Keine Diktatur der Volksherrschaft! Warum Volksrechte und Menschenrechte nicht gegeneinander ausgespielt werden sollten
Vor einigen Tagen hat Astrid Epiney im Rahmen dieses Symposiums einen Beitrag zur in der Schweiz laufenden Debatte über das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht publiziert. Zwar ist diese Diskussion in der Schweiz nicht neu und macht seit einigen Jahren auch international Schlagzeilen (Stichwort völkerrechtlich problematische Volksinitiativen wie Minarettverbotsinitiative oder Ausschaffungsinitiative), sie hat aber jüngst ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht: Die Schweizerische Volkspartei (SVP), Urheberin der eben zitierten Initiativen, hat die Lancierung einer Volksinitiative mit dem einprägsamen Titel „Schweizer Recht geht fremdem Recht vor“ in Aussicht gestellt. Ziel dieser Initiative ist es, die schweizerische Rechtsordnung vor „Fremdbestimmung“ zu schützen, indem unter anderem der Vorrang des schweizerischen Verfassungsrechts vor Völkerrecht in der Verfassung verankert werden soll. Eine weitere angedachte Vorschrift sieht vor, dass Widersprüche zwischen der Verfassung und Völkerrecht künftig durch Anpassungen auf der völkerrechtlichen und nicht mehr der innerstaatlichen Ebene vorgenommen werden sollen, kurz: dass völkerrechtliche Verträge, die der Verfassung widersprechen, neu zu verhandeln und anzupassen oder gegebenenfalls zu kündigen wären.
Wie Astrid Epiney ausführt, bildet den Anstoß für diese Initiative insbesondere die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR. Grund für den Unmut in der Schweiz ist unter anderem eine Anhäufung von Volksinitiativen in den letzten Jahren, die zwar in der Abstimmung von Volk und Ständen angenommen wurden, deren Konkretisierung und Ausführung den Gesetzgeber aber vor derart große Schwierigkeiten stellten, weil sie kaum in Übereinstimmung mit völkerrechtlichen Vorgaben und insbesondere der EMRK zu bringen waren, dass dem „Volkswillen“ nicht vollständig stattgegeben werden konnte. Über die Umsetzung der 2010 gutgeheißenen Ausschaffungsinitiative wird heute noch gestritten (siehe etwa hier und hier). Genau hier setzt die Initiative an: Statt künftig in demokratischen Verfahren beschlossene Bestimmungen nicht bzw. nicht vollständig umzusetzen, soll das Völkerrecht weichen. Denn das Volk hat gesprochen. Doch ist der Volkswille wirklich um jeden Preis durchzusetzen?
Die Initiative könnte zur Kündigung der EMRK führen. Doch noch vor ihrer Lancierung liegen bereits handfeste Austrittsforderungen auf dem Tisch: Der Vertreter der Schweizerischen Volkspartei im Bundesrat, der schweizerischen Regierung, hat in diesem Gremium formell die Kündigung der EMRK beantragt. Ich kann Astrid Epiney nur darin beipflichten, dass die Einführung entsprechender Regelungen in der Verfassung aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten höchst problematisch wäre. In besonderem Maße gälte dies auch für die Kündigung der EMRK. Hierzu möchte ich nun noch etwas genauer ausführen.
Zunächst ist es schlicht undifferenziert, wenn das Völkerrecht als „fremdes“ Recht bezeichnet wird. Leider gelingt es immer wieder, mit Schlagwörtern dieser Art Wähler zu gewinnen. Trotzdem ist eine solche Bezeichnung irreführend: Obwohl in einer immer stärker vernetzten Welt internationale Kooperation oft unumgänglich ist und völkerrechtliche Bindung damit nicht immer aus vollkommen freiem Willen eingegangen wird, braucht es nichtsdestotrotz eine freiwillige Erklärung, gebunden sein zu wollen. In der Schweiz gelten dabei aus einer rechtsvergleichenden Perspektive einzigartige Bestimmungen: Erstens bestehen vergleichsweise weitreichende parlamentarische Mitwirkungsrechte bereits in der Phase der Aushandlung völkerrechtlicher Verträge, wodurch das Parlament nicht wie in vielen Ländern vor einen fait accompli gestellt wird und bereits fertig ausgehandelte Verträge nur entweder genehmigen oder verwerfen kann. Und außerdem bestehen direkt-demokratische Partizipationsmöglichkeiten auch mit Bezug auf das Völkerrecht: Die Mehrheit der völkerrechtlichen Verträge untersteht heute in der Schweiz dem Referendum und kann damit vom Volk abgelehnt werden – und trotzdem wurde davon seit der Einführung lediglich in seltenen Ausnahmefällen Gebrauch gemacht. Diese Mitspracherechte machen deutlich, dass Volk und Parlament an der völkerrechtlichen Bindung durchaus beteiligt sind und sich Völkerrecht so bis zu einem gewissen Grad zu „Eigen“ machen. Von „fremdem“ Recht kann damit jedenfalls nicht die Rede sein.
