung gründen freie und gleiche Bürger eine neue politische Ordnung. Sie allein entscheiden über die Prinzipien, Institutionen und Verfahren des Regierens. „Die Verfassung“, so Grimm, „hat ihren Ursprung im Volk als alleiniger legitimer Quelle öffentlicher Gewalt.“ Sinn der demokratisch konstituierten Herrschaft ist es, die Autonomie des Individuums zu schützen. Demokratie und Grundrechte gehören also zusammen. Ist politische Herrschaft einmal konstituiert, dann kann die Auseinandersetzung zwischen politischen Gegnern auf der Basis der Verfassung ausgetragen werden. „Was in der Verfassung steht, ist nicht mehr Thema, sondern Prämisse politischer Entscheidungen.“ Die Verfassung kann aber nur dann Prämisse politischer Entscheidungen sein, wenn sie Vorrang vor dem Gesetzesrecht hat und die „Einrichtung und Ausübung politischer Herrschaft“ auf umfassende Weise regelt.
Diese umfassende Steuerungsfähigkeit der Verfassung ist durch Veränderungen der Staatlichkeit gefährdet. Dieter Grimm publizierte seine Aufsätze zur Aushöhlung der Verfassung durch den inneren Wandel des Staates im Jahr 1991 in einem Band mit dem Titel „Die Zukunft der Verfassung.“ Die liberale Annahme, dass sich eine gerechte Sozialordnung im freien Spiel der Marktkräfte ohne staatliches Eingreifen einstelle, legitimierte die verfassungsmäßige Begrenzung staatlicher Herrschaft. Als sich die liberale Annahme als trügerisch herausstellte, war der Wohlfahrtsstaat eine mögliche Antwort. Es entwickelte sich in vielen europäischen Staaten ein neues Verständnis der staatlichen Schutzpflichten. Die Realisierung der Schutzpflichten im sozialstaatlichen Bereich ist jedoch mit Unwägbarkeiten verbunden, die der Staat nur begrenzt steuern kann. Die sozialstaatlichen Gesetze sind daher häufig allgemein gehalten und geben der Verwaltung nur noch Ziele vor. Derart allgemein gehaltene Gesetze lassen sich dann nur begrenzt auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen. Der verfassungsrechtliche Grundsatz, dass sich alle politische Herrschaft im Rahmen der demokratisch legitimierten Verfassung bewegen muss, wird damit ausgehöhlt.
Noch einschneidender als der innere Wandel wirken sich Europäisierung und Globalisierung als Phänomene des äußeren Wandels von Staatlichkeit auf die Geltungskraft der Verfassung aus. Diesem Thema widmet sich Dieter Grimm in seinem Buch „Die Zukunft der Verfassung II“ aus dem Jahr 2012. Politische Herrschaft wird im 21. Jahrhundert von zahlreichen Organisationen und Akteuren jenseits der Staatsgrenzen ausgeübt. Diese Akteure, so Grimm, sind nicht in „den Legitimations- und Verantwortungszusammenhang einbezogen…, den die nationalen Verfassungen vorschreiben.“ Die nationalen Verfassungen verlieren an Bedeutung. Es stellt sich daher die Frage, ob es eine Kompensation für diesen Bedeutungsverlust gibt und eine Konstitutionalisierung jenseits des Staates denkbar ist.
Als eine mögliche Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung nimmt Dieter Grimm den gesellschaftlichen Konstitutionalismus unter die Lupe. Die Verfassung soll hier ins Gesellschaftliche hinein erweitert werden. Aus zivilgesellschaftlichen Prozessen – und nicht aus einem einmaligen revolutionären Akt – gehe ein transnationales Recht hervor, das eine neue, vom Staat gelöste Form des Konstitutionalismus begründe. Global agierende Regime entwickelten in bestimmten Bereichen begrenzte Zivilverfassungen. Ein Beispiel ist die „Digitalverfassung“ des Internet-Regimes. Solche Teilsysteme seien in der Lage, nicht allein das Eigeninteresse, sondern auch das Gesamtinteresse zu berücksichtigen. Dieter Grimm ist skeptisch. Der private Charakter solcher Zivilverfassungen lasse es als fraglich erscheinen, ob diese sich selbst beschränken und das eigene Interesse überschreiten können. Die Skepsis leuchtet ein. Aber vielleicht lassen sich die Verfassungen der Staaten, die Rechtsordnungen internationaler Organisationen und das transnationale Recht durch neu zu entwickelnde Regeln koordinieren. Das Kunststück würde darin bestehen, die Differenz zwischen Verrechtlichung und Konstitutionalisierung nicht zu verwischen und gleichwohl das Potential zu nutzen, das sich aus der Dynamik und der Verknüpfung der unterschiedlichen Herrschaftsordnungen mit ihren unterschiedlichen Legitimationsquellen und Verfassungen für ein legitimes Regieren jenseits des Staates ergibt.
