Ein Trend und seine Folgen
Zugang im Lockdown aus bibliothekarischer Sicht
Die pandemiebedingten Auswirkungen auf den Zugang zu Bibliotheksbeständen im Allgemeinen und zu rechtswissenschaftlicher Literatur im Besonderen lassen sich gut am Beispiel der regulären rechtswissenschaftlichen Literaturversorgung an der Georg-August-Universität Göttingen verdeutlichen.
Das Bibliothekssystem der Uni Göttingen ist bezogen auf die Versorgung mit rechtswissenschaftlicher Literatur grundlegend zweischichtig aufgebaut. Das bedeutet zum einen, dass die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB) parallel zu der Bibliothek der Juristischen Fakultät erwirbt. Zum anderen werden die Medien bezogen auf die verschiedenen Aufgaben der Universitätsbibliothek und der Teilbibliotheken (Fakultäts-, Instituts- und Lehrstuhlbibliotheken) unterschiedlich bereitgestellt.
Die Fakultäts- und Lehrstuhlmittel übertreffen das Erwerbungsbudget der SUB bei weitem, da die Teilbibliotheken primär den Einrichtungen selbst und deren Angehörigen zur Verfügung stehen. Demgegenüber ist die SUB die zentrale Ausleih- und Archivbibliothek der Universität. Sie übernimmt darüber hinaus aber auch staatsbibliothekarische Aufgaben in der überregionalen Literaturversorgung, etwa den Betrieb mehrerer DFG-geförderter Fachinformationsdienste für die Wissenschaft (ehemals Sondersammelgebiete) oder des Büchertransportdienstes Deutschland, der fortlaufend die Logistikkonzepte für den jährlich ca. 750.000 Einheiten umfassenden nationalen Fernleihverkehr zwischen den Bibliotheken in Deutschland koordiniert und optimiert.
Die Schließung aller Bibliotheken am Standort führte zu einem abrupten Zugangsverlust zu dringend benötigten Beständen für Lehre und Forschung. Obwohl durch verschiedene Zusatzservices und Sondergeschäftsgänge der Bibliotheken während der Schließzeiten versucht wurde, eine der regulären Nutzung vergleichbare Situation zu schaffen, war schnell klar, dass eine umfassende digitale Nutzung der einzig praktikable Weg war.
Die Möglichkeit, Präsenzbestände im Rahmen einer Notausleihe zu erhalten, sowie ein Scan- und Lieferdienst für dringend benötigte Werke wurden zwar rege genutzt, doch mit den steigenden Nachfragen nach digitaler Literatur zeichnete sich bereits in den Anfangswochen der pandemiebedingten Schließung ein erster Trend ab.
Dieser Trend verstärkte sich und machte es unumgänglich, auf verstärkte Erwerbung elektronischer Bestände umzustellen. Es gelang, befristete Zugänge zu Gesamtbeständen juristischer Fachverlage bereitzustellen, die nicht bereits über den Zugang zu großen Volltextdatenbanken abgedeckt waren, um schnell eine adäquate Versorgungssituation zu schaffen. Studientitel konnten im großen Umfang durch die Lizenzierung von E-Book-Paketen und Datenbankmodule ebenfalls digital bereitgestellt werden.
Die Pandemie verstärkt erwartungsgemäß die Rezeption elektronischer Medien
An der wohl marktführenden juristischen Volltextdatenbank lassen sich die veränderten Nutzungsgewohnheiten von Studierenden und Wissenschaftler:innen exemplarisch sehr gut nachvollziehen.
Im Vergleich zum Jahr 2019 wuchs die Jahressumme der Dokumentenabrufe bereits im ersten Pandemiejahr 2020 um insgesamt 37%, obwohl die Nutzung von Printbeständen erst eingeschränkt wurde, als die Bibliotheken Mitte März 2020 schlossen. Vergleicht man die Zahlen der Quartale II, III und IV der Jahre 2019 und 2020, so ergibt sich hier ein prozentualer Anstieg um jeweils 63%, 45% und 51%; vom Q/I 2021 zum Q/I 2020 ebenfalls um 52%. Ähnlich entwickeln sich die Nutzungs- und Abrufzahlen anderer elektronischer Volltextdatenbanken und Angebote.
