Genozid in Gaza?
Einige vorläufige völker(straf)rechtliche Überlegungen
Israel begehe in Gaza einen Völkermord. Diesen Vorwurf trug Südafrika bereits rund zweieinhalb Monate nach dem großangelegten Terroranschlag der Hamas auf Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag vor. Die militärische Gegenoffensive Israels richte sich nicht (primär) gegen die Hamas, sondern ziele darauf ab, die Gruppe der Palästinenser als solche zu zerstören. Dieser Vorwurf wiegt politisch wie rechtlich schwer. Die hierfür notwendige Zerstörungsabsicht ist nur schwer nachzuweisen und darf nicht vorschnell bejaht werden. Mit zunehmender Dauer und Brutalisierung der israelischen Kriegsführung verdichten sich jedoch die Indizien für das Vorliegen eines Genozids.
Grundsätzliches Vorliegen des Genozidtatbestands
In objektiver Hinsicht erfüllt die israelische Kriegsführung den Tatbestand des Genozids i.S.v. Art. II der Genozidkonvention (bzw. Art. 6 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs und § 6 VStGB). Danach muss der Täter eines Genozids bestimmte Einzelakte gegen Mitglieder einer geschützten Gruppe begehen, die zumindest abstrakt-generell geeignet sind, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.
Die Palästinenser in Gaza sind jedenfalls eine vom Genozidtatbestand geschützte Gruppe. In seiner Verfügung vom 26. Januar 2024 im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes im Genozidverfahren Südafrika v. Israel hat der IGH zwar noch offengelassen, um was für eine Gruppe (national, ethnisch, rassisch oder religiös) es sich konkret handelt (para. 45). Da aber immer mehr Staaten Palästina als Staat anerkennen und zudem der IGH in seinem Gutachten zur (Völkerrechtswidrigkeit der) israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik vom Juli 2024 zentral auf das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser abgestellt hat, dürfte viel dafür sprechen, diese als nationale Gruppe anzusehen, bei der die Mitglieder durch eine gemeinsame Staatsangehörigkeit verbunden sind.
Zudem werden im Gazakonflikt die ersten drei genozidalen Einzeltaten verwirklicht: (i) Tötung von Mitgliedern der Gruppe, (ii) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; (iii) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung herbeizuführen.
In subjektiver Hinsicht ist zwischen Einzelpersonen als Täter und einem Kollektiv wie dem Staat Israel zu unterscheiden. Was den allgemeinen Vorsatz, also die bewusste und/oder gewollte Verwirklichung der objektiven Tatbestandsmerkmale angeht, wird man davon ausgehen können, dass jedenfalls das kognitive Element bei an dem Krieg in Gaza beteiligen Einzelpersonen vorhanden ist. Was den Staat Israel angeht, so kann der entsprechende Vorsatz führender Politiker und Militärs diesem grundsätzlich zugerechnet werden.
Schwieriger Nachweis der Zerstörungsabsicht (dolus specialis)
Schwieriger ist die Begründung einer genozidalen Zerstörungsabsicht. Insoweit ist – wie eben – zwischen der direkt erforderlichen Absicht der Einzelpersonen und der Zurechnung dieser Absicht zum Staat Israel zu unterscheiden. Ferner ist zwischen der Bedeutung der „Absicht“, dem insoweit erforderlichen Beweismaßstab und dem prozessualen Nachweis zu trennen (siehe hierzu auch im Zusammenhang mit dem strukturell vergleichbaren Apartheidverbrechen Ambos, 2024, S. 106 ff.). Was die Bedeutung der Absicht angeht, so müssen die objektiven genozidalen Handlungen auf die Zerstörung der angegriffenen nationalen Gruppe (oder wesentlicher Teile von ihr) gerichtet sein; es ist also ein zielgerichtetes Handeln erforderlich. Die Herabstufung dieses volitiven zu einem kognitiven Ansatz (mit der Folge, dass es – wovon beispielsweise Irland auszugehen scheint1) – ggf. ausreichend sein kann, dass der Täter weiß oder hätte voraussehen können, dass sein Handeln wahrscheinlich zur Zerstörung der geschützten Gruppe beitragen würde) hat sich (bislang) nicht durchgesetzt. Das gilt sowohl völkerstrafrechtlich (also bezogen auf individuelle persönliche Verantwortlichkeit) als auch völkerrechtlich (also bezogen auf die Staatenverantwortlichkeit Israels). Der IGH wird im Verfahren Südafrika vs. Israel – allerdings wohl frühestens 20272) – Gelegenheit haben, die Anforderungen, die an die Zerstörungsabsicht zu stellen sind, zu konkretisieren.
