Erfolgreich gescheitert
Warum Großemittenten grundsätzlich für Klimaschäden haften können
Einer der spektakulärsten Klimahaftungsprozesse hat ein ebenso spektakuläres Ende gefunden: Das OLG Hamm hat die Klimaklage gegen RWE abgewiesen – und gleichzeitig klargestellt, dass Großemittenten grundsätzlich für Klimaschäden zivilrechtlich haftbar gemacht werden können. Das Urteil dürfte damit auf einen Fall von „success without victory“ hinauslaufen: Obwohl es kurzfristig eine Niederlage für den Kläger bedeutet, hält es für künftige Klimahaftungsklagen wertvolle Lektionen bereit.
Der Fall
Seit 2015 klagt Luciano Lliuya gegen die RWE AG auf anteiligen Kostenersatz für Schutzmaßnahmen an seinem Grundstück. Er befürchtet, sein unterhalb eines Anden-Gletschers gelegenes Haus könnte durch eine Flutwelle – eine sog. Glacial Lake Outburst Flood (GLOF) – überschwemmt werden. Schuld daran seien Klimawandel und Gletscherschmelze, die RWE durch das Emittieren von Treibhausgasen mitverursacht habe. Seinen Anspruch stützt Lliuya dabei auf eine Kombination aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB und den Vorschriften über die Geschäftsführung ohne Auftrag: Da sein Eigentum beeinträchtigt zu werden drohe, müsse sich RWE – als (mit)verantwortliche Störerin – zumindest an den Kosten der Schutzmaßnahmen beteiligen.
Nachdem 2017 das LG Essen die Klage abgewiesen hatte, ging nun auch die Berufung vor dem OLG Hamm verloren. Sie scheiterte an einem Detail: Zwar kommt nach Ansicht des Gerichts der Anspruch durchaus in Betracht, Lliuyas Grundstück sei aber nicht ausreichend von Überflutung bedroht.
Damit hat der hierzulande wohl prominenteste Klimahaftungsprozess sein Ende gefunden. Weil das OLG Hamm die Revision zum BGH nicht zugelassen hat (und wegen des geringen Streitwerts eine Nichtzulassungsbeschwerde von vornherein ausscheidet), ist die Entscheidung rechtskräftig. Was ist von ihr zu halten?
Die Entscheidung
Die Entscheidungsgründe gliedern sich in zwei Teile. Im ersten Teil legt das Gericht ausführlich dar, warum der vom Kläger begehrte Kostenersatzanspruch schlüssig ist, also – vorausgesetzt die behaupteten Tatsachen sind dargelegt und bewiesen – grundsätzlich bestehen könnte (S. 32–91). Im zweiten Teil wendet sich das Gericht dann verstärkt der konkreten Fallkonstellation zu und kommt zu dem Ergebnis, dass dem Kläger der Nachweis nicht gelungen ist. (S. 91 ff.).
Zur Haftung von Großemittenten für Klimaschäden
Der erste Teil der Entscheidung ist spektakulär. Erstmals begründet ein deutsches Obergericht, dass Großemittenten für Klimaschäden haftbar gemacht werden können. Dabei stützt sich das OLG Hamm auf Vorarbeiten in der Literatur und weist überzeugend nahezu alle Einwände zurück, die gegen eine Klimahaftung erhoben werden. Aus Platzgründen skizziere ich hier nur drei besonders wichtige Punkte:
Adäquate Kausalität ist möglich
Gegen eine Klimahaftung wird häufig vorgebracht, es fehle schon an der Kausalität. Auch RWE argumentierte so: Selbst wenn der vom Kläger vorgebrachte Emissionsbeitrag – 0,38 % der globalen Gesamtemissionen – zuträfe, sei er so gering, dass er keinen Einfluss auf das behauptete Überflutungsrisiko habe. Jedenfalls fehle es aber an der Adäquanz: Weder hätten RWEs Emissionen das Risiko erheblich erhöht, noch sei es für RWE vorhersehbar gewesen. All das weist das OLG Hamm mit erfreulicher Klarheit zurück: Ausnahmslos jede Emission, egal wo und von wem sie ausgestoßen wird, sei kausal, weil jede Emission geringfügig zum Klimawandel beiträgt und so auch das vom Kläger behauptete klimabedingte Überflutungsrisiko entsprechend erhöht. RWEs Emissionen hinweggedacht, wäre das Überflutungsrisiko also geringfügig niedriger (S. 46 f.). Zudem ist laut OLG Hamm RWEs Emissionsbeitrag auch erheblich, weil es hierfür nicht auf den absoluten Anteil an den Gesamtemissionen ankomme, sondern auf eine relative Gegenüberstellung mit anderen Emissionsbeiträgen – und hier rage RWE als einer der weltweit größten Einzelemittenten deutlich heraus (S. 51 ff.). Und schließlich hätte für Energieproduzenten wie RWE spätestens Mitte der 1960er Jahre klar sein müssen, dass das Emittieren von Treibhausgasen zum Klimawandel führt – denn in diesem Zeitraum waren die Mahnungen aus der Wissenschaft nicht mehr zu überhören (S. 49 ff.).
