Kein Schutz
Der größte Flächenbrand, den es in der EU je gegeben hat, tobt derzeit rund um die griechische Stadt Alexandroupoli. Die liegt im äußersten Osten des Landes, fast an der Grenze zur Türkei. Über diese Grenze, markiert durch den Fluss Evros, verläuft eine der Fluchtrouten, über die Menschen, die regulär nicht in die EU hineingelassen werden, die Außengrenze irregulär überwinden auf der Suche nach einem Raum für sich selbst und ihre Familie, in dem sie ihres Lebens, ihrer Freiheit und ihrer Menschenwürde ein bisschen weniger unsicher sein können sind als daheim. 18 dieser Menschen, darunter zwei Kinder, sind in dieser Woche im Dorf Havantas etwas nördlich von Alexandroupoli von den Flammen eingeschlossen worden und lebendig verbrannt.
Möglicherweise wird die Zahl der Toten bald noch steigen. Aktuell sind in der Gegend offenbar rechte Milizen unterwegs, die mit der Behauptung, die Feuer seien von Migrant*innen gelegt worden, die Bevölkerung zur Jagd auf Geflüchtete aufhetzen. Diese Behauptung ist zwar eine Lüge – Blitzschläge haben das Feuer ausgelöst – und ohnehin vollkommen unplausibel, wird aber trotzdem offenbar von vielen geglaubt. Ich kann mir denken, warum. Es wird immer heißer, die Brände und die Trockenheit immer verheerender, die Angst immer größer, die Spannung zwischen den Polen des sich immer weiter zuspitzenden Konflikts um das Ende der Fossilität immer unerträglicher. Die Versuchung, diese Spannung auf Kosten einer fremden, unvertrauten Minderheit gewaltsam zu entladen, ist überall in Europa zu spüren, nicht nur im Evros-Delta. So entstehen Pogrome. So entsteht Faschismus. Das passiert gerade, in Griechenland, überall.
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Die großen Fluchtbewegungen der Gegenwart sind zumeist, mittelbar oder unmittelbar, selbst ein Symptom dieses Konflikts und des Spannungsfelds, das er erzeugt. Entsprechend steigt überall auch die Versuchung, den Geflüchteten sozusagen an sich selbst die Schuld zu geben: Das muss doch irgendwie kriminell sein, dass die da sind. Die muss man doch für ihr schieres Zu-uns-geflüchtet-Sein irgendwie bestrafen können.
Die NGO borderline-europe dokumentiert und analysiert seit Jahren die zunehmende Kriminalisierung von Geflüchteten in Europa. In dieser Woche wurden in Frankreich zwei junge Sudanesen verhaftet, einer davon ein Teenager von 16 oder 17 Jahren, Überlebende eines der vielen namenlosen Bootsunglücke, in diesem Fall auf dem Ärmelkanal. Die Gangsterorganisationen, die an dem Schleusungsgeschäft verdienen, setzen die Ihren nur ungern dem tödlichen Risiko der Überfahrt aus, sondern lassen lieber ihre Passagiere gegen einen Preisnachlass selbst das Steuer übernehmen. So offenbar auch die beiden jungen Sudanesen. Jetzt werden sie wohl wegen fahrlässiger Tötung und bandenmäßig organisierter Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt. Schleuser und Geschleuster fallen in eins.
DANA SCHMALZ nimmt in einem VB-Post, den ich Ihnen in dieser Woche besonders nachdrücklich ans Herz legen möchte, diesen Fall zum Anlass, sich die völkerrechtlichen Grenzen dieser Kriminalisierung genauer anzuschauen – und die sind enger, als man vielleicht denkt. Es gibt ein Zusatzprotokoll zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, das die Schleusung von Migrant*innen auf dem Land-, See- und Luftweg betrifft. Danach ist Schleuserei ein Verbrechen, um die Migrant*innen zu schützen, nicht um sie zu bestrafen.
