Digitalisierung, Parteitage und innerparteiliche Demokratie
Parteitage werden, und das nicht ohne Grund, als das Hochamt der innerparteilichen Demokratie angesehen. Schon immer erfüllen sie eine ganze Reihe unterschiedlicher Aufgaben. Grundsätzlich kann man zwischen der Binnen – und Außenwirkung von Parteitagen unterscheiden. Im Zuge der zunehmenden Mediatisierung zeigt sich die Relevanz der Außenwirkung schon daran, dass sich die Parteitagsregie auch am Programmschema der Fernsehanstalten orientiert. Kleine Anekdote am Rande: Auch schon zu Zeiten, als die damals Fundis genannten Kräfte bei den sich etablierenden Grünen noch lautstark gegen die „Mediengeilheit“ der Realos zu Felde zogen, wussten auch sie schon ganz genau, auf welchen Plätzen im Parteitagssaal man besser im Fernsehbild war. In jüngerer Zeit hat sich dann noch die mediale Unsitte ausgebreitet, die Dauer des Beifalls für die Hauptredner auf Parteitagen als Indikator für deren politischen Rückhalt in der Partei zu nehmen.
Ungeachtet solcher eher oberflächlichen Aspekte bleibt festzuhalten, dass Parteitage einen erheblichen Einfluss auf die Wahrnehmung einer Partei in der breiten Öffentlichkeit haben. Sie dienen der Selbstdarstellung der Partei. Man könnte auch sagen ihrer Selbstinszenierung – vor allem der ihrer Führungskräfte.
Außendarstellung und Willensbildung
Dieser Selbstinszenierung kommt regelmäßig die vor allem in Deutschland verfassungsrechtlich stark abgesicherte innerparteiliche Demokratie in die Quere. Der Parteitag als höchstes „Legislativorgan“ der Partei eröffnet in allen deutschen Parteien der Parteibasis nicht unwesentliche Mitwirkungs- und Mitsprachemöglichkeiten. Selbstverständlich unterscheiden sich die Parteien ein wenig hinsichtlich der Hürden, die sie errichtet haben, um kleinere Gruppen von einfachen Mitgliedern daran zu hindern, Anträge auf dem Parteitag zur Diskussion zu stellen. Aber alle etablierten Parteien müssen erhebliche Mühe darauf verwenden, Anträge, die der Parteitagsregie in die Quere kommen, zu entschärfen oder so zusammenzuführen, dass sie nicht offensichtlich im Widerspruch zum Willen der Führungselite der Partei stehen. Das erfordert in der Regel ein gewisses Maß an Intransparenz und Ausüben von politischer Führung.
Nun hat die Pandemie dazu geführt, dass Parteitage vielfach in den virtuellen Raum verlegt wurden. Welche Folgen für die innerparteiliche Demokratie hatte das? Zunächst rückte damit die Außenwirkung noch stärker ins Zentrum der Funktionen eines Parteitages. Kandidaten, die in einem (fast) leeren Raum in die Fernsehkameras sprechen, treten schwerlich mit dem so genannten Parteivolk in Interaktion. Beifall oder Missfallensbekundungen entfallen völlig. Die Redner wissen schlichtweg nicht, ob Sie die Stimmung der Versammlung treffen oder nicht. Sämtliche informellen, aber nicht weniger wichtigen Mechanismen der Willensbildung auf Parteitagen fallen notwendigerweise aus: von den informellen Gesprächen an der Kaffeebar bis hin zu ad-hoc Zusammenkünften von Landesgruppen, Diskussionszirkeln oder Parteiflügeln, die der politischen Koordination dienen – nichts davon kann auf einem virtuellen Parteitag auch nur annähernd im selben Ausmaß stattfinden. Mit anderen Worten: Parteitage ohne physische Präsenz sind in erster Linie der Außendarstellung gewidmet, während die Binnenfunktion, die innerparteiliche Demokratie, also das Ringen um Lösungen und Kompromisse, notwendigerweise stark in den Hintergrund treten.
Dieses etwas ernüchternde Fazit steht im Widerspruch zu der weit verbreiteten Euphorie hinsichtlich der Digitalisierung des politischen Prozesses. Ermöglicht ein digitaler Parteitag nicht eine viel stärkere Präsenz der Parteibasis? Natürlich nicht, denn die Regeln der Delegiertenauswahl bleiben (einstweilen) die gleichen. Auch wenn es trivial ist: Digitalisierung ist zunächst nur eine Veränderung des Kommunikationskanals und damit auch der Kommunikationsqualität. Natürlich ermöglicht digitale Technologie grundsätzlich die Beteiligung einer viel größeren Zahl von Teilnehmern – zumindest als Zuschauer, aber auch als Teilnehmer von Abstimmungen. Und damit sind die zwei Potenzialbereiche der Digitalisierung schon beschrieben: Außendarstellung und Entscheidungen. Der zentrale Aspekt von Parteitagen, nämlich die Willensbildung im Austausch mit anderen, vor Ort präsenten, Teilnehmern kann ein digitales Format schlicht nicht leisten. Dies gilt ungeachtet vieler Versuche der Online-Deliberation, beispielsweise bei Verfahren der Bürgerbeteiligung, da diese sich in der Regel über längere Zeiträume erstrecken und überdies häufig mit mangelnder Nachfrage zu kämpfen haben.
