08 March 2012

Ende der Flitterwochen: Europa jenseits des Marktes

Von MORITZ HARTMANN und FLORIS DE WITTE

Sisyphos ist ein Gefangener der Unvermeidbarkeit: Der tragische Held der griechischen Mythologie muss für immer einen Felsbrocken den Hang hinaufrollen, auch wenn der Fels kurz vor dem Gipfel unaufhaltsam wieder hinunterrollt. Die Sisyphos’sche Perspektive der Vergeblichkeit erinnert an das Europa von heute: Europa ist ein Gefangener der Zirkularität der Märkte geworden. Die zirkulären Versuche der Politik, die Märkte zu stabilisieren, manifestieren das Primat des Ökonomischen über das Politische und verwässern demokratische Grundprinzipien, unterstellen die politische Gleichgültigkeit der europäischen Bürger und widersetzen sich den Kausalitäten von ökonomischer Theorie und politischer Praxis. Der Diskurs über die Zukunft Europas endet an den Grenzen des Nationalstaats. Die „Technokratie“ verteilt die Ressourcen, orientiert sich aber an den Sehnsüchten der Ökonomie. Und wir, die Europäer, werden beiseite geschoben. Wir sollen betäubt werden durch die machtvolle Sprache der Eurobonds und Wirkungshebel, der Haushaltsdisziplin und Schuldenbremse, der institutionellen Synergieeffekte und neuer Vertragsrevisionen. Die politischen Mechanismen folgen der Unvermeidbarkeit funktionierender Märkte und entsprechen doch nur einer schnellen Medizin gegen den oberflächlichen Schmerz. Aber die Medizin kann gar nicht helfen: das System selbst bereitet uns den Schmerz.

Es ist darum an der Zeit, die Stimme zu erheben. Die Stabilität der Märkte wird die Zukunft der jungen Europäer bestimmen. Wir verstehen unsere Lebensperspektive aber nicht einfach als Nebenkategorie von funktionierenden Märkten. Für uns ist Europa mehr als der Markt. Die Bürger Europas sind mehr als Verbraucher. Die politischen Zielvorgaben sollten deshalb den Markt sozial verträglich, der Markt aber nicht ausschließlich die politischen Verantwortungszusammenhänge ökonomisch verlässlich machen. Wir brauchen die Politik für die Einlösung unserer Ideale, Ideen und Hoffnungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte in einem Europa, das wir gerade suchen müssen.

Wir glauben an die Europa, weil wir uns als Europäer fühlen. Wir gestalten es heute und morgen. In Lodz und Odense, Sevilla und Nicosia, eines Tages in Split und Izmir. Durch Reisen und Gespräche, durch die Arbeit und das Studium. Der Nationalstaat ist vielleicht der Aussteller unserer Reisepässe; Europa aber ist unsere Identität. Überall sind wir Europäer, auch auf kurzen Ryanairflügen. Im nächsten Sommer, in der Ukraine und in Polen, werden wir uns als Europäer begegnen. Wir feiern unsere Gemeinsamkeiten – und unsere Unterschiede. Wir sprechen in den Sprachen, die uns gerade in den Sinn kommen. Und das gleiche werden wir auch in London machen. Sogar zuhause sind wir deshalb Europäer. Unsere Friseurin ist aus Riga, die Bedienung in der italienischen Espressobar in Dublin kommt aus Brno. Wir hören belgische Musik aus dem französischen Radio, während wir in Göteborg eine Pizza essen. Die Betreuerin unserer Großmutter kommt aus Coimbra. Unser Lieblingsfußballspieler ist in Gelsenkirchen geboren und spielt in Madrid, unser Professor in Groningen kommt ursprünglich aus Helsinki. Ein offenes und freies Europa war seit jeher der Traum von Generationen. Es ist unsere Realität.

