Gutachten aus Straßburg: Mehr Arbeit für den ohnehin überlasteten EGMR
Das europäische System des Menschenrechtsschutzes steht vor einer weitreichenden Reform. Die obersten nationalen Gerichte werden, wenn sie auf Schwierigkeiten bei der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention stoßen, den EGMR um ein Rechtsgutachten anrufen können. Diese Maßnahme könnte große Auswirkungen auf die Funktionalität des Systems haben – ob günstige oder nicht, wird sich erst noch zeigen.
Was ist geschehen? Diese Woche hat der Rechtsausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarats den Entwurf einer Stellungnahme zu Protokoll 16 verabschiedet, das die gutachterliche Rechtsprechung des EGMR ausweiten soll. Die Stellungnahme ist weitgehend positiv und ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Annahme des besagten Protokolls, das in Kraft treten wird, sobald zehn Vertragsstaaten es ratifiziert haben.
Gutachterliche Entscheidungen sind wohl bekannt im internationalen Recht. Ihr Hauptzweck ist, für abschließende Rechtsauslegung zu sorgen und Konfrontationen zu vermeiden, wie sie in der streitigen Gerichtsbarkeit unvermeidlich sind. Rechtsgutachten sind gewöhnlich nicht bindend. Der EMRK zufolge hat der EGMR die Kompetenz, Gutachten zu erstellen, aber diese ist deutlich eingeschränkt, und zwar auf zweierlei Weise: Erstens kann der EGMR keine Gutachten über Fragen, die mit in der EMRK verankerten Rechten zusammenhängen, und über Zulässigkeitskriterien erstellen. Zweitens können Gutachten nur vom Ministerrat angefordert werden. Es ist daher nicht überraschend, dass bisher erst dreimal Gutachten angefordert und zweimal welche erstellt wurden, seit die gutachterliche Rechtsprechung in den 70er Jahren durch Protokoll 2 beim EGMR eingeführt wurde.
Die Idee, die gutachterliche Rechtsprechung zu reformieren, wurde nahezu seit dem Moment ihrer Einführung diskutiert. Sie hat sich jedoch nie zu einem gesetzlichen Vorschlag materialisiert, bis zur Brighton-Konferenz über die Zukunft des EGMR, organisiert von der britischen Regierung im April 2012. Die Brighton-Erklärung hat den Ministerrat aufgefordert, ein neues Protokoll zu entwerfen, das die Macht des Gerichts erweitern soll, auch auf Antrag aus den Mitgliedsstaaten Interpretationsfragen im Zusammenhang mit einem bestimmten Fall auf nationaler Ebene gutachterlich zu klären. Nach der Brighton-Konferenz entwarf der Ministerrat Protokoll 16.
Ich werde mich jetzt der Frage zuwenden, was diese erweiterte gutachterliche Rechtsprechung eigentlich bringt.
Es ist ein oft gehörtes Mantra, dass der EGMR zum Opfer seines eigenen Erfolgs geworden ist. Es gibt mehr als 100.000 anhängige Verfahren, und der Gerichtshof steigert jedes Jahr seine Produktivität, nur um mit der wachsenden Zahl von Verfahren überhaupt Schritt halten zu können. Der Gerichtshof hat mit einem unhaltbaren Rückstau zu kämpfen, und man sollte meinen, dass jede Reform sich vor allem zum Ziel setzen müsste, diese hohe Belastung des Gerichtshofs zu reduzieren.