Legt man den bisher herrschenden Maßstab zugrunde, muss ein genozidaler Täter – sei es eine natürliche oder juristische Person – zielgerichtet die Zerstörung der geschützten Gruppe herbeiführen wollen (s. zB die ICTR, Akayesu, para. 498, 518; ICTY, Jelisić, para. 84 ff.; ICTY, Krstić, para. 571). Als Beweismaßstab verlangen namentlich IGH (para. 148) und ICTY (para. 14), dass die genozidale Absicht die einzige vernünftige Schlussfolgerung (only reasonable inference) aus den vorliegenden Beweisen sein muss (siehe hierzu Barigye/Hendrickse/Todeschini sowie Ambos). Nach diesem strengen Maßstab dürfte eigentlich nur bei einem Zusammenspiel von genozidalen Äußerungen der Führungsebene und einem entsprechenden Zerstörungsverhalten von einer genozidalen Absicht auszugehen sein. Grundsätzlich kann allerdings die Absicht auch indiziell aus einem objektiven Verhalten (dolus ex re) abgeleitet, also letztlich vermutet, werden (hierzu allgemein Volk, FS A. Kaufmann, 1993, 611, 618 ff.; zum Völkerstrafrecht Stuckenberg, 524, 527). Bei nur spärlich vorhandenen Stellungnahmen der staatlichen Führungsebene kann also – das entspricht auch der Rechtsauffassung, die Deutschland gemeinsam mit anderen Staaten in dem IGH-Verfahren Gambia vs. Myanmar geäußert hat (para. 48 ff.) – ein bestimmtes zerstörerisches, unterschiedsloses Angriffsverhalten eine genozidale Absicht indizieren.
Anwendung auf die Situation in Gaza
Was die Situation in Gaza angeht, so kann für die Annahme einer genozidalen Absicht auf öffentliche Stellungnahmen ranghoher israelischer Politiker (siehe hier und hier), die rassistische Abwertungen und Entmenschlichungen der Palästinenser enthalten und ihnen pauschal den zivilen Schutzstatus absprechen, verwiesen werden. Zudem können die hohen Opferzahlen – man wird wohl mittlerweile von über 50.000 Toten und 120.000 Verletzten ausgehen müssen (s. hier, hier, hier und hier) – , die Brutalisierung der Kriegsführung und die enorme Zerstörung ins Feld geführt werden. Allerdings darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass Israel seit seiner Einlassung vor dem IGH immer wieder betont hat, primär gegen Mitglieder der Hamas und militärische Ziele vorzugehen. Die Zivilbevölkerung sei nicht das eigentliche Ziel der Angriffe, sondern lediglich notwendig mitbetroffen.
In seiner zweiten Verfügung vom 28. März 2024 in der Sache Südafrika gegen Israel hat der IGH durchblicken lassen, dass ein Genozid auch durch die Vorenthaltung humanitärer Hilfen begangen werden kann. Insoweit ließe sich überlegen, ob man die Zerstörungsabsicht aus der systematischen Abriegelung des Gaza-Streifens herleiten kann. Auch insoweit muss aber berücksichtigt werden, dass Israel sicherheitspolitische Erwägungen – namentlich die systematische Entwendung von Hilfslieferungen durch die Hamas und die Unterwanderung von UN-Hilfsorganisationen, insbesondere der UNRWA, durch die Hamas – geltend macht. Dies dürfte aber nichts daran ändern, dass der pauschale Ausschluss von Hilfsorganisationen aus Gaza völkerrechtswidrig ist und eine Verletzung der Israel als Besatzungsmacht obliegenden Schutzpflichten darstellt (siehe vor allem Art. 55, 56 der Vierten Genfer Konvention). Immerhin weckt das israelische Vorbringen aber Zweifel an der Zerstörungsabsicht (will man nicht auch hier das israelische Vorbringen pauschal als Schutzbehauptung abtun, vor allem weil es keine konkreten Beweise für seine Vorwürfe gegen die Hilfsorganisationen vorbringt, so zuletzt etwa UNRWA-Leiter Lazzarini im BBC Interview). Hinzu kommt, dass Israel aufgrund diplomatischen Drucks mittlerweile wieder (wenn auch in sehr begrenztem Umfang) Hilfslieferungen erlaubt.