Die Ausgaben für rechtswissenschaftliche Printtitel zugunsten elektronischer Literatur sind von vor der Pandemie (2019) bezogen auf das erste Pandemiejahr (2020) um 38% zurückgegangen.
Erwerbungsetats müssen wieder steigen – nicht erst mittel- bis langfristig, sondern sofort
Der große Vorteil der umfassenden Umstellung auf elektronische Versorgung war natürlich der einfache, ortsunabhängige Zugriff auf die Werke, sodass die fehlende Nutzungsmöglichkeit der Printbestände der Bibliothek nicht allzu sehr schmerzte.
Allerdings bringt eine solche Situation auch gewichtige Nachteile mit sich. Grundsätzlich sind elektronische Werke höherpreisig, was sicherlich damit gerechtfertigt werden kann, dass eine umfangreichere, ortsunabhängige Parallelnutzung stattfinden könnte und die Anschaffungskosten oft pauschal denen von Mehrfachexemplaren der Printwerke entsprechen. Beispielsweise werden den wissenschaftlichen Bibliotheken beziehungsweise Hochschulen die elektronischen Versionen der Lehrbücher der Verlage C.H.Beck, Franz Vahlen und auch weiterer Verlage ausschließlich zum zehnfachen Preis eines Printexemplars angeboten. Es wird aber nicht jedes rechtswissenschaftliche Printwerk in Mehrfachexemplaren in die Bibliotheksbestände aufgenommen, sodass die elektronische Erwerbung in der Summe wesentlich teurer wird.
Noch deutlicher zeigt sich der Preisunterschied von Print- zu elektronischer Version beim Großkommentar Staudinger. Das Staudinger Einsteigerpaket in Print 2021 mit allen 111 Bänden der Jahre 2000 bis 2020 kostet insgesamt 11.999 €, die elektronische Version über die Volltextdatenbank juris im Abonnement allein der Jahre 2016 bis 2020 in der Summe etwa 38.650 €, hinzu kommen ca. 11.120 € für den Zugriff von außerhalb des Universitätsnetzes. Dies hat zur Folge, dass keine breit angelegte und ausschließlich an den Bedürfnissen aller Nutzerinnen und Nutzer ausgerichtete Erwerbung mehr möglich war, sondern lediglich eine Absicherung der (elektronischen) Grundversorgung. Aus der Umschichtung der Erwerbungsmittel entstehende Erwerbungslücken im Printbereich konnten mit regulären Mitteln bisher nicht mehr geschlossen werden.
Einen weiteren Nachteil des gesteigerten digitalen Bedarfs offenbart die Stagnation der Erwerbungsbudgets, und das schon seit Jahren. Die regelmäßige Preissteigerung der zu erwerbenden elektronischen Einzeltitel und Pakete beziehungsweise Datenbanklizenzen und der fehlende Inflationsausgleich führen zu einer schlechteren Versorgungslage als früher.
Um diesem Prozess entgegenzuwirken, bedarf es einer Anpassung der Erwerbungsetats der Bibliotheken an die nicht nur pandemiebedingt geänderten Umstände, und dies sofort.
Die letzte Erhöhung des Budgets für rechtswissenschaftliche Literatur an der SUB Göttingen fand 2017, also vor vier Jahren statt. In dieser Zeit sind allein der BGB-Kommentar Palandt aus dem Hause C.H.Beck um 3,5%, der StGB-Kommentar Fischer um 7,6% und Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (Großes Lehrbuch) um 11,2% im Preis gestiegen.
Die zusätzlichen Kosten, die durch die pandemiebedingte Umstellung auf eine Versorgung mit primär digitalen Medien entstanden sind, müssen im Hinblick auf die generell verbesserungswürdige Grundausstattung der Bibliotheken besonders berücksichtigt werden. Exzellente Lehrstuhlbesetzungen gelingen nicht selten nur dann, wenn Erwerbungsmittel großzügig zur Verfügung gestellt werden, sodass auch spezielle Forschungsinteressen umfassend abgedeckt werden können.
Die Nutzung großer Volltextdatenbanken und Pakete elektronischer Medien steigt zulasten derjenigen Werke, die entweder nicht elektronisch verfügbar beziehungsweise von der Einrichtung nicht lizenziert sind.