Protokoll 16 dagegen lädt dem ohnehin überlasteten EGMR noch mehr Fälle auf. Dem Protokoll zufolge werden Gutachten von der Großen Kammer abgegeben, bestehend aus 17 Richterinnen und Richtern. Das Verfahren vor der Großen Kammer ist komplex und langwierig, normalerweise liefert sie nicht mehr als 20 Entscheidungen pro Jahr ab. Eine Vorlage eines nationalen Gerichtes kann zurückgewiesen werden, und dann braucht keine Gutachten zu ergehen, aber auch diese Entscheidung muss ein fünfköpfiger Richterausschuss fällen und begründen. Der Protokollentwurf argumentiert, dass das Gutachtenverfahren nicht kontradiktorisch sein und daher weniger Zeit in Anspruch nehmen wird als streitige Verfahren. Man kann sich jedoch der Anfangszeit des Gerichtshofs entsinnen, als auch streitige Verfahren viel weniger kontradiktorisch geführt wurden, aber nach und nach immer kontradiktorischer wurden. Dazu kommt, dass die Legitimität eines Verfahrens, in dem eine oder beide Parteien keine Gelegenheit bekommen, ihre Argumente zu Gehör zu bringen, zweifelhaft erscheint. Man kann also sagen, dass selbst wenn Gutachten weniger lange Zeit brauchen als streitige Verfahren, sie doch erheblich belastend wirken und angesichts des Verfahrensstaus beim Gerichtshof sich schädlich auswirken werden.
Außerdem werden gutachterliche Vorlagen prioritär behandelt werden müssen vor normalen streitigen Verfahren. Das hat der Gerichtshof in seiner Stellungnahme zu Protokoll 16 anerkannt. Ein Gutachten wird von einem obersten nationalen Gericht im Rahmen eines laufenden Verfahrens angefordert. Dieses Verfahren muss ausgesetzt werden, bis der EGMR das Gutachten liefert. Wenn er dafür Jahre braucht, könnte womöglich der EGMR selbst dazu beitragen, dass Art. 6 EMRK verletzt wird, der vor zu langer Verfahrensdauer schützt. Dies wird noch wichtiger, wenn es bei dem Gutachten um Freiheits- oder Schutzrechte geht, oder das Folterverbot, bei denen der Zeitfaktor entscheidend sein kann.
Wenn Protokoll 16 in Kraft tritt, könnte der selbe Fall den Gerichtshof zweimal beschäftigen: Erst als Vorlage für ein Gutachten, dann als streitiges Verfahren, wenn eine der Parteien unzufrieden ist mit der Umsetzung des Gutachtens durch das nationale Gericht. Es scheint, dass diese Doppelentscheidung das Rückstauproblem des Gerichtshos eher verschärfen als lösen wird.
Der Rückstau besteht hauptsächlich aus gleichartigen begründeten oder unzulässigen Klagen. Das Gutachtenverfahren wird nahezu nichts bringen, um das Problem zu lösen. In diesen Fällen ist das Recht klar, und die nationalen Gerichte sollten einfach umsetzen, was der Gerichtshof bereits klar in verschiedenen streitigen Verfahren festgelegt hat. Gutachten können helfen, neue Standards zu setzen, aber dem Gerichtshof fehlt es nicht an streitigen Verfahren, in denen er in nahezu allen Bereichen des Rechts der Menschenrechte neue Standards setzen kann.
Ein weiterer Grund für die Einführung gutachterlicher Rechtsprechung ist, dass man so den Rechtsdialog zwischen dem EGMR und den nationalen Gerichten der Vertragsstaaten anregt. Es ist schwer zu sagen, ob Protokoll 16 diese Erwartung erfüllen wird, und das wird hauptsächlich davon abhängen, wie das Gutachtenverfahren praktisch angewandt wird. Hier genügt es, auf zwei Herausforderungen hinzuweisen, die die ganze Reform wirkungslos machen könnten.
Protokoll 16 sagt, dass der EGMR die Gutachtenvorlage zurückweisen kann. Wird sie zurückgewiesen, wird das nationale Gericht eine Entscheidung nach eigenem Gutdünken fällen müssen. Ist eine der Parteien mit dieser Entscheidung nicht zufrieden, kann sie wiederum den EGMR anrufen. Nichts würde den EGMR daran hindern, einen Verstoß festzustellen, wenn einer vorliegt. Um dieses Szenario zu vermeiden, müsste der EGMR entweder die meisten Vorlagen annehmen, was sein Rückstauproblem vergrößern würde, oder er müsste sich den nationalen Gerichten mehr unterordnen, was ebenfalls eine zweifelhafte Strategie wäre. Generell können solche Situationen die Zusammenarbeit und den Dialog zwischen EGMR und nationalen Gerichten eher unterminieren als stärken.