Kein „jeder gegen jeden“
Daran anschließend weist das OLG Hamm einen zweiten häufig angeführten Einwand zurück. Eine Klimahaftung führe auch nicht zu einem „jeder gegen jeden“, wo etwa jede Autofahrerin Haftung befürchten müsse: Weil das Filterkriterium der Adäquanz eben nur erhebliche Emissionsbeiträge hindurchlasse und es hierfür auf eine relative Perspektive ankomme, geraten nur weit überdurchschnittliche Emissionsbeiträge auf den Haftungsradar – eben solche von Großemittenten wie RWE, nicht aber von Privatleuten oder Landwirtschaftsbetrieben (S. 63 f.).
Keine pauschale Legalisierung durch öffentliches Recht
Schließlich wendet sich das OLG Hamm auch überzeugend gegen den sog. Legalisierungseinwand: RWE hatte vorgetragen, schon deshalb nicht haften zu müssen, weil der Kraftwerksbetrieb sich im Rahmen des öffentlich-rechtlich Erlaubten bewege – insbesondere im Einklang mit dem Emissionshandelsregime des TEHG. Dies ist nach Ansicht des Gerichts ein doppelter Kurzschluss: Erstens ließe sich aus den relevanten öffentlich-rechtlichen Regelungsregimen schon keine vollumfängliche Legalisierung der Emissionstätigkeit ableiten. Zweitens könne öffentlich-rechtlich legales Verhalten durchaus privatrechtlich pflichtwidrig sein. Denn wie der BGH mehrfach bestätigt hat, gilt der Grundsatz der „Autonomie der privatrechtlichen Sorgfaltspflichten“, das heißt das Privatrecht kann zwecks Individualschutz über das abstrakte Schutzniveau des öffentlichen Rechts hinausgehen – und tut das auch häufig (S. 79 f.).
Warum Lliuyas Klage trotzdem gescheitert ist
Großemittenten wie RWE können laut OLG Hamm also durchaus für Klimaschäden haftbar sein. Dass Lliuyas Klage dennoch scheitert, liegt an einem winzigen Detail: Wie eingangs ausgeführt, basiert Lliuyas anteiliger Kostenersatzanspruch auf dem Unterlassungsanspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB. Danach kann der Eigentümer von dem Störer nur dann Unterlassung (geschweige denn Kostenersatz) verlangen, wenn eine Beeinträchtigung seines Eigentums droht. Um letzteres zu ermitteln, hatte das OLG Hamm zwei Sachverständige mit umfassenden Gutachten beauftragt. Sie taxierten die Wahrscheinlichkeit, dass in den nächsten 30 Jahren eine GLOF das klägerische Grundstück trifft, auf unter ein Prozent. Zudem sei die erwartete Intensität überschaubar, da Lliuyas Grundstück allenfalls 20 Zentimeter hoch überschwemmt werden würde (S. 101 ff., 108 f.).
Zweifelhafte Sachverständigengutachten
Diese Analyse ist jedoch nicht zweifelsfrei. Denn die Sachverständigen wählen eine ungewöhnlich restriktive Perspektive: Zum einen betrachten sie nur Gletscherabbrüche und Eislawinen als mögliche Auslöserereignisse für eine GLOF (S. 101 ff.). Felsstürze werden ausgeklammert – obwohl ihre Einbeziehung wissenschaftlichen Standards entspricht und sie in den Anden durchaus vorkommen. Just am Tag der Urteilsverkündung ist auch ein Schweizer Bergdorf unter einem Felssturz begraben worden. Dass ausgerechnet die klägernahe Gletscherlagune in den letzten Jahren davon verschont blieb, könnte also eher glücklicher Zufall als lokale Besonderheit sein.