Europa ist deshalb mehr als ein Forum ökonomischer Rationalisierung. Die Reduktion Europas auf den Binnenmarkt unterwandet die europäischen Bürger, ihre Leistungen und Rechte: Die Bürger Europas sind keine eindimensionalen Verbraucher und nicht nur Gewinner der europäischen Grundfreiheiten. Die Leistungen von Europa sind größer als das nächste Rating von Standard & Poor’s. Die Berechtigungen der europäischen Bürger rufen deshalb nach einer neuen Erzählung Europas – jenseits ökonomischer Stabilität. Es ist an der Zeit, die europäische Erzählung um eine neues Kapitel zu erweitern und durch eine gemeinsame Zukunftsperspektive zu ergänzen.

Wir setzen uns deshalb dafür ein, die Flitterwochen des Marktes in Europa zu beenden. Hierfür entwickeln wir einen neuen Erzählstrang der europäischen Einigung, die mehr Platz bietet für die normativen Ambitionen Europas. Wir müssen das ökonomische Markt-Verständnis von Europa entschlüsseln und ein anderes Gesicht von Europa jenseits des Marktes entwerfen. Das neue Europa sollte stattdessen ein Europa des Vertrauens sein, gerichtet auf das Sehnsuchtsstreben der jüngeren Generationen, um den politischen Diskurs in eine neue Richtung zu lenken. Wir müssen die europäische Alltagssprache überwinden, um nicht zwischen Unvermeidbarkeit und Zirkularität stecken zu bleiben. Nur so können wir uns fragen, wer wir sind, was wir wollen und wie wir unsere Ziele erreichen können.

Vertrauen

Auch wenn sich die Europäische Union durch die politische Metamorphose von einem wirtschaftlichen Friedensprojekt der Nachkriegszeit in einen politischen Raum der Freizügigkeit verwandelt hat, versteht sich der operative Code Europas nach wie vor als ökonomische Unternehmung. Die europäische Integration beschreibt deshalb einen erfolgreichen Modus, die Vielfalt nationaler Volkswirtschaften durch ein übergeordnetes Marktprojekt zu einen. Dieses ideelle Projekt von Europa wird aber nicht nur durch wirtschaftliche Homogenität zusammengehalten. Europa wird stattdessen von der kulturellen Vielfalt der Menschen getragen, von dem Vertrauen, das uns im täglichen Leben begegnet: im Job-Center in Brüssel und im türkischen Supermarkt in Linz, im kurzen Gespräch mit dem Busfahrer direkt am See von Annecy sowie mit der Bedienung einer Hafenbar in Neapel. Vertrauen reduziert die soziale Komplexität von Europa, und stabilisiert auf diese Weise den Markt und das Projekt der europäischen Integration mehr als jedes politische Aktionsprogramm der Europäischen Kommission aus Brüssel.

Wir suchen kein Substitut für den globalen Markt und wir rufen auch nicht nach der Aufhebung freier Marktkräfte. Aber wir wollen einen Paradigmenwechsel einleiten: von der einfachen Perspektive, die Europa in eine wirtschaftliche Zwangsjacke steckt, hin zu einer weiten Perspektive, nach der Europa in einer kontinentalen Matrix aus inter- und intra-generationalem Vertrauen eingebettet ist. Die alten Brotkrümel des Marktes sind bald aufgezehrt; das neue Europa muss sich deshalb auf die Kraft des Vertrauens stützen. Darum muss die Europäische Union lernen, die Vertrauensressource auszuspielen. Bislang hat die Union das individuelle und institutionelle Vertrauen unter den Bürgern Europas für die Funktionalität profitabler Märkte eingesetzt. Es ist jetzt aber an der Zeit, diesen Prozess umzukehren: die Europäische Union muss die Säulen ihrer Legitimität aus dem Vertrauen der citoyens ableiten. Die zentrale Quelle von sozialer Kohäsion und ethnischer Toleranz, von Fairness und Solidarität, von Diversität und Verschiedenheit ist Vertrauen, und nicht die Marktintegration. Für unser Vertrauen in die normativen Prämissen der Europäischen Union, in die wirtschaftlichen Stärken und politischen Institutionen müssen wir deshalb die Einigungspotentiale des inter-personalen Vertrauens einsetzen.