Nun ist es zugegebenermaßen wahr, dass zum Zeitpunkt der Unterzeichnung und Ratifikation der EMRK diese Rechte nicht bestanden, die EMRK also auch nicht dem Referendum unterstand. Sie deshalb nun nach 40 Jahren zu kündigen, wäre aber ein verheerendes Zeichen, insbesondere aus einem Land mit einer humanitären Tradition wie der Schweiz. Die Schweiz, die immerhin internationale Organisationen wie IKRK und UN beherbergt, wäre damit neben Weißrussland das einzige Nicht-EMRK-Mitglied Europas.
Gerade im Zusammenhang mit der EMRK mutet es zudem besonders seltsam an, von „Fremdheit“ zu sprechen. Die EMRK bildete ein wichtiges Vorbild für den schweizerischen Verfassungsgeber: Der im Rahmen der Totalrevision 1999 aufgenommene Grundrechtekatalog ist stark inspiriert von der EMRK. Besonders deutlich wird dies bei den Verfahrensrechten (Art. 29-32), die zwar nicht wortwörtlich mit den entsprechenden EMRK-Bestimmungen übereinstimmen, aber dennoch teilweise unverkennbar auf diese zurückgehen. Auch in der Schweiz hat die EMRK die Rechtsstaatlichkeit geprägt und gestärkt; längst sind die beiden Ebenen ineinander verwachsen. Sie als voneinander getrennte Sphären zu behandeln, macht keinen Sinn.
Zu alledem kommt, dass die EMRK in der schweizerischen Rechtsordnung eine ganz besondere Rolle spielt. Dies hängt mit den Eigenheiten der Schweizerischen Verfassung zusammen – diese ist nämlich vergleichsweise wenig „sakral“. Das Prinzip lautet, dass sie „jederzeit ganz oder teilweise revidiert werden“ kann (Art. 192 Abs. 1). Und genau dies geschieht auch regelmäßig durch die Annahme von Volksinitiativen, die – da sie lediglich Vorschläge für neue Verfassungsbestimmungen beinhalten können – eigentliche Verfassungsinitiativen sind und zumeist wortwörtlich in die Verfassung aufgenommen werden, wenn sie die Zustimmung von Volk und Ständen erhalten. So finden auch Bestimmungen mit wenig „verfassungswürdigem“ Inhalt Eingang in die Verfassung und stehen gleichranging neben allen anderen Verfassungsbestimmungen. Dazu kommt, dass die Schweiz nur über eine eingeschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit verfügt – Bundesgesetze müssen durch die Gerichte angewendet werden, auch wenn sie gegen die Verfassung verstoßen (Art. 190). Durch den grundsätzlichen Vorrang, den Völkerrecht und insbesondere menschenrechtliche Garantien bis anhin in der Schweiz genießen, ermöglicht die EMRK eine Art indirekte Verfassungskontrolle von Gesetzen mit Bezug auf die Rechte, die auch durch die EMRK gewährt werden. Ebenfalls wegen des grundsätzlichen Vorrangs der EMRK sind auch Volksinitiativen möglichst EMRK-konform auszulegen und umzusetzen (so auch eine neuere Entscheidung des Bundesgerichtes). Durch die EMRK wird damit im Rahmen der geltenden Verfassung ein grundrechtlicher Mindeststandart gewährleistet, der unter der Verfassung allein nicht sichergestellt wäre.
Im Namen der direkten Demokratie und der Volksrechte die Menschenrechte einzuschränken, wäre also ein gefährliches Spiel. Es gehört zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit, ein gewisses Minimum an Rechten auch vor den Entscheidungen der Mehrheit zu schützen. Das sollte auch für das Volk gelten, wenn es auf eigene Initiative Recht erlässt. Dass eine funktionierende und lebendige Demokratie ohne die Gewährung gewisser Grundrechte nicht denkbar ist, muss gar nicht erst erklärt werden. Volksrechte und Menschenrechte ergänzen sich und sollten auf keinen Fall gegeneinander ausgespielt werden. Im Falle von Spannungen oder gar Konflikten sind sie in vorsichtiger Abwägung im Einzelfall in Ausgleich zu bringen – eine starre Vorrangregel kann dem auf keinen Fall gerecht werden.
Alle Beiträge des Symposiums erscheinen auch auf dem Völkerrechtsblog.