Fake News, Wahrheitspflicht, Lüge
Medienregulierung auf konstitutionellen Abwegen
Es gibt Evidenz genug, namentlich in jüngsten Ereignissen: die Verwendung von Desinformation und Fake News in den sozialen Medien birgt das Potential, eine Gefahr für die Grundfesten der Demokratie zu werden. Mit gezielter Desinformation sowohl privater wie auch staatlicher Akteure lassen sich über das Internet Massen mobilisieren und für antidemokratische Aktionen einsetzen, wie der Sturm auf das Kapitol in der US-Hauptstadt Washington D.C. am 6. Januar 2021, zahlreiche Falschinformationen im Kontext der Corona-Pandemie und die massive russische Hass- und Desinformationskampagne in Bezug auf den Konflikt in der Ukraine zeigten, um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen.
Wie ist mit Desinformation und Fake News auf Online-Plattformen umzugehen? Wer hat welche Aufgaben und Pflichten, und was ist der Stellenwert der Kommunikationsgrundrechte? Diese Fragen sind auf der ganzen Welt relevant. Sie zu beantworten, ist geprägt von Dilemmata, und die Regulierer, zumindest in demokratischen Rechtsstaaten, tun sich entsprechend schwer. Einen gesetzlichen Rahmen zu finden, der sowohl den öffentlichen Diskurs und die politische Meinungs- sowie Willensbildung vor Desinformation schützt und der zugleich eine Grundlage dafür bietet, einen freien Meinungsaustausch zu gewährleisten, wäre eigentlich das Ziel. Und so werden sowohl auf internationaler (in der EU z.B. der Digital Services Act) als auch auf nationaler Ebene (in Deutschland das NetzDG) immer wieder neue Lösungsansätze eingebracht und diskutiert, um diesen Phänomenen unter Achtung der Kommunikationsgrundrechte entgegenzuwirken. Indes, sobald diese Lösungsansätze Sanktionsmechanismen gegen die Plattformanbieter oder Nutzer vorsehen, stellt sich das Problem des chilling effect, weil die von der Angst vor Sanktionen getriebenen Plattformanbieter strenge, teilweise überschießende Maßstäbe bei der Entscheidung anwenden, welche Nutzerbeiträge zu löschen sind, und die Nutzer verzichten auf entsprechende Äußerungen. Es gilt: Je höher die Sanktion, desto strenger der Maßstab. Auf der Strecke bleibt ein Teil der Meinungsfreiheit.
Mit der Verabschiedung des „Gesetzes zur „Bekämpfung von Desinformation“ am 13. Oktober 2022 hat nun das türkische Parlament zumindest in Europa und den USA für Aufsehen gesorgt:
Im Blickpunkt der internationalen Öffentlichkeit steht insbesondere Artikel 29 des Gesetzesentwurfes, wonach nach Absatz 1 derjenige mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu drei Jahren bestraft wird,
„der in der Öffentlichkeit unwahre Informationen über die innere und äußere Sicherheit, die öffentliche Ordnung und die öffentliche Gesundheit des Landes in der alleinigen Absicht verbreitet, die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken zu versetzen oder in Panik zu versetzen, und zwar in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. [Abs. 2] Begeht der Täter die Straftat unter Verheimlichung seiner wahren Identität oder im Rahmen der Tätigkeit einer Organisation, so wird die nach Absatz 1 verhängte Strafe um die Hälfte erhöht.“
Für Unbehagen sorgt, dass sich die Türkei durch die Androhung einer mehrjährigen Haftstrafe für die Verbreitung bestimmter Arten von Fake News nun in bester Gesellschaft mit Staaten befindet, bei denen ein demokratischer Rechtsstaat und insbesondere ein freier Meinungsdiskurs eine untergeordnete bzw. kaum eine Rolle spielen. So z.B. mit Russland, wo Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für die Veröffentlichung von angeblichen “Falschinformationen” über Auslandsaktionen des russischen Staates bzw. die Verbreitung “wissentlich falscher Informationen” über Maßnahmen russischer Regierungsbehörden “außerhalb des russischen Territoriums” drohen. Außerdem hat Vietnam eben seine Gesetzgebung verschärft und die Plattformen in die Pflicht genommen, und auch Singapur verhängt drakonische Strafen für die Verbreitung von Fake News. Es scheint generell immer mehr zum Repertoire autokratisch oder diktatorisch regierter Staaten zu gehören, die Verbreitung von Fake News, wer immer dies dann im Einzelfall zu definieren vermag, unter Strafe zu stellen. Damit lassen sich sehr einfach unliebsame oder oppositionelle Stimmen unterbinden. Der öffentliche Diskurs, dergestalt von Abweichendem „gereinigt“, findet dann unter staatlicher Aufsicht in der von den Machthabern gewünschten Richtung statt. Dabei gibt es allerdings zwischen den Staaten mit Bezug auf die Sanktionen klare Unterschiede: Weder der Digital Services Act noch das NetzDG sehen Freiheitsstrafen vor, dies im Unterschied zu den Sanktionen in Staaten, die keine demokratischen Rechtsstaaten sind. Hier stehen sich autoritäre und liberale Fake-News-Regulierung gegenüber. Entsprechend unterschiedlich sind die Auswirkungen auf die öffentliche Debatte.