Zu guter Letzt: es ist weithin anerkannt, dass richterlicher Dialog vor allem im Kontext der EMRK, deren Wirksamkeit in bedeutendem Ausmaß von ihrer Einbettung in die nationalen Rechtsordnungen abhängt, ein positives Phänomen ist. Dieser Dialog sollte aber nicht auf Frage-und-Antwort-Sitzungen beschränkt sein, wo die nationalen Gerichte die Fragen stellen und der EGMR abschließende Ratschläge erteilt. Das schränkt das Ermessen der nationalen Gerichte ein und verschiebt die Verantwortung für schwierige und wichtige Entscheidungen von den nationalen Gerichten auf den EGMR.
Das Thema der Reform des Gutachtenverfahrens kann in einem kurzen Blogbeitrag nicht abschließend behandelt werden; es gibt nuanciertere Argumente für und gegen die Reform. Für eine tiefergehende Diskussion dieser Reform siehe K. Dzehtsiarou: ‘Interaction between the European Court of Human Rights and member States: European consensus, advisory opinions and the question of legitimacy’ in S. Flogaitis, T. Zwart und J. Fraser (Hrsg.): The European Court Of Human Rights And Its Discontents: Turning Criticism into Strength (Elgar, 2014) und K. Dzehtsiarou und N. O’Meara: ‘Advisory Jurisdiction and the European Court of Human Rights: A Magic Bullet for Dialogue and Docket-Control?’ Legal Studies (im Erscheinen, 2014).
Übersetzung aus dem Englischen von Maximilian Steinbeis.
Mir scheint die gewählte Sicht arg pessimistisch zu sein.
Zunächst dürfte allein schon die Beschränkung des Vorlagerechts auf die designierten obersten nationalen Gerichte dafür sorgen, dass die Auswirkungen auf die Arbeitsbelastungen des EGMR nicht allzu groß ausfallen werden. Stehen den nationalen Gerichten mit § 148 ZPO analog vergleichbare Aussetzungsbefugnisse zu, kann das Vorlageverfahren sogar den EGMR von gleichartigen Verfahren entlasten. Auch halte ich die Belastungsgefahren der Möglichkeit einer Doppelbefassung des EGMR für gering: Wenn nicht das weitere Verfahren Anhaltspunkte für eine originäre Beschwer gibt, wird eine Folge-Individualbeschwerde wegen fehlender Erfolgsaussichten gar nicht erst erhoben werden oder ihr wird mit Art. 35 Abs. 2 leicht begegnet werden können.
Dialog statt Kassation hilft außerdem der nationalen und nationalgerichtlichen Gesichtswahrung und damit der Akzeptanz des EGMR. Wenn ich etwa an die Caroline-Konstellation denke, hat ein Vorlageverfahren durchaus seinen Charme.
Ich wage schließlich zu spekulieren, dass sich in einer künftigen Verfahrensstatistik Unterschiede bei Herkunft und Inhalt zwischen Vorlageverfahren und sonstigen Verfahren einstellen werden. Derzeit stammt die Hälfte der Verfahren aus drei Vertragsstaaten (RU, TR, RP) und inhaltlich betrifft die Hälfte der Verfahren einen einzigen Konventionsartikel (Art. 6). Das Vorlageverfahren wird wohl einen vergleichweise höheren Anteil bei den westeuropäischen Vertragsstaaten und den materiell-rechtlichen Gewährleistungen (Art. 8, 10, ZP. 1) aufweisen. Wie man dies bewertet, hängt davon ab, welche Rolle man sich für den EGMR wünscht.
[…] wurde positiv bewertet, soweit es um politisch sensible Fragen geht. Allerdings wurde auch hier Kritik angemeldet: Ist eine solche gutachterliche Stellungnahme nicht weniger bindend im Sinne des Art. 46 […]