Während ein gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Realität noch kaum erkennbar ist, erfüllen die Verträge der Europäischen Union schon heute viele Funktionen einer Verfassung. Freilich fehlt den Verträgen die Grundlage in einer autonomen Entscheidung durch eine europäische verfassungsgebende Gewalt. Dies ist immer wieder thematisiert worden. Was aber übersehen wurde, ist eine weitere Eigenart der europäischen Verträge, auf die Dieter Grimm in seinem Buch „Europa ja – aber welches?“ aus dem Jahr 2016 aufmerksam macht. Er zeigt im Detail, auf welche Weise der Europäische Gerichtshof mit zwei Urteilen in den 1960er Jahren erreicht hat, dass die EU-Verträge wie eine Verfassung wirken. Individuen können aus den Verträgen direkt Rechte ableiten und diese vor den Gerichten durchsetzen. Die europäischen Verträge enthalten jedoch nicht nur Bestimmungen, die man in einer Verfassung erwartet und die sich auf eine dauerhafte Struktur für politische Entscheidungen beziehen. Die Verträge sind vielmehr voller konkreter Vorschriften zum Beispiel über den Verbraucherschutz, die in den Mitgliedstaaten Gesetzesrecht wären. Dieter Grimm bringt seine Diagnose auf einen kurzen Nenner: „Die EU ist über-konstitutionalisiert.“ Die detaillierten Bestimmungen der Verträge nehmen politische Entscheidungen vorweg und führen nach Grimm zu einer Entpolitisierung.
Bei den vielen Debatten über das Demokratiedefizit der EU wurden diese demokratischen Kosten der spezifisch europäischen Konstitutionalisierung übersehen. Dieter Grimm macht auch einen Vorschlag, wie diese Fehlentwicklung korrigiert werden könnte. Er plädiert für eine Umwandlung derjenigen Bestimmungen der Verträge, die nicht verfassungsrechtlichen Charakter haben, in Gesetzesrecht. Dies hätte eine „Repolitisierung“ zur Folge. Fragen, die nicht zum Verfassungsrecht gehören, könnten wieder in politischen Prozessen entschieden werden. Wie schwierig auch immer es sein mag, einen solchen Vorschlag zu realisieren: Wissenschaftler haben die Verantwortung, mit analytisch fundierten Lösungsmöglichkeiten einen Beitrag zum öffentlichen Diskurs zu leisten. Auch hierin ist Dieter Grimm ein Vorbild.
Dieter Grimm wird heute 80 Jahre alt. Möge er noch viele Jahre in bester Verfassung die Zukunft der Verfassung mit gestalten.
Ich darf mich den Gratulanten anschließen.
Dass er sich mit dem zitierten Satz im hohen Alter einmal mindestens potentiell auf Seiten einer sogenannten “Neuen Rechten” wiederfinden würde, hätte er sich vermutlich nicht träumen lassen
‘„Die Verfassung“, so Grimm, „hat ihren Ursprung im Volk als alleiniger legitimer Quelle öffentlicher Gewalt.“’
Den Satz kann man in jeder politischen Richtung finden. Die Neue Rechte hat wohl zu viel Fantasie.
Bis zu dem Tag, an dem im Grundgesetz “Volk”, durch “die, die jetzt nun mal da sind” o.ä. ersetzt wird, bedarf es keinerlei Phantasie.
Es reicht – bis dahin – lesen zu können.
Dann lesen Sie mal.
Volk = Staatsangehörige + nach Art. 116 GG Gleichgestellte. Weder bloßer Aufenthalt/Wohnsitz (BVerfGE 83, 37) noch ethnischer Volksbegriff (BVErfG, 2 BvB 1/13, Rn. 690).
@schorsch
Jawohl, und morgen sind das Volk alle außer die Marsianer, weil nicht existent und die ethnisch Deutschen, die nicht mehr.
Falls doch denkt, das “Verfassungsgericht” erneut darüber nach.
Nicht über die Marsianer, die gehören natürlich dazu, aber über die immer noch Existenten.
Da muss doch was gehen, gelle?
Das Schöne an einer Demokratie ist ja, dass wir uns als Gleichberechtigte in einem förmlichen Verfahren darauf einigen können (und uns darauf geeinigt haben!), wer zum Volk (“zu uns”) gehören soll.
Es gibt ein schönes Zitat aus “Demokratie – Zumutungen und Versprechen” des Berliner Staatsrechtlers Möllers. Keine Angst: Sie brauchen das Buch nicht einmal aufzuschlagen, das Zitat steht auf der Rückseite. Es lautet: “Viel vom Ressentiment gegen die Demokratie entstammt der Kränkung darüber, dass wir weder allein auf der Welt noch wichtiger als die anderen sind.”
Das geltende deutsche Staatsangehörigkeitsrecht ist demokratisch beschlossen worden. An der zitierten Stelle aus dem NPD-Verbot geht es nicht um seine inhaltliche Ausgestaltung, sondern darum, die Möglichkeit, über die Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts demokratisch zu entscheiden, zu sichern. Sie können für eine andere Ausgestaltung streiten (und müssen dann unter Umständen erklären, wieso Sie bspw. dauerhaft Herrschaftsunterworfenen, die die Bedingungen des 10 StAG erfüllen, die politische Mitbestimmung vorenthalten wollen). Aber wenn Sie der Mehrheit das Recht absprechen, anders zu entscheiden, weil Sie glauben, Deutsche könne man durch Schädelvermessung von Nichtdeutschen unterscheiden, erliegen Sie nicht nur intellektuell einem Fehlschluss – Sie sind auch ein Verfassungsfeind.
“Das geltende deutsche Staatsangehörigkeitsrecht ist demokratisch beschlossen worden.”
Wow, da kann ich jetzt ja mal wirklich etwas lernen. Wann wurde die entsprechende Volksabstimmung nochmal abgehalten?
Ach, wir haben keine Volksabstimmung, wir haben dafür Merkel, die uns auch gleich erklärt, wie sie das mit dem Volk so sieht, “jeder, der in diesem Land lebt” …
… und siehe da, Merkel ist auch ein Verfassungfeind – und im Nebenjob auch noch Kanzlerin!
seufz.
@schorsch: Treffender kann man es nicht sagen…