15 October 2025

Das Los der Soldaten

Losverfahren wurden in der politischen Ideengeschichte zuweilen als probates Mittel zur Erzeugung von militärischer Sicherheit und Stärke gepriesen. Folgt man dem Ratschlag von Machiavelli, dann kann das Los in Verbindung mit Bestrafungsaktionen Kräfte freisetzen, die zuvor brachlagen. In seinen „Discorsi“ (1513–18) lobt er die gelegentliche römische Praxis der Dezimierung der eigenen Heere, wenn sie eine Schlacht verloren hatten. „Dezimierung“ bedeutete, dass jeder zehnte per Los ermittelte Soldat als Feigling tituliert und hingerichtet wurde. Das sei laut Machiavelli deshalb ein so probates Mittel, weil es das eigene Heer nicht substantiell zerstörte, aber eine doch so abschreckende Wirkung auf die eigenen Soldaten hatte, dass sie bei der nächsten Schlacht aus Angst vor der Todeslotterie den Kampf mit dem Gegner erbitterter aufnahmen.

Für die heutige Zeit und speziell für die aktuellen Diskussionen über eine neue Ausgestaltung der Wehrpflicht unter Einbezug des Losverfahrens ist der Vorschlag Machiavellis in der Sache nicht wirklich hilfreich. Die Erinnerung an seinen Vorschlag ist aber insofern instruktiv, als sie die Aufmerksamkeit auf die funktionalen Potentiale von Losverfahren lenkt.

Erlösung vom Zufall

Nun haben Losverfahren und andere zufallsbasierte Entscheidungsverfahren heute unter Politiktheoretiker*innen und Philosoph*innen einen denkbar schlechten Leumund. Sie haben in aller Regel den schwer zu bändigenden Impuls, den Faktor Zufall unter Kontrolle zu bekommen. Etwas als zufällig zu bezeichnen, kommt ihnen einem intellektuellen Armutszeugnis und einem Verdammungsurteil gleich. Dies gilt bereits für Kant und Hegel. In Kants Philosophie steht das Wort zufällig für „bloß empirisch“ und damit für völlig beliebig und gedanklich nicht durchdrungen. Hegel zufolge verdanken die Systeme der philosophischen Wissenschaft, die großen Werke aus Bajonetten und Kanonen eines Napoleon und  die richtigen politischen Entscheidungen des sittlichen Staates nichts dem Zufall und alles dem großen „Compositeur Geist“; denn auch „eine Iliade“, so lautet ein Aphorismus in Hegels nachgelassenem Wastebook „wird nicht zusammengewürfelt“.

Es ist denn auch kein Zufall, dass der Vorschlag, bei der Ausgestaltung der neuen Wehrpflicht das Losverfahren einzusetzen, vor allem auf Seiten der politischen Linken auf Widerstand stößt, sei es die Ablehnung durch die SPD-Bundestagsfraktion oder die Kritik solcher Pläne als „Russisch Roulette“. Die Ablehnung des positiven Rekurses auf den Zufall gehört auf Seiten der politischen Linken zum festen Kern ihrer epistemologischen Grundüberzeugungen. Schon die radikale Linke in der französischen Revolution und nach ihr die utopischen Sozialisten, Karl Marx und Friedrich Engels und mit und nach ihnen sämtliche anderen Strömungen der Linken inklusive der Anarchisten hielten den „Zufall“ für einen irrationalen Faktor: erst der kommende Sozialismus respektive Kommunismus verspricht die Erlösung von der Willkür des Zufalls und das ungestörte Wirken von Vernunft und Plan. Konservative haben es in der Regel einfacher, sich mit Zufällen anzufreunden und einen positiven Ausgang in Demut zu registrieren. Es ist deshalb auch wenig überraschend, dass der aktuelle Vorschlag für die Einbeziehung des Losverfahrens bei den Christdemokraten mehr Unterstützung gefunden hat als bei den Sozialdemokraten.

Die funktionalen Vorzüge des Losens

Dabei gibt es neben solchen eher emotionalen Einstellungen zum Thema Zufall durchaus eine Reihe guter Gründe, in bestimmten Fällen ein Entscheidungsverfahren zu wählen, das ohne die Berücksichtigung vermeintlich guter bzw. „sachgerechter“ Gründe auskommt. Denn Losverfahren bzw. Lotterien können eine Reihe funktionaler Vorzüge bieten.