Sehnsuchtsstreben

Wenn wir wollen, dass Europa für unsere Generation eine zentrale Rolle spielen, und – vice versa – unsere Generation für Europa von Relevanz sein soll, müssen wir gemeinsam die kleinmütigen Prämissen der Marktstabilisierung überwinden und die Einheitssehnsucht der Europäischen Union ausnutzen. Auch die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war 1957 ein Sehnsuchtsprojekt: ursprünglich konzipiert, um überkommenen Nationalismen den Wind aus den Segeln zu nehmen und das wirtschaftliche Wachstum eines zerbrochenen Kontinents anzukurbeln, können heute weder der Frieden Europas noch die Wohlstandssehnsucht die Legititimät der Europäischen Union begründen. Wir stellen damit nicht die historische Bedeutung der europäischen Wirtschaftsintegration in Frage; wir wollen darauf aufmerksam machen, dass die institutionellen Strukturen mehr Hingabe einfordern als sie Sehnsüchte freisetzen.

Der „europäische Traum“, der unserer Generation angeboten wird, wird aber gerade von einer  lebenslangen Schuldenlast und folgenreichen Einsparungen, Perspektivlosigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, ausgehöhlteb Sozialsystemen und einer dumpfen Rhetorik über die Rettung der ökonomischen Welt aufgezehrt. Wir suchen deshalb nach einem politischen Kleid Europas, das neben den Erwartungen der Gründerväter (und Mütter) Europas auch die Sehnsüchte und Erwartungen unserer Generation erfüllen kann. Diese Formen der Europäisierung entsprechen dem Sehnsuchtsstreben unserer Generation: die persönliche Entwicklung dem höheren Ziel der europäischen Einigung unterzuordnen und eine Welt der Nachhaltigkeit in Europa zu entwickeln. Auf diese Weise kann Europa – ein mal mehr – das intergenerationelle Diskursforum werden, das einen Referenzpunkt für die jüngeren Generationen schafft, wie wir unsere Gesellschaft und unsere Welt zu einem besseren Ort machen können. Und die Europäische Union kann uns helfen, alle nach mehr zu streben. Aber dafür müssen wir die Rationalität des Marktes für einen Moment außer Kraft setzen und durch eine stärkere – normative – Zukunftsvision von Europa ersetzen.

Öffentlichkeit

Unsere Geschichte bestimmt sich nach nationalen Maßstäben, unsere Gegenwart wird immer europäischer, und unsere Bedürfnisse und Sehnsüchte richten sich zunehmend nach transnationalen Ansprüchen aus. Die wirtschaftlichen Prozesse, die unser tägliches Leben bestimmen, sind von globaler Natur. Die staatliche Politik verharrt aber allzu oft in nationalem Denken. Diese Asymmetrie von gesellschaftlicher Realität und politischen Entscheidungsstrukturen begründet darum erst das Einfallstor für das Primat des Ökonomischen über das Politische, der Exekutive über das Parlament. Der anonyme Markt vergisst auf diese Weise sein soziales Kapital: das Vertrauen zwischen den Bürgern. Aber war eigentlich nicht die Politik konzipiert worden, die Märkte zu zähmen und zu vermenschlichen?

Für einen Bestimmungsversuch unserer neuen Gesellschaftsform müssen wir deshalb das  Verständnis der Öffentlichkeit dekonstruieren. Politik funktioniert immer nur durch eine ausgewogene Verbindung von Realität und Fantasie. Und die Rolle der Politik ist es, diese Fantasien in die Realität umzusetzen. Allerdings scheinen wir gerade auf dem Holzweg zu sein. Auch wenn die nationalen politischen Systeme zentrale Positionen für die soziale Ressourcenallokation einnehmen, übergehen die wirtschaftlichen Systeme alle Forderungen nach sozialverträglichen Anpassungsformen. Das politische System kann deshalb auch unsere Ansprüche und Bedürfnisse jenseits des Nationalstaats nicht mehr erfüllen.