Plebiszitäre und versammlungsbasierte Verfahren
Und damit weitet sich der Blick zu einem weit verbreiteten Missverständnis, das auch jetzt wieder im Zusammenhang mit der Mitgliederabstimmung über den CDU-Vorsitz vielfach geäußert wurde. Die durch digitale Technik leichter mögliche Ausweitung des Teilnehmerkreises an Entscheidungsprozessen ist nicht gleichbedeutend mit einer Erhöhung ihrer demokratischen Qualität. Vielmehr ändert sich die inhärente Logik des Entscheidungsprozesses.
Plebiszitäre Entscheidungsverfahren, also Verfahren unter der Beteiligung aller Mitglieder einer politischen Einheit, in unserem Falle einer politischen Partei, bedeuten, dass die Formulierung von Entscheidungsalternativen und die Entscheidung über diese auseinanderfallen. Während eine meist kleine Gruppe auf der Führungsebene über die Entscheidungsalternativen befindet, seien es Personalvorschläge oder programmatische Positionen, bleibt der Mitgliedschaft nur die Wahl zwischen Zustimmung und Ablehnung. Ganz anders bei versammlungsbasierten Entscheidungsverfahren.1) Hier können die Entscheidungsalternativen nicht nur diskutiert werden, sondern sie werden in aller Regel auch durch diejenigen, die an der Entscheidung teilnehmen, noch Änderungen erfahren. Selbst bei Personalentscheidungen sind häufig spontane Kandidaturen möglich, in jedem Fall müssen sich die Kandidaten der Diskussion mit der sie wählenden Versammlung stellen.
Nicht ohne Grund ist darauf hingewiesen worden, dass plebiszitäre Verfahren tendenziell eher die Führung eine Partei stärken, statt der Basis mehr Macht zu geben.2) Zwar sind die empirischen Befunde nicht eindeutig und es gibt auch Hinweise, dass plebiszitäre Verfahren tatsächlich die Macht der Parteiführung einschränken können.3) Diese Sichtweise würde Friedrich Merz Recht geben, der die Basisabstimmung ja bekanntermaßen als Mittel betrachtete, das „Parteiestablishment“ zu umgehen. Wie genau sich plebiszitäre Verfahren auswirken, ist letztlich auch davon abhängig, wer genau auf einem Parteitag präsent ist, d.h. wer durch die Stärkung plebiszitärer Verfahren entmachtet wird.
Während manche Parteitage fast ausschließlich Funktionärsversammlungen sind, die bisweilen sehr stark durch die Parteiführungen kontrollierbar bzw. diesen verpflichtet sind, sind andere Parteitage zu einem größeren Anteil tatsächlich Versammlungen der Parteibasis. Ein kleines Rechenexempel mag hier genügen: die CSU, die de facto ein Landesverband ist, hat auf ihren Parteitagen die fast gleiche Anzahl von Delegierten wie die CDU. Die Vermutung liegt nahe, dass auf einem CSU-Parteitag die Basis leichter zu Wort kommt als bei der Schwesterpartei CDU, wo größtenteils Funktionsträger auf dem Parteitag vertreten sind.
Wenn plebiszitäre Entscheidungsverfahren also ein Mehr an innerparteilicher Mitbestimmung bedeuten können, dann lohnt sich in jedem Falle das Nachdenken darüber, unter welchen Bedingungen dies der Fall sein kann. Vieles spricht dafür, dass die Kombination von versammlungsbasierten und plebiszitären Verfahren das leisten kann. Wenn zunächst in hinreichend großen Versammlungen über Entscheidungen diskutiert wird und anschließend bestimmte Fragen der Parteibasis zur Entscheidung vorgelegt werden, könnte man das Beste beider Entscheidungsverfahren miteinander verbinden: öffentlicher Austausch der Argumente inklusive der möglichen Veränderung der Entscheidungsalternativen mit einer möglichst großen Inklusivität bei der Entscheidung, d .h. mit einem möglichst großen Kreis der Entscheidungsberechtigten.