Der erste Vorzug einer Lotterie ist, dass sie ein absolut treffsicheres Verfahren darstellt. Das Ergebnis einer Lotterie ist eindeutig und be­darf keiner weiteren Interpretationsleistung. Lotterien kennen kein „Patt“ und somit auch keine kosten- und zeitintensiven Wiederholungen von Verfahrensprozeduren.

Ein zweiter Vorzug ist, dass Losverfahren vergleichsweise kostengünstig sind. In Bezug auf die Wehrpflicht wäre die Alternative ein ausgeklügeltes Punktesystem, um die bestmögliche Eignung von Rekruten zu ermitteln. Ein solches System müsste erst erarbeitet und permanent evaluiert werden. Die Eignungsbewertungen müssten aufwändig betrieben und rechtssicher durchgeführt werden. Demgegenüber ist ein Losverfahren weitaus preiswerter. Technisch gesehen, lassen sich bei einem Losverfahren eine Reihe an zusätzlichen Vereinfachun­gen vornehmen: So wurden die Soldaten für den Einsatz für die Kriegsfüh­rung in Vietnam in den USA ab 1970 nicht einzeln ausgelost, sondern gruppenweise auf Grundlage ihres Geburtsdatums.

Ein dritter Vorzug des Losens ist, dass es ein absolut neutrales Verfah­ren und somit in egalitärer Hinsicht gerechtes Verfahren ist. Eine Lotterie ist dann fair, wenn zum Zeitpunkt T die Gewinnchance für alle Teilnehmenden genau gleich hoch ist. Lotterien, die in technischer Hinsicht die formalen Neutralitätskriterien erfüllen, weisen den Vorteil vollstän­diger prozeduraler Blindheit auf. Eine solche Lotterie berücksich­tigt keine Gründe und keine Gegengründe. Sie kennt keine Besonderhei­ten, keine Wünsche, Stärken, Schwächen oder Sympathien. Solche Lotte­rien sind unfähig zur Stigmatisierung. Im Vergleich mit allen anderen Verfahrensrivalen verfügt das Los über den Vor­zug des höchsten Grades an „Verfahrensautonomie“, wie der frühe Niklas Luhmann die Abschottung von Verfahren gegenüber den Struktu­ren der sie umgebenden Umwelt bezeichnet hat. Die Losverfahren müssen dann allerdings auch technisch korrekt durchgeführt werden. Wie schnell ansonsten Verdächtigungen die Runde machen können, illustrieren die Auslosungen für die Rekruten im Zweiten Weltkrieg und im bereits erwähnten Vietnamkrieg. Nach 2.400 Ziehungen war während des Zweiten Weltkrieges unter den insgesamt 9.000 Los-Seriennummern kein einziges Mal eine Person aus der Zahlenkohorte zwischen 300 und 600 ausgelost worden. Ein solches Resultat entspricht einer mathematischen Wahrscheinlichkeit von nur 1 zu 15 x 10(40).

Nahezu dreißig Jahre später wiederholten sich im Jahre 1970 bei der Auslosung von Rekruten für den Krieg in Viet­nam ähnlich unwahrscheinliche Resultate. In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, dass Personen aus bestimmten Zahlenkohorten systema­tisch der Kriegsdienst erspart bleiben sollte. Das merkwürdige Lotterieergebnis beschäftigte sogar die Gerichte, die aber keine manipulativen Ein­griffe nachweisen konnten. Erst als bei der Rekrutenauslosung im Jahr 1971 der Bann über zuvor ausgelassene Zahlenkohorten gebro­chen war, ebbte die öffentliche Diskussion über die Merkwürdigkeiten bei den Auslosungsergebnissen wieder ab.

Die Rationalität des A-Rationalen

Seit den 1970er Jahren ist es nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Ländern zu einer Art Revival von Losverfahren gekommen, sei es bei der Verteilung von Studienplätzen, der Vergabe von überlebenswichtigen Organen, der Auswahl von Stichproben bei Steuerüberprüfungen oder bei der Rekrutierung von Bürgerinnen und Bürgern für Bürgerräte. Fredrik En­gelstad und Jon Elster gehörten in den 1980er Jahren zu den ersten Sozialwissenschaftlern, die das punktuelle Wieder­aufkommen des Losgebrauchs beobachteten und nach Erklärungen für dieses Phänomen suchten. Sie fragten in ihren Forschungen zunächst empirisch nach den typischen Ent­scheidungssituationen, in denen in modernen Gesellschaften und Menschen (außerhalb des Glücksspiels) von Lotterien Gebrauch machen oder ihren Gebrauch empfehlen, und sortierten diese Fälle. Ihre Auflistungen lassen sich in vier Fallgrup­pen rubrizieren.

