Halbherziger Schutz für Gaza
Asylrechtliche Perspektive nach dem Ende des Entscheidungsstopps
Am 18. Juli 2025 gab das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bekannt, wieder über Asylanträge von Personen aus Gaza zu entscheiden. Zuvor berief es sich über eineinhalb Jahre auf einen Entscheidungsstopp wegen einer vermeintlich „ungewissen Lage“ im Gazastreifen. Nach Angaben des BAMF sei die Lage aufgrund der anhaltenden und flächendeckenden Kampfhandlungen nun aber hinreichend gewiss, um über die Asylanträge zu entscheiden.
Doch was bedeutet das konkret für die Menschen, deren Asylanträge deshalb bislang aufgeschoben wurden? Einen Hinweis darauf liefern die Verwaltungsgerichte, die sich zuletzt regelmäßig (nämlich 238-mal zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 30. April 2025) mit dem Entscheidungsstopp auseinandersetzen mussten. Sie haben in diesem Zuge immer wieder klargemacht, dass Menschen aus Gaza einen Anspruch auf subsidiären Schutz besitzen. Dieser Linie wird das BAMF – das sich üblicherweise an der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung orientiert – voraussichtlich folgen. Eine solche Handhabung wird den Schutzsuchenden aus Gaza allerdings nicht gerecht, da sie regelmäßig einen Anspruch auf ipso-facto Schutz oder die Anerkennung der regulären Flüchtlingseigenschaft haben.
Gerichte sehen nur subsidiären Schutz
Die Flüchtlingseigenschaft wird (vereinfacht dargestellt) zuerkannt, wenn die Schutzsuchenden darlegen können, dass ihnen in ihrem Herkunftsland eine individuelle Verfolgung droht (§ 3 Abs. 1 AsylG). Der subsidiäre Schutz greift, sofern die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen, den Schutzsuchenden bei Rückkehr in ihr Herkunftsland aber ein ernsthafter Schaden droht. Ein solcher ernsthafter Schaden ist etwa auch die Bedrohung des Lebens der Schutzsuchenden infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts (§ 4 I Satz 2 Nr. 3 AsylG). Beide Status vermitteln ein Aufenthaltsrecht, wobei die Flüchtlingseigenschaft weitreichendere Rechte einräumt. Beispielsweise können anerkannte Flüchtlinge ihre Familienangehörigen nachziehen, was mit dem subsidiären Schutz neuerdings nicht mehr möglich ist.
Einheitlich kommen die Gerichte zu der Überzeugung, dass die Lage in Gaza die Voraussetzungen für den subsidiären Schutz erfüllt. So macht etwa das VG Sigmaringen klar: „Die Lage im Gazastreifen überschreitet offenkundig die Schwelle des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG.“ Explizit äußert sich auch das VG Dresden: „Der bewaffnete Konflikt hat längst ein Ausmaß erreicht, das den Anspruch auf internationalen subsidiären Schutz unabhängig von einzelnen Ereignissen trägt.“
Dass die Gerichte so überzeugt von subsidiärem Schutz ausgehen, überrascht auf den ersten Blick, da die deutsche Rechtsprechung den Anwendungsbereich dafür bis zuletzt an eine quantitative Mindestschwelle, den sog. Body-Count, geknüpft hat. Damit ist das Verhältnis der zivilen Opfer zur Gesamtbevölkerung der Herkunftsregion der Schutzsuchenden gemeint. Das daraus resultierende Risiko, in der Herkunftsregion getötet oder verletzt zu werden, musste eine bestimmte Schwelle erreichen (das Bundesverwaltungsgericht entschied etwa, dass ein Risiko von 0,12 % nicht ausreichend sei).
Zivile Opferzahlen für subsidiären Schutz belastbar
Die Erhebung der dafür notwendigen Opferzahlen stellt die Gerichte allerdings vor Probleme, da die Daten einzig von der von der Hamas geführten Gesundheitsbehörde stammen. Inwieweit diese Zahlen vertrauenswürdig sind, begreifen die Verwaltungsgerichte durchaus unterschiedlich. Während sich das VG Stuttgart eher misstrauisch gibt („Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen und können daher auch übertrieben sein.“, Rn. 33), sieht das VG Bayreuth keine Probleme, die Opferzahlen zu verwenden. Es formuliert: „Auch wenn die jeweils genannten Zahlen wohl alle als Quelle eine Konfliktpartei (Gesundheitsministerium der Hamas) haben und teilweise angezweifelt werden, halten die Vereinten Nationen und andere internationale Institutionen und Experten die Daten grundsätzlich für weitgehend korrekt. Auch die entscheidende Einzelrichterin legt diese Zahlen vorliegend zugrunde“ (Rn. 25).
Selbst die „zweifelnden“ Gerichte sind sich allerdings sicher, dass die Bedrohung unabhängig von der Glaubwürdigkeit der Opferzahlen so hoch ist, dass praktisch jede Zivilperson der Konfliktgefahr ausgesetzt ist. Die Gerichte formulieren diese Erkenntnis noch unmissverständlicher: „Es liegt auf der Hand, dass die großflächigen Zerstörungen (…) eine erhebliche Anzahl an Opfern auch in der Zivilbevölkerung gefordert haben.“ (So etwa das VG Stuttgart, das die Glaubwürdigkeit der Opferzahlen selbst bezweifelt, Rn. 33). Diese Einschätzung ist unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse zu den Opferzahlen in Gaza zunächst nachvollziehbar.