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Im strafrechtlich-kriminologischen Teilprojekt „Whistleblowing in der Polizei“ (Leitung Prof. Dr. Ralf Kölbel) innerhalb des SFB 1369 „Vigilanzkulturen“ ist eine Stelle als wiss. Mitarbeiterin / wiss. Mitarbeiter (m/w/d) zu besetzen (65%, E 13 TV-L, bis zum 30.06.2027 befristet). Das Projekt untersucht konflikthafte Bewertungsprozesse zur Missstandskommunikation in der Polizei.
Fragen und aussagekräftige Bewerbungen (diese mit den üblichen Unterlagen in einem PDF) sind zu richten an ralf.koelbel@jura.uni-muenchen.de
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In Deutschland werden unterdessen, wenn Bundesinnenministerin Nancy Faeser ihren Willen bekommt, Asylsuchende künftig mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft, wenn sie “unrichtige oder unvollständige Angaben” machen, um als schutzberechtigt anerkannt zu werden. Bisher ist es nur strafbar, im Verfahren um die Aufenthaltserlaubnis die Unwahrheit zu sagen, nicht aber im Asylverfahren. Das hat seine Gründe: 1982 habe sich der Gesetzgeber bewusst dagegen entschieden, falsche Angaben im Asylverfahren zu kriminalisieren, heißt es in einer Pressemitteilung des DAV. Kriminell sind die Schleuserbanden, die mit dem Schmuggel von Menschen ein unfassbares Geld verdienen. Um sie verfolgen zu können, braucht man die Aussage der Asylsuchenden. Wenn die aber selbst von Strafe bedroht sind, dürfen und werden sie die Aussage verweigern. Je weniger es das organisierte Verbrechen ist, das vor Gericht steht, und je mehr deren Opfer selber, desto weniger Gewicht hat diese Ãœberlegung noch.
Die Woche auf dem Verfassungsblog…
… war noch vergleichsweise ruhig ansonsten, saisonbedingt vermutlich.
Bevor ich dazu komme: Im Rahmen des Thüringen-Projekts suchen wir studentische Hilfskräfte! Bei Interesse bitte hier entlang. Und gerne an potenziell Interessierte weitersagen!
Was wir hier machen seit vielen Jahren und jeden Tag, ist das Veröffentlichen wissenschaftlicher Texte, die vielfach Prozesse und Entwicklungen zum Gegenstand haben, die in der Rechts- und Politikwissenschaft oft unter dem Begriff “Democratic Backsliding” zusammengefasst werden. Genau das hat auch der Ökonom Sabyasachi Das getan und in den indischen Parlamentswahlen 2019 eine Reihe von Indizien für die systematische Diskriminierung muslimischer Wähler*innen gefunden. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass auf die größte Demokratie der Welt unter ihrem gegenwärtigen Regime der Befund eines Democratic Backsliding viel für sich hat, dann wurde er umgehend erbracht: Seine Universität zwang ihn zum Rücktritt, und seine Fakultät, die zu ihm hielt, bekam Besuch vom Geheimdienst. Das ist nicht der einzige Fall, der zeigt, wie es um die Wissenschaftsfreiheit in Indien mittlerweile bestellt ist, wie ANMOL JAIN auch aus eigener Anschauung schildert.
Ob der Schutz privater Daten bei der indischen Regierung in guten Händen ist? Das Modi-Regime steht im Verdacht, ihre politischen Gegner mit dem Einsatz von Spyware auszuspähen. Vor kurzem ist das neue Datenschutzgesetz in Indien in Kraft getreten, und NIVEDITHA PRASAD hat große Zweifel an der Unabhängigkeit der Institutionen, die es zum Zwecke des Datenschutzes installiert.