Zum anderen spielen die Gutachter den Einfluss des Klimawandels herunter. Um zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit das klägerische Grundstück in den kommenden 30 Jahren von einer GLOF getroffen wird, stützen sie sich auf mehrjährige Datenreihen zu lokalen Gletscherabbrüchen und Eislawinen (S. 104 f). Besagte einprozentige Wahrscheinlichkeit kommt also zustande, weil Erkenntnisse aus der Vergangenheit unverändert in die Zukunft übertragen werden. Auch das liegt über Kreuz mit wissenschaftlichen Standards. Der Weltklimarat IPCC geht davon aus, dass sich in Hochgebirgsregionen (und auch speziell in den Anden) die Eintrittswahrscheinlichkeit von GLOF-Auslöserereignissen erhöhen wird; insbesondere wird damit gerechnet, dass durch das Abtauen des Permafrosts Gletscher und Berge instabiler und große Felsstürze wahrscheinlicher werden. Ein vom Kläger beauftragter Privatgutachter hatte deshalb eine um einen „Klimafaktor“ erhöhte Eintrittswahrscheinlichkeit angeregt – was aber von den gerichtlichen Sachverständigen zurückgewiesen wurde, weil es an „ortkonkreten Daten“ zur Permafrostverteilung fehlen soll (S. 128).
Einseitige Beweiswürdigung
Das OLG Hamm hat sich davon nicht beirren lassen und ist „seinem“ Sachverständigen vollumfänglich gefolgt. Das ist nicht unproblematisch: Kommt ein Privatgutachter zu abweichenden Ergebnissen als der gerichtlich bestellte Sachverständige, „ist vom Tatrichter besondere Sorgfalt gefordert“; um den Grundsatz rechtlichen Gehörs zu wahren, muss das Gericht laut BGH eine „einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung“ liefern, warum es dem Sachverständigen trotz der Einwendungen des Privatgutachters folgt.
Zwar wird man dem OLG Hamm kaum vorwerfen können, dass es sich nicht ausführlich mit den verschiedenen Sichtweisen auseinandergesetzt hat (vgl. S. 114 ff.). Aber warum es insbesondere den vom Privatgutachter vorgeschlagenen „Klimafaktor“ verwirft, erscheint schwer nachvollziehbar – zumal dies den Erkenntnissen des IPCC widerspricht, also der zentralen wissenschaftlichen Autorität in Klimafragen. Wenn die fehlenden „ortskonkreten Daten“ der Grund dafür sind, hätte es nahegelegen, diese Daten am konkreten Gletscher zu erheben. Dass das OLG Hamm hier nicht auf eine Ergänzung des Gutachtens nach § 412 Abs. 1 ZPO hinwirkte (oder die Unstimmigkeiten durch ein sog. Obergutachten auflöste), könnte einen Ermessensfehler darstellen.
Fragwürdige Auslegung von § 1004 BGB
Neben der zweifelhaften Beweiswürdigung bietet die Klageabweisung des OLG Hamm aber auch materiell-rechtliche Angriffspunkte. Das Gericht ist der Auffassung, dass das sachverständig ermittelte GLOF-Risko – ein Prozent Eintrittswahrscheinlichkeit in den nächsten 30 Jahren bei erwarteter 20 Zentimeter hoher Überschwemmung – für eine drohende Beeinträchtigung nach § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB nicht ausreiche (S.110 ff.). Auch das ist aus mehreren Gründen fragwürdig.
Erstens dürfte das OLG Hamm die Anforderungen an die Höhe der Eintrittswahrscheinlichkeit überspannt haben. Zwar legt sich das Gericht nicht fest, welche Eintrittswahrscheinlichkeit exakt erforderlich ist. Allerdings soll jedenfalls eine nur einprozentige nicht ausreichen (S. 112). Andernorts klingt es so, als wäre sogar eine Eintrittswahrscheinlichkeit von über 5 % nötig (S. 127). Beide Schwellenwerte sind ungewöhnlich hoch: Obwohl andere Zivilgerichte bislang nicht explizit auf Eintrittswahrscheinlichkeiten abgestellt haben, haben sie doch vielfach implizit sehr geringe Wahrscheinlichkeiten ausreichen lassen. So bejahte etwa das OLG Stuttgart eine drohende Beeinträchtigung durch eine verwitternde Tuffsteinmauer, obwohl diese über 150 Jahre lang sicher gestanden und selbst Straßenvibrationen getrotzt hatte. Ebenso verurteilte das OLG Karlsruhe einen Reptilienhalter zur Unterlassung, weil „die Gefahr eines Entweichens nicht völlig ausgeschlossen werden [kann].“ Dass selbst Eintrittswahrscheinlichkeiten im Promillebereich genügen können, zeigt die Parallelrechtsprechung zu Verkehrspflichten: Obwohl etwa Mineralwasserflaschen extrem selten platzen, müssen Hersteller entsprechende Sicherungsmaßnahmen ergreifen. Dass diese Rechtsprechungslinie laut OLG Hamm mit dem hiesigen Fall „nicht im Ansatz vergleichbar“ sein soll (S. 113), überzeugt nicht.