Erstens handelt es sich um Situationen von „indeterminancy within limits“. Das sind Situationen, in denen beispielsweise mehrere Bewerber*innen für eine Tätigkeit in allen relevanten Hinsichten sehr gut geeignet sind und es erhebliche Kosten verursachen würde, weitere Qualitätsunterschiede zwi­schen ihnen herauszufinden. Wenn die Kosten der Qualitätsermittlung höher sind als der erzielte Gewinn, den man hat, den oder die Allerbeste eingestellt zu ha­ben, ist es vernünftiger, den Zufall entscheiden zu lassen. Dieses Argument ist auch für die aktuelle Debatte um eine Reform der Wehrpflicht von großer Bedeutung.

Zweitens Fälle von absoluter „uncertaincy“. Situationen absoluter Unsicher­heit liegen vor, wenn man nach Lage der konkreten Dinge beim besten Willen nicht herauszufinden vermag, was das Richtige ist. Möglicherweise kann man es im Nachhinein herausbekommen, in der Situation selbst hat man jedoch keinen einzigen verlässlichen Anhalts­punkt.

Drittens Situationen von „indifference“. Indifferenz liegt vor, wenn man sich trotz vollständigen Wissens zwischen verschiedenen Angeboten nicht entscheiden kann, weil die zur Auswahl stehenden Unterschei­dun­gen tatsächlich gar keinen Unterschied aufweisen (zum Beispiel zwei völlig identische Bluetooth-Boxen im Kaufhausregal). Auch in diesen Fäl­len ist eine zu­fallsgeleitete Entscheidung das Beste, weil es der ein­zige effiziente Weg ist, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Als letztes listet Elster Fälle von „incommensurability“ auf. Inkommensurable Güter oder Präferenzordnungen lassen sich auf­grund ihrer Verschiedenheit nicht auf einen gemeinsamen Nenner brin­gen. Soll bei medizinethischen Entscheidungen die Rettung des Lebens ei­ner jüngeren Person Vorrang vor der Rettung einer älteren Per­son haben? Welche Bedeutung dürfen die gesellschaftlichen Verdienste von Pati­enten haben und wie lassen sich die Verdienste zweier Menschen fair messen? In Situationen, in denen interpersonale Vergleiche unmög­lich oder inopportun sind, bieten Lotterien einen Ausweg, um zu Ent­schei­dungen zu gelangen.

Mut zum Los

In allen vier genannten Fällen ist es demnach ein Gebot der Vernunft, das Los entscheiden zu lassen. In solchen Situationen weiterhin auf rational begründbaren Entscheidungen zu beharren, ist dagegen eine irratio­nale Erscheinung von „Hyperrationalität“, weil man sich weigert, die Gren­zen von Rationalität rational anzuerkennen. Man erwiese der Rationalität einen schlechten Dienst, wenn man sich der Einsicht verschließt, dass in manchen Situationen im Leben entweder überhaupt keine sachlichen Anhaltspunkte für eine „vernünftige“ Entscheidung vorliegen oder es unzumutbare Mühe und Kosten bereitet, um sachliche Gründe für sie zu finden. In solchen Fällen ist die Lotterie der Königs­weg, um ohne Selbstbetrug jenseits der Grenzen der Rationali­tät weiterhin rational agieren zu können.

Die geplante Rückkehr zur ausgesetzten Wehrpflicht erfordert die Mobilisierung erheblicher finanzieller und personeller Ressourcen. Anstatt die kommenden Monate mit einer komplizierten Debatte über die Details von Eignungen und Befreiungen für den soldatischen Dienst zu belasten, die dann nur wieder in neue Gerechtigkeitsdebatten mündet, sollte Deutschland den Mut haben, vom kleinen Nachbarland Dänemark lernen zu wollen. Das Losverfahren hat sich dort bekanntlich bewährt. Der vorgeschlagene Einsatz des verfahrensautonomen Auslosens als Teil der Reform des Wehrdienstes ist sowohl aus Kostengründen wie aus egalitären Gerechtigkeitsgründen eine pragmatische und sinnvolle Idee.


SUGGESTED CITATION  Buchstein, Hubertus: Das Los der Soldaten, VerfBlog, 2025/10/15, https://verfassungsblog.de/los-verfahren-wehrpflicht/, DOI: 10.59704/568c1a3418a13f05.