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Für das neue Forschungsprojekt „Staatliche Eingriffe in private Endgeräte zur Strafverfolgung“ sucht das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation in München einen wissenschaftlichen Mitarbeiter im Bereich Rechtswissenschaft (m/w/d, Predoc/Postdoc, TV-L E 13, Voll-/Teilzeit, Bewerbung bis 17.09.). Das Projekt untersucht in einem interdisziplinären Team über drei Jahre den Umgang mit Schwachstellen, Notwendigkeit des Zugriffs auf das Endgerät, Regulierung von Mitwirkungspflichten und technische Realisierungsmöglichkeiten.
Die Stellenausschreibung finden Sie hier.
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In Deutschland hat das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) eine neue Präsidentin, die aber nach dem Getöse um den Rücktritt ihres Vorgängers und einer Gesetzesänderung jetzt eine politische Beamtin und damit viel leichter abberufbar ist als jener. Unabhängig sein und politische Beamtin? NICOLAS ZIEGLER hält das für ziemlich problematisch.
In Schweden überlegt die Regierung, aus gegebenem Anlass das Verbrennen des Korans zu verbieten. ESTER HERLIN-KARNELL hält ein solches Verbot für vereinbar mit der Meinungsfreiheit und hat wenig Verständnis für die libertäre Haltung, die die schwedische Justiz in dieser Frage an den Tag legt.
Ein reicher Finne wurde nach einem Bootstrip über die Ostsee hinüber nach Estland mit einer Geldstrafe belegt, weil er bei der Rückkehr nach Finnland seinen Pass nicht vorzeigen konnte. Die Strafe, wie in Finnland üblich, fiel sehr hoch aus, weil der Mann im Monat nicht weniger als 700.000 Euro verdiente. Das fand der EuGH unverhältnismäßig. SAKARI MELANDER ist irritiert und erinnert daran, dass das finnische Strafrecht mit Tagessätzen operiert, die an den Vermögensverhältnissen des Zahlers orientiert sind – ein System, das der EuGH mit seinem Verständnis von Verhältnismäßigkeit ohne Not zerstört habe. Der Fall sei ein Beispiel für die problematischen Auswirkungen des EU-Rechts auf das Strafrecht.
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Call for Application – MPIL Journalist in Residence Fellowship 2024
Apply now for the #MPIL Journalist in Residence Fellowship 2024 (Deadline: 06 October 2023). The Fellowship is geared towards experienced journalists who report and write on legal and constitutional topics, or topics from politics, economy, and research. For a period of three months, it provides a unique space for research-based journalism, exchanges with leading academic experts, and encounters with new fields of research on law. A monthly research grant and desk space at the institute in Heidelberg is offered for the duration of the stay.
For further information click here.
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Beunruhigende Neuigkeiten aus dem kleinsten EU-Mitgliedstaat Malta meldet JENNY ORLANDO-SALLING: Dort hat ein Richter in der Frage, ob ein österreichisches Urteil gegen eine der in Malta kraft Gesetzes vor Haftung umfänglich geschützten Gaming-Unternehmen durchgesetzt werden muss, unter Verweis auf die maltesische Verfassung kurzerhand behauptet: nein, müsse es nicht. “Ein kaputtes Justizsystem und eine veraltete Verfassung sind ein tödliches Duo”, so ihr Fazit.
Um zum Ausgangspunkt zurückzukommen: ANNICK PIJNENBURG nimmt die “strategische Partnerschaft” zwischen der EU und dem immer tiefer im Autoritarismus versinkenden Tunesien zur gemeinsamen Abwehr von Geflüchteten unter die Lupe. Nicht nur was vereinbart wurde, sei sehr problematisch, sondern auch wie es vereinbart wurde. Dass Abkommen wie dieses die Abhängigkeit von Geflüchteten von kriminellen Schleuserbanden nur noch vertiefen, scheint kein Aspekt zu sein, der in der europäischen Migrationspolitik allzu sehr ins Gewicht fällt. Die Bösen werden bestraft, was? Da schlafen wir doch gut hinter den Mauern des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.