Gerichte blenden ipso-facto Schutz aus
Mit Blick auf europa- und völkerrechtliche Vorgaben ist diese Rechtsprechung jedoch ungenau. Für Schutzsuchende mit UNRWA-Registrierung – dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten – kommt der subsidiäre Schutz von vornherein nicht in Frage. Da sie bereits von UNRWA Flüchtlingsschutz erhalten, werden sie vom europäischen Flüchtlingsrecht (und damit sowohl von der Flüchtlingseigenschaft als auch vom subsidiären Schutz) ausgeschlossen, vgl. § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG.
Von diesem Ausschluss gibt es allerdings eine Ausnahme: Sofern der Schutz oder Beistand des UNRWA nicht länger gewährleistet ist und etwaige Ausschlussgründe nicht vorliegen, ist den Schutzsuchenden die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Dieser sog. ipso-facto Schutz wird in § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG geregelt, womit bindendes europäisches Recht (Art. 12 Abs. 1 Buchst. a QRL) sowie Völkerrecht (Art. 1 D GFK) umgesetzt wird. Der Grundgedanke dieser Regelung geht auf das bereits Ende der 1940er Jahre bestehende Problem der Vertreibung von Palästinenser*innen zurück, dem das Mandat des UNRWA gewidmet wurde. Auf eine individuelle Verfolgung oder eine willkürliche Konfliktgefahr kommt es in diesen Fällen nicht mehr an, da der ipso-facto Schutz das reguläre europäische Flüchtlingsrecht als spezielleres Gesetz verdrängt.
Laut UN sind von 2,4 Millionen Einwohner*innen des Gazastreifens 1,7 Millionen Menschen als Flüchtlinge bei UNRWA registriert. Für diese Menschen wird der Schutzwegfall wohl zu bejahen sein, da es UNRWA derzeit unmöglich ist, der sehr unsicheren persönlichen Lage aller Personen im Gazastreifen Abhilfe zu schaffen. Das ergibt sich bereits aus einer Entscheidung des EuGH zu der Thematik aus dem letzten Jahr. Die wenigen Verwaltungsgerichte, welche den ipso-facto Schutz berücksichtigen, kommen zu dem gleichen Schluss (VG Sigmaringen, VG Stuttgart). Diese Realität wird allerdings bisher weder behördlich noch gerichtlich in der Breite rezipiert.
Auch reguläre Flüchtlingseigenschaft unberücksichtigt
Der subsidiäre Schutz kommt also nur für Schutzsuchende in Betracht, die nicht bei UNRWA registriert sind. Selbst für diese Personengruppe könnte aber regelmäßig die Flüchtlingseigenschaft greifen. Dafür müsste ihnen bei Rückkehr in den Gazastreifen die individuelle Verfolgung wegen ihrer „Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) drohen. Das scheint durchaus möglich.
So entschied am 11. Juli beispielsweise der französische Asylgerichtshof. Er urteilt, dass die von der IDF angewandten Kriegsmethoden die gesamte Zivilbevölkerung Gazas träfen und wegen ihrer Art und Wiederholung schwerwiegend genug seien, um eine Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 QRL darzustellen. Berücksichtigt wurden dabei die großflächige Zerstörung ziviler Infrastruktur, die Blockade humanitärer Hilfslieferungen und die Zwangsvertreibung von Palästinenser*innen. Die Verfolgung sei darüber hinaus auch an einen Grund, nämlich die Nationalität der Palästinenser*innen, geknüpft. Obwohl Frankreich (wie auch Deutschland) Palästina nicht als Staat anerkennt, ließe die weite Nationalitätsdefinition des Art. 10 Abs. 1 Buchst. c QRL einen solchen Schluss zu. Im Ergebnis sei von einer begründeten Furcht vor Verfolgung auszugehen, sodass in Frankreich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird.
Inwieweit die Situation eine flüchtlingsrelevante Gruppenverfolgung darstellt, könnten das BAMF und die deutschen Gerichte natürlich anders beurteilen. Nur geschieht das bisher kaum. Erwägungen zur Flüchtlingseigenschaft bleiben in den Entscheidungen in der Regel aus. Das ist dogmatisch unsauber, da die Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft zwingend überprüft werden müssen, sofern auf subsidiären Schutz abgestellt wird. Schließlich kann der subsidiäre Schutz nur zuerkannt werden, wenn die Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegen (Art. 2 Buchst. f QRL).
Richtig entscheiden
Unter dem Strich zeigt die Auswertung der Gerichtspraxis, dass Schutzsuchenden aus Gaza in aller Regel subsidiärer Schutz zustehe. Dabei wird allerdings bisher nicht hinreichend nach der UNRWA-Registrierung differenziert, was aufgrund des Vorrangs des ipso-facto Schutzes jedoch geboten ist. Auch im Hinblick auf dort nicht registrierte Schutzsuchende offenbart die deutsche Praxis blinde Flecke. In diesen Fällen ist zumindest eine Auseinandersetzung mit der Flüchtlingseigenschaft geboten. Dass das BAMF den Schutzstandard der Verwaltungsgerichte übersteigt, ist insofern zwar wünschenswert, jedoch eher unwahrscheinlich. Eine Korrektur wird deshalb lediglich über sog. Aufstockungsklagen stattfinden können, durch welche die Verwaltungsgerichte angehalten werden, sich mit der Flüchtlingseigenschaft auseinanderzusetzen. Auch wenn der Entscheidungsstopp des BAMF aufgehoben ist, sehen sich Menschen aus Gaza damit auch künftig einem System ausgesetzt, das nur auf Umwegen gerechten Schutz bietet.