Allerdings verstehen wir den Nationalstaat immer noch als unseren zentralen Ansprechpartner, auch wenn wir hierdurch den status quo aufrechterhalten und den nationalen Exekutiven erlauben, „nationale Interessen“ in den Vordergrund zu rücken, wenn es uns um die transnationale Dimension unserer Sehnsüchte geht; auch die institutionelle Repräsentation unseres Sehnsuchtsstrebens wird von den immergleichen Formeln der Unausweichlichkeit abgewehrt.

Die Dominanz des Politischen über das Wirtschaftliche braucht einen politischen Raum des Europäischen, in dem Entscheidungen erläutert, Fantasien ausgesprochen und die Umwandlung Europas diskutiert werden kann: Ein offener Raum der Vertrauensbildung unter den Bürgern, ein Raum für die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Generationen. Und ein Raum, dessen politische Elite abgesetzt werden kann, wenn sie die politischen Verheißungen nicht erfüllt. Die neue Öffentlichkeit ruft nach neuen institutionellen und normativen  Richtwerten. Eine institutionelle Formgebung erfordert europäische Parteien im engen Sinne, die für die Wahlen zum Europäischen Parlament selbst Kandidaten für den Präsidenten der Europäischen Kommission vorschlagen können. Die neue Öffentlichkeit sieht deshalb auch einen verminderten Einfluss des Europäischen Rates für die Neuausrichtung der Europäischen Union vor. Die Auflösung der institutionellen Machtkonzentration würden eingeschlafene transnationale Diskurse der Politik wachrütteln und eine andere Entscheidungskultur ableiten. Aber diese Veränderungen können nicht von nationalen Politikern eingeleitet werden, die in nach einer neuen Einflussbildung des europäischen Bürgers Mitwirkungsrechte verlieren würden. Wir müssen vielmehr die Bürger jenseits der Grenzen erreichen und in einen gemeinsamen mehrsprachigen Raum des Öffentlichen und Europäischen überführen, um Ideen auszutauschen, Fantasien zu verknüpfen und die Politiker in einen nachhaltigen Bürgerdialog einzubetten.

Vorwärts

Nach der göttlichen Verurteilung war die zirkuläre Gefangenheit von Sisyphos für die Ewigkeit. Für uns muss das nicht sein. Aber wenn wir der Zirkularität des Marktes entgehen wollen, müssen wir uns darauf verständigen, wer wir sind, was wir wollen, und wie wir unsere Ziele erreichen können. Keine dieser Fragen kann durch nationale politische Maßnahmen überzeugend beantwortet werden; aber auch nicht durch die Europäische Union in ihrer aktuellen Diskursverfassung. Die politische Stummheit hat dem wirtschaftlichen System und der ausführenden Technokratenkaste erst erlaubt, die intergenerationellen Sehnsüchte aufzuweichen und den Schutz des Politischen aufzulösen. Europa ist aber mehr als ein Markt. Europa hat das Potential, die systemischen Probleme zu lösen, die am Ausgangspunkt unserer wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Krisen stehen.
Aber nur wir, die Bürger, können Europa auch tatsächlich zwingen, nach unseren Ansprüchen zu handeln.

Dieser Essay ist der zentrale Beitrag von regenereration Europe, einer intergenerationellen Projektinitiative von Moritz Hartmann (Doktorand an der Freien Universität Berlin) und Floris de Witte (Doktorand an der London School of Economics and Political Science) über die Zukunft der Europäischen Union.


SUGGESTED CITATION  Hartmann, Moritz; de Witte, Floris: Ende der Flitterwochen: Europa jenseits des Marktes, VerfBlog, 2012/3/08, https://verfassungsblog.de/ende-der-flitterwochen-europa-jenseits-des-marktes/, DOI: 10.17176/20181008-105543-0.

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