Demgegenüber wird eine drohende Beeinträchtigung typischerweise erst dann verneint, wenn ihr Eintritt praktisch ausgeschlossen ist. So war es im berühmten BGH-Fall zur Silvesterrakete, die zunächst senkrecht nach oben aufstieg, dann plötzlich seitwärts abdriftete und durch einen kleinen Spalt in eine Scheune eindrang. Der BGH verneinte einen Unterlassungsanspruch bei Raketenstart mit dem Argument, dass der nachfolgende Geschehensablauf „letztlich als zufallsabhängig“ erscheine – mit anderen Worten: weil die Wahrscheinlichkeit, dass die Rakete exakt diese Flugbahn durch den Scheunenspalt nimmt, anders als bei Mauerkollaps, Reptilienausbruch, Flaschenexplosion und eben GLOF im niedrigen Millionstelbereich gelegen haben dürfte.
Zweitens scheint das OLG Hamm die Intensität der drohenden GLOF unterschätzt zu haben. Trifft die GLOF mit 20 Zentimeter Höhe Lliuyas Grundstück, ist das nicht mit einem vollgelaufenen Keller vergleichbar, wie der Vorsitzende in der mündlichen Verhandlung suggerierte (vgl. auch S. 112). GLOFs fließen mit hoher Geschwindigkeit und reißen vieles mit sich – genau das macht sie so gefährlich. In gängigen GLOF-Klassifikationen führen deshalb schon Durchflusshöhen von 20 Zentimetern (bei entsprechender Fließgeschwindigkeit) typischerweise zu einem mittleren GLOF-Risiko – was bedeutet, dass Menschen in Außenbereichen verletzt und Gebäude beschädigt werden können. Hierzulande würden Elementarversicherungen auf diese Klassifikation mit höheren Prämien reagieren; auch der Marktwert des Grundstücks dürfte sinken. Ist es vor diesem Hintergrund wirklich überzeugend, in dem Lliuya treffenden GLOF-Risiko keine ernsthaft drohende Beeinträchtigung zu sehen?
Fazit: Erfolgreich gescheitert
Unabhängig von diesen Detailfragen ist ein genereller Aspekt noch wichtiger: Unmittelbar nach der Urteilsverkündung ließ RWE verlauten, dass mit der Klageabweisung der Versuch des Klägers gescheitert sei, „einen Präzedenzfall zu schaffen, um nach deutschem Recht einzelne Unternehmen für Auswirkungen des Klimawandels weltweit verantwortlich zu machen.“ Das könnte unzutreffender nicht sein. Denn das OLG Hamm erteilte gerade nicht generell der Klimahaftung eine Absage, im Gegenteil: „Die Zurückweisung der Berufung beruht auf einer umfangreichen und komplexen Würdigung der erhobenen Beweise und stellt somit eine Einzelfallentscheidung dar“ (S. 138). Lliuya scheiterte, wie vor ihm schon andere Klimakläger gescheitert waren, durch death by detail. Aber Details können sich ändern. Hätte nicht Lliuya geklagt, sondern ein Nachbar mit einem flussnäheren Grundstück, hätten die Sachverständigen (trotz ihrer fragwürdigen Methode) das GLOF-Risiko wahrscheinlich deutlich höher bewertet (vgl. S. 104 ff.). Entsprechendes dürfte für Klimabetroffene in anderen Weltregionen gelten, insbesondere Küstenbewohner mit steigenden Meeresspiegeln vor der Haustür.
Für alle diese Klimabetroffenen gilt weiterhin, was das OLG Hamm unmissverständlich klargestellt hat: Grundsätzlich können Großemittenten nach deutschem Zivilrecht für Klimaschäden haftbar sein. Mittlerweile sehen das auch immer mehr Stimmen in der Literatur so. Wie häufig im Rahmen strategischer Prozessführung, könnte sich das Urteil damit als ein Fall von success without victory erweisen: Mag es auch kurzfristig eine Niederlage für Lliuya bedeuten, für künftige Klimahaftungsklagen hält es wertvolle Lektionen bereit.