Selbst die Öffnung der Versammlung für Eingaben aus dem virtuellen Raum ist eine Möglichkeit. Wichtig ist hier aber die zeitliche Eingrenzung: Kein gewöhnliches Parteimitglied wird einen Parteitag im Netz verfolgen wollen, der länger dauert, als das bei heutigen Parteitagen der Fall ist. Parteitage sollten nicht zu digitalen oder hybriden Deliberationsarenen werden, die diejenigen bevorzugen, die unbegrenzt Zeit für die Politik haben.
Bei der Öffnung von plebiszitären Entscheidungen für Nicht-Mitglieder, wie sie vor allem in Frankreich und Italien bei Personalentscheidungen praktiziert wird, ist zu bedenken, dass damit wichtige Anreize für eine reguläre Mitgliedschaft entfallen. Es ist wohl kein Zufall, dass die Einführung von „Open Primaries“ vor allem in den Ländern erfolgt ist, wo die Parteien ohnehin schon mit erheblichen organisatorischen Diskontinuitäten konfrontiert sind. Eine Stärkung der Partei im Hinblick auf organisatorische und programmatische Einheit ist von solchen Strategien eher nicht zu erwarten.
Personalplebiszite überwiegen
Interessanterweise zeigt eine neue Studie zu Mitgliederabstimmungen in Parteien, dass europäischen Parteien plebiszitäre Entscheidungen ganz überwiegend bei Personalentscheidungen nutzen, während Abstimmungen über Sachfragen selten sind.4) Dies würde darauf hindeuten, dass der Partei als Organisation eine wichtige Rolle bei der Entscheidung über die inhaltliche Politik bleibt. Ob hier tatsächlich den Parteitagen eine wichtige Bedeutung zukommt, oder ob Richtungsentscheidungen nicht doch viel stärker an Personalentscheidungen gekoppelt sind, ist eine Frage, die in der Forschung diskutiert wird. Hinzu kommt, dass der Einfluss der Partei im Parlament und vor allem in den Regierungsämtern im Vergleich zu der außerparlamentarischen Partei erheblich gewachsen ist.5) Da unvorhergesehene Entwicklungen und Krisen die Politik immer mehr prägen, sinkt die Bindungswirkung von Parteiprogrammen und Parteitagsentscheidungen gegenüber dem, was Parlamentsfraktionen und Regierungen politisch gestalten müssen. Die spektakuläre verteidigungs- und außenpolitische Kehrtwende, die von Kanzler Olaf Scholz zu Beginn des Ukrainekrieges eingeleitet wurde, ist ein deutlicher Beleg für die Gültigkeit der These, dass Parteipolitik zunehmend von präsidentiellen Regierungschefs geformt wird, die zu einem erheblichen Grade an ihren Parteien vorbei regieren.6) Aus dieser Perspektive ist es zumindest fraglich, ob Parteitage mittelfristig eine attraktive Arena innerparteilicher Partizipation bleiben.
References
↑1 | von dem Berge, Benjamin & Thomas Poguntke (2017), ‘Varieties of Intra-Party Democracy: Conceptualisation and Index Construction’, in: Susan E. Scarrow, Paul D. Webb, & Thomas Poguntke (Hrsg.), Organizing Political Parties: Representation, Participation and Power, Oxford: Oxford University Press, S. 136 – 157.; Poguntke, Thomas, Susan E. Sarrow, Paul D. Webb et al. (2016), ‘Party Rules, Party Resources and the Politics of Parliamentary Democracies: How Parties Organize in the 21st Century’, in: Party Politics, Bd. 22, H. 6, S. 661 – 678. |
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↑2 | Katz, Richard S. and Peter Mair (1995) Changing Models of Party Organization and Party Democracy: The Emergence of the Cartel Party. Party Politics, 1: 5-28. |
↑3 | Scarrow, Susan E., Paul D. Webb and Thomas Poguntke (2022) Intra-Party Decision-making in Contemporary Europe: Improving Representation or Ruling with Empty Shells? Irish Political Studies, 10.1080/07907184.2022.2046430. |
↑4 | Ibid. |
↑5 | Katz, Richard S. and Peter Mair (2002) The Ascendancy of the Party in Public Office: Party Organizational Change in Twentieth-Century Democracies. in: Richard Gunther, José Ramón Montero and Juan J. Linz (Hrsg.) Political Parties. Old Concepts and New Challenges, Oxford, Oxford University Press, S 113-35. |
↑6 | Poguntke, Thomas and Paul D. Webb (2005) The Presidentialization of Politics in Democratic Societies. A Framework for Analysis. in: Thomas Poguntke and Paul D. Webb (eds.) The Presidentialization of Politics: A Comparative Studies of Modern Democracies, Oxford, Oxford University Press, S. 1-25. |
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