Die erzwungenermaßen fast ausschließlich digital stattfindende Nutzung führt zu einer „Vermainstreamung“ der Rezeption rechtswissenschaftlicher Werke. Spezialliteratur ist entweder überhaupt nicht elektronisch verfügbar oder lediglich in hochpreisigen Sonderangeboten wie Fachmodulen einzelner Volltextdatenbanken enthalten, die aufgrund begrenzter Mittel nicht im erforderlichen Umfang lizenziert werden können. Da diese Literatur jedoch nur bedingt substituierbar ist und der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn einer umfassenden Betrachtung der grundlegenden Rechtsprobleme aus verschiedensten Blickrichtungen bedarf, reicht eine elektronische Grundversorgung im Sinne einer Anschaffung von lediglich Massenmedien bei Weitem nicht aus. Der finanzielle Zwang, sich jedoch genau auf diese Versorgung zu fokussieren, schadet dem Wissenschaftsstandort immens.
Problematisch kommt hinzu, dass selbst bei einer ausreichenden Gegenfinanzierung der elektronischen Versorgung ein Großteil aller benötigter rechtswissenschaftlicher Literatur und anderer Quellen schlicht nicht elektronisch verfügbar sind. Dadurch entstand für die Studierenden und Wissenschaftler:innen der Zwang, auch weiterhin Zugang zu den in den Bibliotheken vorhandenen Printexemplaren zu erhalten. Diese Problematik verschärfte sich besonders durch die Tatsache, dass beispielsweise in der Zentralbibliothek der SUB lediglich 160 Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt werden konnten, die Bibliothek vor der Pandemie jedoch im Schnitt 6.000 reguläre Nutzerinnen und Nutzer pro Tag zu verzeichnen hatte – zu Prüfungszeiten noch einmal deutlich mehr.
Bestehende Abhängigkeiten gegenüber rechtswissenschaftlicher, digitaler monopolartiger Angebote werden verstärkt
Bereits vor der Pandemie war offensichtlich, dass kostenintensive Literaturversorgung mittels elektronischer Volltextdatenbanken fast nicht mehr aus dem Universitätsalltag weggedacht werden kann. Der pandemiebedingte Zwang in die digitale Nutzung hat dies weiter verstärkt.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich ein Großteil der so lizenzierten Inhalte nicht zum Bestandsaufbau der Bibliotheken eignet, da lediglich der Zugang für die Dauer der jeweiligen Lizenz besteht und dieser nach Abbestellung von Modulen oder Datenbanken in Gänze entfällt. Solange es hier keinen Ausgleich durch Printexemplare gibt – und vorausgesetzt, dass diese aufgrund von pandemiebedingten Zugangseinschränkungen der Bibliotheken überhaupt nutzbar sind – driftet man ziemlich schnell in eine Abhängigkeit bestimmter konkurrenzloser elektronischer Verlagsangebote, wie der großen juristischen Volltextdatenbanken beck-online oder juris.
Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft – nur halt nicht da, wo es inhaltlich keine Konkurrenz gibt beziehungsweise zu einem Großteil der in den Volltextdatenbanken enthaltenen Inhalte kein Substitut geben kann.
Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas, das den Trend von der printlastigen Rezeption juristischer Literatur in den Bibliotheken hin zur elektronischen Nutzung von zu Hause aus rapide beschleunigt. Aller Voraussicht nach wird sich dieser Effekt mit dem Ende der pandemiebedingten Einschränkungen zwar etwas verlangsamen, vermutlich jedoch nicht umkehren, sodass die Sichtbarkeit nicht elektronisch existierender rechtswissenschaftlicher Werke weiter abnehmen wird. Demgegenüber wird der Bedarf an elektronisch zugänglichen Medien stetig steigen.
Für die umfassende Versorgung von Studierenden und Wissenschaftler:innen durch die Bibliotheken ist das schlecht. Stagnierende Bibliotheksetats und ein immenser Mehrbedarf an Finanzierungsmitteln für elektronische Medien werden dazu führen, dass Erwerbungswünsche künftig kaum noch bedient und lediglich eine (elektronische) Grundversorgung aufrechterhalten werden können. Noch ist die Versorgungssituation als gut zu bezeichnen – wie dies am Ende der pandemiebedingten Einschränkungen und der damit verbundenen Zusatzkosten aussieht, lässt sich derzeit jedoch nur sehr schwer abschätzen.