Krise, Kritik und Globaler Konstitutionalismus
Globaler Konstitutionalismus ist etwas für Optimisten. Dass politische Macht in der globalisierten Welt sich der Herrschaft des Rechts, der Demokratie und den Menschenrechten unterwirft, ist nichts, was sich rein faktenorientiert an irgendwelchen Messinstrumenten ablesen ließe – noch viel weniger, dass sie sich diesen konstitutionellen Grundprinzipien auch auf globaler Ebene unterwerfen sollte. Das muss man schon auch glauben wollen, zumal in Zeiten wie diesen, wo sich die Zweifel häufen: Sind diese im Westen entwickelten Verfassungsprinzipien wirklich so universalisierbar, dass sie sich Chinesen, Saudis, Türken und Russen auch dann anempfehlen, wenn diese zunehmend – und zunehmend selbstbewusst – ohne sie zurechtzukommen scheinen? Was lehrt es uns bei unseren Versuchen, supra-, trans- und internationale Organisationen in konstitutionellen Kategorien zu beschreiben, dass dieselben allerorten die Bürgerinnen und Bürger auf die Barrikaden treiben? Kritische Reflexion tut not, und die Gelegenheit dazu erhielt der globale Konstitutionalismus letzte Woche bei einem außergewöhnlich prominent besetzten Workshop, den unser Partner, das Center for Global Constitutionalism beim WZB, gemeinsam mit der Humboldt-Universität und dem Frankfurter “Normative-Orders“-Cluster in Berlin veranstaltet hat.
Rechtfertigbarkeit
“Global Constitutionalism and Critical Theory” war der Workshop betitelt, und der wohl exponierteste Kopf der dritten Generation der Frankfurter Schule, der Philosoph Rainer Forst, stieg als erstes in den Ring. Wer nach dem normativen Gehalt von nationalen und transnationalen Verfassungssystemen sucht, so Forsts These, der findet ihn nicht im Begriff der Legitimität. Was als legitime Rechtsbindung Respekt verdient, ergibt sich immer erst aus dahinterliegenden Konzepten, ob es nun Gottes Wille ist oder das geordnete Funktionieren des Staatswesens, Sicherheit, Freiheit, Demokratie. Demokratie? Schon besser. Aber zu fordern, dass man nur solchen Rechtsbindungen unterworfen sein soll, deren potenzielle Mitautor_in man ist, verweist ebenfalls auf ein dahinterliegendes Prinzip, nämlich als autonome Person anerkannt zu werden, das nicht irgendwelchem Recht unterworfen wird, sondern nur solchem, das sich rechtfertigen lässt. Und womit? Am Ende, so Forst, lande man immer bei der Gerechtigkeit, dem normativen Begriff in Bezug aus politische Ordnungen schlechthin. Kein Verfassungssystem, das nach etwas anderem als Gerechtigkeit strebt (etwa dem Machterhalt der Mächtigen), könne in irgendeinem normativen Sinn demokratisch sein, selbst wenn die Wahlen noch so korrekt verlaufen. Und legitim schon sowieso nicht.
Ob ein System für alle bindend sein soll oder nicht, erkennt man somit am Ende allein daran, dass es sich gegenüber allen als freie und gleiche Personen rechtfertigen lässt. Kann man damit China überzeugen? Melissa Williams, die für Seyla Benhabib kurzfristig eingesprungene Politologin aus Toronto, hatte ihre Zweifel. In einer meritokratisch orientierten Kultur, die die Frage, wer herrschen soll, nicht so sehr mittels demokratischer Institutionen, sondern anhand des Wohles für das Volk beantwortet, werde man womöglich mit einer so stark am autonomen Individuum anknüpfenden Theorie nicht weit kommen. Kommt darauf an, antwortete Forst: Soweit gemeint sei, dass unterschiedliche Kulturen Rechtfertigung auf unterschiedliche Weise betreiben, habe er nichts dagegen – nur rechtfertigen müsse man halt. Erst wenn jemand tatsächlich behauptet, dass andere Kulturen einer anderen moralischen Grammatik folgen, wonach manche Menschen schlicht einer Rechtfertigung unwürdig sind, müsse er widersprechen.