Auch wenn daher insbesondere unter Beachtung legitimer israelischer Sicherheitsinteressen Zurückhaltung beim Genozidvorwurf geboten ist, so haben sich in den letzten Tagen und Wochen dennoch die Indizien eines Genozids verdichtet. Je länger die militärische Gewaltanwendung und das damit verbundene Leid der Zivilbevölkerung anhält, desto schwächer wird der Bezug zum mittlerweile über 15 Monate zurückliegenden Terrorangriff der Hamas und damit zum israelischen Selbstverteidigungsrecht. Die Kriegsführung ist äußerst brutal und unverhältnismäßig. Man denke nur an die jüngste Bombardierung einer als Schutzraum genutzten Schule, bei der dutzende Menschen ums Leben gekommen sind – darunter auch zahlreiche Kinder. Nach UN-Angaben sind allein zwischen dem 15. und dem 25. Mai 180.000 Menschen in und aus Gaza vertrieben worden. Begleitet werden die israelischen Militäraktionen von Rufen höchster Regierungsvertreter nach ethnischer Säuberung und Umsiedlung. Besonders gravierend sind die Äußerungen des israelischen Ministers Bezalel Smotrich, der von der totalen Zerstörung Gazas spricht und die palästinensische Bevölkerung in einer kleinen „humanitären Zone“ konzentrieren will (siehe hier und hier). Aber auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kündigte jüngst an, dass Israel seine militärischen Bemühungen weiter verstärken werde und dabei die palästinensische Bevölkerung umgesiedelt werden würde. Vor diesem Hintergrund kritisiert der ehemalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert die „monströsen Ausmaße“, die die Gewalt im Gaza angenommen habe. Die Zivilbevölkerung werde unter Missachtung des humanitär-völkerrechtlichen Unterscheidungsgrundsatz angegriffen; ein legitimes Kriegsziel sei nicht mehr erkennbar. Konnte man noch in den ersten Monaten dieses Gazakriegs den Genozidvorwurf relativ leicht unter Verweis auf die hohe Schwelle der Zerstörungsabsicht zurückweisen (wie von einem dieser Autoren auch hier getan), so fällt dies mit jedem Tag, den dieser Krieg in dieser Form weitergeht, schwerer. Anders gesagt, spricht die Dynamik des Konfliktgeschehens in einer Gesamtschau mittlerweile eher für statt gegen einen Genozid. Insoweit gilt eben auch, dass die Zerstörungsabsicht nicht der einzige Beweggrund des Täters bzw. des Täterkollektivs sein muss. Sie kann durchaus mit militärischen Zielsetzungen und sicherheitspolitischen Erwägungen zusammentreffen.3)
References
↑1 | S. die im Verfahren Südafrika v. Israel abgegebenen Stellungnahme, para. 28: „Ireland construes the mental element of the crime of genocide as being satisfied where the perpetrator has acted deliberately, in a manner designed to destroy, or contribute to the destruction of, the protected group in whole or in part as his or her purpose. Furthermore, in Ireland’s view, specific intent can also be inferred in any case where a reasonable person would have foreseen that the natural and probable consequence of the acts of the perpetrator was to so destroy or contribute to destruction of the protected group, and the perpetrator was reckless as to whether those acts would do so.” |
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↑2 | Israel muss sein counter memorial bis 12.1.2026 einreichen, dann wird es wohl reply und rejoinder geben, so dass nicht vor Mitte 2027 mit einer Verhandlung (on the merits) zu rechnen ist. |
↑3 | Dies entspricht der Rechtsprechung des ICTY, Jelisić, para. 49 („The personal motive of the perpetrator of the crime of genocide may be, for example, to obtain personal economic benefits, or political advantage or some form of power. The existence of a personal motive does not preclude the perpetrator from also having the specific intent to commit genocide.”). |
Vielen Dank für die Arbeit.