Die Befürworter von Mediengesetzen mit harten Sanktionen begründen deren Notwendigkeit damit, dass sich Desinformation zu einer „ernsthaften Bedrohung“ für den Zugang zu „wahren“ Informationen entwickelt und die Bekämpfung einer solchen „Bedrohung“ notwendig sei, um Grundrechte und Grundfreiheiten zu schützen. Die Argumentationen sind simpel und vordergründig einleuchtend: Was falsch ist, soll nicht verbreitet werden dürfen. Die Lüge verdient keinen grundrechtlichen Schutz. Das Publikum und der Staat müssen vor Fake News geschützt werden. Nicht nur in nichtdemokratischen Staaten werden diese Auffassungen vertreten. Vielmehr werden Fake News auch in demokratischen Rechtsstaaten als regulierungsbedürftiges Problem betrachtet, und es ist auffällig, wie schnell, unüberlegt und ohne Rücksicht auf die Kommunikationsgrundrechte nach Einschränkungen und Verboten gerufen wird. Die damit zusammenhängenden konstitutionellen Probleme werden dabei, unabhängig von der Schwere der Sanktionen, stark unterschätzt.
Dies beginnt schon mit der Frage, wer über Wahrheit und Unwahrheit entscheidet? Nutzer, die Plattformen oder staatliche Instanzen? Was ist überhaupt die Wahrheit? Dies ist eine enorm kontroverse philosophische, erkenntnistheoretische Frage, zu welcher unzählige Theorien, Positionen, Konzepte und Thesen entwickelt worden sind, welche Bibliotheken füllen. An dieser Stelle sei ein Aspekt aufgegriffen: Der Wahrheitsgehalt einer Aussage hängt wesentlich auch von der gesellschaftlichen Anerkennung ab. Die Berechtigung dieses Geltungsanspruchs ergibt sich hierbei diskursiv auf der Basis des Konsenses. Wahrheiten sind also sehr oft diskursiv konsentierte und damit als berechtigt bzw. als richtig anerkannte (Tatsachen-)Behauptungen. Wahrheit ist daher sehr häufig, insbesondere bei gesellschaftlichen Phänomenen, Ergebnis kommunikativer Prozesse und stellt zu einem erheblichen Teil eine intersubjektive, gesellschaftliche Einigung über eine Qualität von Aussagen dar, nämlich deren Wirklichkeit und damit auch Nachvollziehbarkeit. Damit ist Wahrheit eben nicht nur bzw. nicht zwingend eine beweisbare Tatsache, sondern oft konsensabhängig und vorläufiger Natur. Damit unterliegt Wahrheit dem Zweifel, und eine Erkenntnis kann durch eine modifizierte oder neue abgelöst werden. Dies ist entscheidend. Denn darf Zweifel an einer Wahrheit nicht (mehr) geäußert werden, kann dies also nicht Gegenstand eines öffentlichen Diskurses sein, so sind auch Irrtümer letztlich nicht mehr zulässig bzw. werden negiert, und es droht eine dogmatische Erstarrung, die zunehmende Gefahr unentdeckter oder verdrängter Irrtümer und letztlich die partielle Ausschaltung eines offenen Diskurses.
Wahrheit ist also weit davon entfernt, ein feststehender Begriff zu sein: Tatsachen und Meinungen, wahr und unwahr, richtig und falsch lassen sich häufig nicht säuberlich trennen. Die Trennung ist zwar häufig wünschenswert, aber in der Wirklichkeit oft schwierig. Es bestehen mithin Probleme mit der juristischen Operationalisierbarkeit des Wahrheitsbegriffs. Damit sollte er aus diesem Grund nicht zur Grundlage von Regelungen zur Bekämpfung von Fake News gemacht werden. Aus dem gleichen Grund kann es auch keine allgemeine Rechtspflicht zur Wahrheit geben. Bei Medienschaffenden mag dies zwar zur Deontologie gehören, und auch im Rundfunkrecht ist das Bemühen der Publizistik um Wahrheit rechtlich festgeschrieben. Eine allgemeine Pflicht wäre aber grundrechtlich nicht haltbar.