Alexander Somek, Verfassungs- und Rechtstheoretiker aus Wien, griff von der anderen Seite an: Meritokratie sei immer mit dem inhärenten Anspruch verknüpft, dass manche besser Bescheid wissen als andere – das könne man doch als Exponent der Kritischen Schule nicht gut finden. Auch Melissa Williams hakte nach und wollte wissen, ob er seinen Demokratiebegriff nicht überdehne. Keine Spur, so Forst. Demo- und Meritokratie seien zwar nicht austauschbar, aber auch kein unbedingter Widerspruch. Auch Demokratien seien nicht frei von Meritokratie, wenn man beispielsweise die oft enorm mächtigen Verfassungsgerichte betrachte.
Gastgeber Mattias Kumm wiederum bezweifelte, ob Legitimität und Gerechtigkeit wirklich auf diese Weise ineinanderfallen. Eine Entscheidung, die man als vernünftigen Versuch, Gerechtigkeit zu üben, verstehen kann, könne man für zwar ungerecht, aber dennoch legitim halten. Er sehe gar keinen fundamentalen Unterschied zwischen beiden Begriffen; was für gerecht gelte, sei historisch auch nicht weniger kontingent als Legitimität. Das bestritt Forst mit Leidenschaft: Der Begriff Gerechtigkeit habe eine normative Kernsubstanz, die der heute dies, morgen jenes bedeutenden Legitimität abgehe. Metaphorisch gesprochen: Justitia ist eine Göttin! Eine Göttin Legitimitia dagegen hat es aus gutem Grund nie gegeben.
Von Fiedlern und Tänzern
Mit Hauke Brunkhorst, dem Verfassungssoziologen aus Flensburg, war die Kritische Theorie noch mit einem weiteren prominenten Exponenten auf dem Podium vertreten, und anders als Forst ging Brunkhorst mit gesenkten Hörnern auf die global-konstitutionelle Wirklichkeit unserer Zeit los. In seiner Rekonstruktion waren die goldene Ära des globalen Konstitutionalismus die 60er Jahre. Bürgerrechtler und soziale Bewegungen repolitisierten und revitalisierten überall auf der Welt die politische Öffentlichkeit. Statt dem UN-Sicherheitsrat gehörte die globale Bühne der UN-Generalversammlung, einem proto-parlamentarischen globalen Debattierklub, der zwischen den Polen des Kalten Kriegs einen lebhaften öffentlichen Diskurs beflügelte. Wenn ihr auf dem Gipfel des Staates die Geige streicht, was andres erwartet ihr, als daß die drunten tanzen? So schrieb Karl Marx einst über das parlamentarische Regime von 1848. So erklärt sich für Brunkhorst, dass die globale Öffentlichkeit so strukturschwach bleibt: Wenn in der globalisierten Welt die parlamentarische Musik verstummt, dann ist halt auf dem Tanzboden auch bald nicht mehr viel los (sofern uns Syriza, Podemos und Bernie Sanders nicht doch noch wieder aufs Parkett locken).
Wie weit kommt man, wenn man den Problemen des globalen Konstitutionalismus im Jahr 2015 mit dem Vokabular bürgerlicher Revolutionäre des 19. Jahrhunderts zu Leibe rückt? Da hatten manche ihre Zweifel. Wenn, fragte die Hamburger Global-Governance-Politologin Antje Wiener, alles so sehr auf parlamentarische Versammlungen ankommt – darauf, dass da oben jemand die Fiedel streicht –, wo bleibt dann noch Raum für die Unordentlichkeiten der globalisierten Welt, für gesellschaftliche Diversität, für nicht-staatliche Akteure? Geht es in Griechenland, Portugal und Spanien wirklich um Öffentlichkeit und parlamentarischer Versammlung, so Alexander Somek, und nicht viel mehr um handfeste Machtkonflikte zwischen transnationalen Eliten und dem Volk?
Selbstbestimmung
Apropos Volk: Der emotionale Höhepunkt des Abends war zweifellos die Diskussion um Someks eigenen Vortrag. Sein Thema war die kollektive Selbstbestimmung. Was die normalen Leute wollen, so Somek, sei für den globalen Konstitutionalismus mit seinem Fokus auf Herrschaftsbegrenzung, Bestreitbarkeit etc. kein vordringliches Thema. Um festzustellen, was die normalen Leute wollen, brauche man Grenzen – begrenzte Räume, innerhalb derer man Stimmen zählen kann. Grenzen gelten heutzutage aber als verdächtig, als Zutrittsbarrieren für Außenseiter und Instrumente zur Externalisierung der Kosten des eigenen Handelns. Damit habe der globale Konstitutionalismus einen Teil seines Empanzipierungsversprechens für die normalen Leute preisgegeben.