Ich, als nicht Jurist, habe dennoch folgende 3 Punkte anzumerken:
1. “Dies dürfte aber nichts daran ändern, dass der pauschale Ausschluss von Hilfsorganisationen aus Gaza völkerrechtswidrig ist und eine Verletzung der Israel als Besatzungsmacht obliegenden Schutzpflichten darstellt (siehe vor allem Art. 55, 56 der vierten Genfer Konvention).”
Der hier elementare Absatz von Art. 55: “Die Besetzungsmacht hat die Pflicht, die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungs‑ und Arzneimitteln mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln sicherzustellen; insbesondere hat sie Lebensmittel, medizinische Ausrüstungen und alle anderen notwendigen Artikel einzuführen, falls die Hilfsquellen des besetzten Gebietes nicht ausreichen.”
Art. 56 geht hauptsächlich um ärztliche Behandlung, die Anerkennung von neuen Spitälern mit Personal und Fahrzeugen von der Besatzungsmacht; die Relevanz hier entzieht sich meiner Kenntnis.
Soweit ich der vierten Genfer Konvention entnehmen kann, muss die Besatzungsmacht Israel dafür Sorge tragen, dass die Bevölkerung mit Nahrungs‑ und Arzneimitteln, einschließlich medizinischer Ausrüstung und Trinkwasser, versorgt wird. Hätte etwa die GHF (Gaza Humanitarian Foundation) bereits vor 2 Wochen (12.5.25) die Versorgung mit Nahrung einschließlich Trinkwasser im Gazastreifen sichergestellt, würde die Einfuhr Untersagung der WFP nicht darunter fallen. Die Einfuhr von benötigten Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung muss natürlich auch gewährleistet sein. (siehe Art.23)
2. “Besonders gravierend sind die Äußerungen des israelischen Ministers Bezalel Smotrich, der von der totalen Zerstörung Gazas spricht und die palästinensische Bevölkerung in einer kleinen „humanitären Zone“ konzentrieren will (siehe hier und hier). ”
Vollständiger weise würde ich anmerken, dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs laut Medienberichten Haftbefehle neben Itamar Ben-Gvir auch gegen Bezalel Smotrich in Arbeit hat. Als Nichtjurist wundere ich mich, dass diese bisher nicht erfolgt ist. (Stand 28.05.2025, 20.18 Uhr)
https://www.spiegel.de/ausland/chefanklaeger-des-internationalen-strafgerichtshofs-soll-haftbefehle-gegen-zwei-israelische-minister-vorbereitet-haben-a-00b3bd2a-bfa5-4965-a556-ca706d5ef4c4?sara_ref=re-xx-cp-sh
3. “Aber auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kündigte jüngst an, dass Israel seine militärischen Bemühungen weiter verstärken werde und dabei die palästinensische Bevölkerung umgesiedelt werden würde.”
Hier muss auch die vierte Genfer Konvention als Rechtsquelle mit berücksichtigt werden, Art. 28: “Keine geschützte Person darf dazu benützt werden, um durch ihre Anwesenheit militärische Operationen von gewissen Punkten oder Gebieten fernzuhalten.”, und Art. 34: “Das Nehmen von Geiseln ist verboten.”
Wenn die Bevölkerung des Gazastreifens zur Umsetzung von Art. 28 und 34 während der Kampfphase an einen gesicherten Ort innerhalb des Gazastreifens gebracht (gemäß Art. 49) und dort versorgt wird, wäre es Völkerrecht konform.
Ergänzende Anmerkung in Bezug auf eine mögliche deutsche Rolle bei Sauberkeit, Hygiene gemäß Art. 49 vierten Genfer Konvention. Ich habe eine Frage diesbezüglich auf der Seite Abgeordnetenwatch an Staatsministerin des Auswärtigen Amts, Serap Güler gestellt. Ich lade Sie im Gegenzug zu meinen 3. Anmerkungen dazu ein, auch sachliche Anmerkung/Kritik zu meiner Frage zu üben.
Als nicht juristisch wünsche ich allen schöne Grüße
Torge M.