So widerspräche es dem Gehalt der Kommunikationsgrundrechte diametral, wenn im Sinne einer allgemeinen Regel der für eine Äußerung Verantwortliche den Wahrheitsbeweis in formellen Verfahren zu erbringen hätte. Ja, die Kommunikationsgrundrechte würden nur schon bei einer weich ausgestalteten generellen Wahrheitspflicht verletzt. Die Freiheit der Kommunikation schließt durchaus auch die Freiheit ein, sich um den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen nicht wirklich zu kümmern. So hat der EGMR im Entscheid Salov vs. Ukraine 2015 festgehalten, dass Artikel 10 der EMRK die Verbreitung von Informationen auch dann nicht verbiete, wenn der Wahrheitsgehalt sehr zweifelhaft ist. Im bekannten Lingens-Urteil entschied der EGMR, dass in Zusammenhang mit einem Ehrverletzungsverfahren eine gesetzliche Verpflichtung zum Beweis der Faktenbasis eines Werturteils Artikel 10 EMRK verletze. Grundrechtlich ist damit eine generelle Verpflichtung zur Wahrheit ausgeschlossen. Es gilt das Prinzip des kommunikativen trial and error als Motor kollektiver Erkenntnisgewinnung im Rahmen eines öffentlichen Diskurses, der idealiter asymptotisch zur Wahrheit strebt und führt. Wer demgegenüber die Verbreitung falscher Tatsachen, von Fake News oder Lügen verbietet, unterbindet in Teilen auch die öffentliche Diskussion über Meinungen oder Tatsachen: der chilling effect schlägt durch. Die neue türkische Strafnorm ist ein gutes Beispiel. Es bedarf zwar der alleinigen Absicht, die Öffentlichkeit in Angst, Schrecken oder Panik zu versetzen, was eine strengere, theoretisch die Meinungsfreiheit weitgehend achtende Voraussetzung ist, aber wann liegt dies vor, und wer entscheidet dies? Hat ein Medienschaffender kraft seiner Funktion nie diese Absicht? Wird die Öffentlichkeit in Panik versetzt, wenn angeblich falsch über türkische Militäraktionen im grenznahen syrischen Raum berichtet wird? Ist dies geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören? Und wie ist dies zu beurteilen, wenn die Justiz nicht unabhängig ist und Grundrechte eingeschränkt sind? Und was ist der Einfluss der Drohung mit mehrjährigen Freiheitsstrafen auf die öffentliche Debatte?
Staaten, die auf der Grundlage des Wahrheitsbegriffes die Verbreitung von Fake News in Form langjähriger Haftstrafen sanktionieren, spielen ein falsches Spiel: Unter dem Begriff der Wahrheit versuchen sie die Verbreitung staatlicher Narrative vor Widerspruch zu schützen, indem sie den chilling effect bis aufs äußerste ausreizen und die Plattformen für ihre Zwecke instrumentalisieren. Das kommt einem Missbrauch von Begriffen nahe, des Wahrheitsbegriffes ebenso wie des Begriffs der Fake News. Wegen der abschreckenden Vorwirkungen repressiver Maßnahmen handelt es sich, auch wenn keine formelle vorgängige Inhaltskontrolle erfolgt, um eine zensurähnliche Maßnahme. Mit der Einführung des Buchdrucks wurde die Zensur unter anderem damit begründet, dass das Publikum vor falschen Ideen und Meinungen geschützt werden müsse. Nun soll es der Schutz vor der Verbreitung falscher Tatsachen sein. Die Konsequenzen für die öffentlichen Debatten sind dieselben.
Letztlich ist über Wahrheit und Unwahrheit nicht in Anwendung staatlicher Regulierungen, sondern im öffentlichen Diskurs zu entscheiden. Wo Verbote ausnahmsweise zum Schutz eindeutig höherwertiger Rechtsgüter grundsätzlich zulässig sind, sollen die Gerichte das letzte Wort zur Angemessenheit von Maßnahmen bzw. Sanktionen haben. Ein Beispiel dafür sind die Verbote russischer Propagandarundfunkprogramme durch die EU im Rahmen der Ukrainesanktionen. Diese Maßnahmen waren, wie das Gericht der Europäischen Union in einem neulich ergangenen Urteil feststellte, angesichts der partikulären Umstände und ihrer vorübergehenden Natur zulässig. Dies ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Letztere lautet: Der öffentliche Diskurs muss robust sein, er muss auch Fake News und Desinformation demaskieren und verdauen können, oder, wie es der US-Supreme-Court-Richter William J. Brennan Jr. im Fall New York Times Inc. vs. Sullivan umschrieben hat: Die Garantie der Kommunikationsrechte enthält ein “profound national commitment to the principle that debate on public issues should be uninhibited, robust, and wide-open“. Dem ist nichts beizufügen.
Eine frühere Version dieses Artikels enthielt einen Faktenfehler bezüglich des Namens des Richters Brennan. Der Fehler wurde korrigiert.