Wie kommt man in dieser Situation zu einer kollektiven Bestimmung dessen, was geschehen soll? Unter welchen Bedingungen füge ich mich, wenn nicht das passiert, was ich individuell sowieso am liebsten hätte? Wem ordne ich meine individuellen Präferenzen unter, wenn nicht meiner Identifikation mit dem Gemeinwesen, dem ich angehöre? Someks Antwort: Wir haben ja alle das gleiche Recht auf unsere Präferenzen, und wir müssen ja irgendwie zusammenleben. Es gibt alle möglichen Institutionen, die den Anspruch erheben, dieses Zusammenleben gut regulieren zu können, aber keiner kann individuell sagen, welche Institution diesen Anspruch zu Recht erhebt, und daher laufen wir am Ende alle in einer großen, diffusen Menge mit, in der sich alle wechselseitig darauf verlassen, dass das schon alles irgendwie seine Richtigkeit haben wird. Am Ende kommt der Konstitutionalismus wieder ganz in der Nähe von dort heraus, wo er einst aufgebrochen war – wir sind alle Klienten irgendwelcher Mächte, denen wir uns beugen, ohne genau sagen zu können, warum.
Der Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten. Richard Bellamy, Politologe aus London und Direktor des Max-Weber-Programms am EUI in Florenz, warf Somek vor, überzogene “metaphysische Ansprüche” an den globalen Konstitutionalismus zu stellen. Wenn ich eine Wahl treffe, definiere ich mich damit nicht gleich selbst, sondern bringe meine unterschiedlichen Bedürfnisse in eine Balance – das gelte schon für mich individuell, umso mehr aber im kollektiven Rahmen. Der Völkerrechtler Daniel Augenstein vom WZB wandte ein, dass sich nicht so sehr unsere Zugehörigkeit zu begrenzten Gemeinwesen geändert habe als unsere Haltung dem gegenüber, was außerhalb dieser Grenzen liegt. Rainer Forst beobachtete an Somek eine “manichäische Art, die politische Welt zu betrachten” und bezweifelte (ähnlich wie auch Antje Wiener), dass eine solch idyllische Form politischer Selbstbestimmtheit im national begrenzten Raum je bestanden habe. Mattias Kumm wiederum sprach dem Begriff eines begrenzten Gemeinswesens jede Unterscheidungskraft ab: Jedes Gemeinwesen sei begrenzt, auch der Planet Erde. Die Frage sei nicht, ob Grenzen oder nicht, sondern wie sie gezogen werden.
Die härteste Attacke gegen Somek ritt aber Christopher McCrudden, Human-Rights-Professor aus Belfast und in Berlin als vorjähriger Wissenschaftskolleg-Fellow noch bestens bekannt, der über Someks Präsentation hinaus mit dessen 2014 erschienenem Buch “The Cosmopolitan Constitution” regelrecht abrechnete. Someks “mechanische, teleologisch determinierte” Erzählung, wonach der globale Konstitutionalismus unter seinen Widersprüchen gleichsam zusammenbreche und anstelle demokratischer Selbstbestimmung nur noch Marktmacht und Expertentum regiere, ignoriere die Tatsache, dass es transnationale Regelsetzung schon seit dem 19. Jahrhundert nichts Neues mehr ist, ignoriere die Tatsache, dass nur wegen der griechischen und portugiesischen Erfahrungen die meisten Nationalstaaten mitnichten aufgehört haben, sich konstitutionell höchst lebendig weiterzuentwickeln (siehe UK mit seinen Referenda), und ignoriere schließlich mit seiner Verengung auf nationale Demokratie und ökonomische Machtverhältnisse, wie sehr Feminismus, Critical Race Theory, Queer Theory und nicht zuletzt die internationalen Menschenrechte die Welt zum Besseren verändert haben. McCrudden bekannte, sich an Eeyore erinnert zu fühlen, den depressiven Esel aus “Winnie the Pooh”.