Das war’s für diese Woche. Ihnen einstweilen alles Gute, und bis nächste Woche!
Ihr
Max Steinbeis
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Dear Sir,
The suggestion made in your article entitled ‘Kein Schutz’ that the (on-going) wildfire in the Evros area of Greece was started by a lighting is pure speculation. Natural causes are, at this stage, treated as equally likely a cause for this catastrophe as arson. The investigation into the causes of the wildfire had yet to yield any conclusive results, and I would be somewhat surprised if you had access to confidential information on a complex forensic investigation that has yet to come to any conclusion at all. I would imagine that Verfassungsblog wants to be careful not to engage in speculation, especially when such speculation provides the basis for wild theories around pogroms of which there is no sign in Greece. You may want to be careful, so that your credibility might not suffer as a result. The temptation to indulge in sensational reporting is understandable, but this is best left to other, less reliable outlets.
Best regards,
Phoebus Athanassiou,
Athens, Greece
Thanks for your comment. I rely, among others, on this report by Kathimerini which is quite clear about the facts.
Leider kann ich den griechischsprachigen Artikel nicht verstehen.
In deutschsprachigen Medien ist mittlerweile zu lesen, dass mehrere Personen wegen des Verdachts der Brandstiftung festgenommen wurden.
Es entspricht meines Wissens auch der langjährigen Erfahrung, dass Brandstiftung ein Gros der Waldbrände im Mittelmeerraum auslöst.
Das ist selbstverständlich noch lange kein Grund, Migranten zum Sündenbock zu machen, aber auch der Verweis zu den “rechten Milizen” führt leider zu keiner Quelle, aus der etwas über rechte Milizen hervorginge. Bei der Tagesschau wird ein Video einer Einzelperson genannt, die dazu auffordere, Milizen zu bilden, ist es das, was Sie meinen?
Meine Befürchtung ist, dass gerade dieser sensationslustige Twitter-Stil das Potential hat, Pogrome auszulösen. Es wäre schön, wenn der Verfassungsblog wieder auf den Boden der Seriosität zurückkäme.
ich kann auch keinen griechischsprachigen Artikel verstehen, aber ich kann ihn mir in Chrome oder Edge übersetzen lassen, und das können Sie auch, bevor Sie hier Betrachtungen über den Boden der Seriosität und unseren Platz darauf anstellen. Die verhafteten Migranten waren von Vigilantes gekidnappt worden und sind schon wieder freigelassen worden, weil nichts gegen sie vorlag.
Hier noch ein paar Links zu weiteren Quellen:
https://thepressproject.gr/emena-me-chtypisan-sto-cheri-kai-sto-podi-sas-deichno-ta-travmata-mou-katatheseis-prosfygon-aichmaloton-sto-fortigo/
https://www.ekathimerini.com/news/1218338/authorities-apprehend-suspect-connected-to-migrant-confinement-video/
https://www.efsyn.gr/ellada/dikaiosyni/401935_eleytheroi-oi-4-pakistanoi-mono-oi-serifides-eidan-empristiko-mihanismo
https://tvxs.gr/news/ellada/omerta-ston-evro-oi-akrodexies-omades-oi-atypes-epistrateyseis-kai-ta-170-aythaireta-spitia-toys/?fbclid=IwAR3PE0iRvjZycXY80jXT4AgZJMJjA-hqVxDIdmwAAZgRslayxH-QSyqAIes
https://twitter.com/VassilisTsarnas/status/1696096399497015370?s=20
Von verhafteten Migranten habe ich nichts geschrieben. Ich denke, dass wohl eher griechische Pyromanen verhaftet wurden – und zwar von den zuständigen Behörden. Die Jagd auf Migranten durch selbsternannte Bürgerwehren würde ich nicht als Verhaftung bezeichnen.
Danke für die nachgelieferte Quelle, nun weiß ich, welchen Vorfall Sie im Sinn hatten.