Das ließ Somek aber nicht auf sich sitzen. Sein Buch handle von der Ambivalenz, der Doppelgesichtigkeit des kosmopolitischen Konstitutionalismus, und ihm vorzuwerfen, nur die dunkle Seite zu präsentieren, sei “einfach nicht fair”. Wer aber glaube, diese dunkle Seite gebe es nicht, der sei naiv.
Globaler Konstitutionalismus in Zeiten der Flüchtlingskrise
Mit Grenzen und begrenzten Räumen beschäftigte sich auch der Vortrag von Ayelet Shachar, seit Sommer Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen. Ihre These: Kennzeichnend für diese Zeiten hunderttausendfacher Migration und Flucht, die wir in Europa spätestens seit diesem Sommer hautnah erleben, ist mitnichten nationaler Kontrollverlust und die Auflösung von Grenzen. Im Gegenteil, die Unterscheidung von Bürger_innen und Fremden sei so mächtig wie nie. An die Stelle befestigter Grenzen seien “shifting borders” getreten, zeitlich und räumlich unbestimmt und um so effektiver im Bestimmen von Drinnen und Draußen. Und das internationale Recht, einst Hoffnungsträger im Kampf gegen restriktives nationales Recht, sei längst zum integralen Bestandteil dieses neuen Grenzregimes geworden.
Die Beispiele, die Shachar anführte, stammten aus den USA, wo die Grenzkontrolle 100 Meilen ins Landesinnere reicht und sich damit zwei Drittel der Bevölkerung unterwirft – wenn es nach dem Innenministerium geht, bald das gesamte Territorium. Man kann aber auch das Gegenteil beobachten: Die Grenze verschiebt sich nach außen, nicht nach innen; mit der Auslagerung der Grenzkontrollen an das Fluglinienpersonal, bevor man überhaupt ein Flugzeug in die Kanada besteigt, wird die ganze Welt zur kanadischen Grenze – nur ohne den Schutz durch kanadisches Recht. Australien fingiert mit seiner Legaldefinition von “excision zones”, dass selbst jemand, der australisches Territorium erreicht hat, rechtlich Australien nie betreten hat. (Die deutsche Schleierfahndung dürfte ebenfalls ein Beispiel für Shachars Shifting-Borders-These abgeben.)
Diese Deterritorialisierung von Grenzkontrolle, so Shachar, eröffnet aber auch neue Denkmöglichkeiten, wie Menschen auf der Flucht geschützt werden können. So könnte man genauso gut verlangen, dass alle Staaten ihre Botschaften öffnen, damit Flüchtlinge dort Asyl beantragen können. Oder man könne über internationale Schutzzonen nachdenken, die keiner nationalen Jurisdiktion mehr unterstehen.
Christoph Möllers, Verfassungsrechtler von der Humboldt-Universität Berlin und den Leser_innen des Verfassungsblogs kein Unbekannter, warnte allerdings, dass solche Schutzzonen schnell zu “globalen Slums” verkommen dürften, für die sich niemand verantwortlich fühlt. Generell bekannte er, sich nicht sicher zu sein, ob man die demokratische Entscheidung, wer legal herkommt und wer nicht, so pauschal für irrelevant erklären könne. Zu dem Vorschlag, die Botschaften für die Entgegennahme von Asylanträgen zu öffnen, bemerkte der Hamburger Politologe Peter Niesen, dass man das Recht, seinen Fall geprüft zu bekommen, nicht mit dem Recht, Zugang zum Territorium zu bekommen, gleichsetzen dürfe.
Raum sei Teil der Lösung, erwiderte Shachar. Moralisch geboten sei, den Menschen einen sicheren Ausweg zu ermöglichen und sie nicht im Meer ertrinken zu lassen – alle weiteren Fragen stellten sich erst danach. Die bittere Ironie sei, dass der starke internationale Flüchtlingsschutz die Entstehung von “shifting borders” begünstigt habe: Gerade weil Staaten Flüchtlingen, die ihr Territorium erreichen, ein Asylverfahren und im Erfolgsfall sicheren Aufenthalt gewähren müssen, versuchten sie jetzt, diese Pflicht durch die Verschiebung ihrer Grenzen gar nicht erst entstehen zu lassen. Wie nun ein deterritorialisierter Flüchtlingsschutz aussehen und gelingen kann – diese Frage blieb als große Aufgabe für den globalen Konstitutionalismus im Raum stehen.