8 Comments

  1. Ulrich Schoppe Thu 16 Oct 2025 at 04:57 - Reply

    Zunächst ist es in meinen Augen ziemlich mutig ausgerechnet die römische Dezimation als Beispiel für Losverfahren am Anfang anzuführen.
    Das Verfahren war zwar kurzfristig erfolgreich um “Motivation” zu stärken aber langfristig untergrub sie dann dochdie Moral innerhalb der Truppe. Siew lenkt zum einen vom möglichen Versagen der Vorgesetzten ab was dann die Moral der Truppe untergräbt. Und di Angst vor willkürlicher Bestrafung wird, wenn die Menschen nicht alle grundsätzlich anders denken als ich, zu einem Rückgang der Kampfbereitschaft führen.
    Eigentlich spricht gerade die Dezimation GEGEN ein Losverfahren.
    In Zeiten grassierenden Verschwörungsglaubens wird auch das Argument, das das Losverfahren nur schwer manipuliert werden kann nicht wirklich auf Akzeptanz stossen. Ich denke eher das Gegenteil ist der Fall: “Die da oben” haben sich jetzt eine neue noch rafiniertere Methode ausgedacht um dafür zu sorgen, das nur normale Söhne sterben …
    Eine ganz schlechte Methode zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls denke ich.
    Und meinen Sie nicht, dass das demografisch-ökonomische Paradoxon an der Stelle dazu führen wird, das man dann, wenn man aus sozial benachteiligten Verhältnissen kommt, einfach ein höheres Risiko hat an der Front getötet zu werden?
    Ich bin leider kein guter Statistiker. Aber ich finde schon eines: Man sollte mal einen Blick darauf werfen inwie weit soziale und ökonomische Faktoren am langen Ende einen Einfluß haben. DIe Antworten könnten einem nicht gefallen. Ganz ohne Verschwörung oder so. Einfach weil die Verhältnisse sind wie sie sind. Die haben keine Motivation beeinflussen aber natürlich was wird.

    • Hubertus Buchstein Mon 20 Oct 2025 at 16:48 - Reply

      Gerade dann, wenn es um die Frage geht, inwieweit die soziale Schichtzugehörigkeit zu einem Bestimmungsfaktor darüber wird, ob eine Person das mit dem Militärdienst verbundene Kriegsrisiko tragen soll oder nicht, drängt sich das Losverfahren geradezu als gerechter Entscheidungsmodus auf. Die Lotterie ist Beispiel dafür, was der amerikanische Philosoph John Rawls als „reine Verfahrensgerechtigkeit“ bezeichnet hat. Das Los kennt weder Sympathie noch Antipathie, es kennt keine Vorurteile und es ist nicht korrumpierbar. Insofern war es auch nur konsequent, wenn sich Rawls bei seinen ganz wenigen tagespolitischen Interventionen 1966 für eine Lotterie als Auswahlmodus für die amerikanischen Soldaten im Hinblick auf den Einsatz im Vietnam-Krieg aussprach. In den USA bestand zu diesem Zeitpunkt eine allgemeine Wehrpflicht für Männer bis zu 26 Jahren. Das Verteidigungsministerium der USA hatte allerdings angeordnet, solche Männer nicht zum Dienst einzuziehen, die sich im Studium befanden und dort überdurchschnittliche Noten erhielten. Diese Regelung setzte Hochschullehr*innen nicht nur der Belastung aus, über den Kriegseinsatz von Studenten mitentscheiden zu müssen, sondern wurde zudem vielfach als ungerecht angesehen, da es de facto Studenten aus sozial höher gestellten Schichten bevorteilte. Das wurde von Raws als misslich angesehen. Wenn nicht alle kriegstauglichen Männer benötigt werden, dann sollte ihm zu Folge eine Lotterie über ihren Einsatz entscheiden. Auf Rawls‘ Initiative hin verabschiedete eine Gruppe von Hochschullehrer*innen – unter ihnen Judith Shklar, Michael Walzer und Hilary Putnam – im Frühjahr 1967 eine öffentliche Erklärung, in der sie sich im Namen der Nichtdiskriminierung von Menschen aus unteren sozialen Schichten für eine Auslosung für den Kriegsdienst unter allen wehrtauglichen Männern aussprachen. Nur zwei Jahre später wurde dieser Vorschlag Realität. Die Chance, dass nun auch Rekruten aus der Mittel- und Oberschicht in den Krieg ziehen mussten, wurde im Übrigen ein wichtiger Faktor für die Proteste gegen diesen unmoralischen Krieg.

  2. U. K. Preuß Thu 16 Oct 2025 at 11:08 - Reply

    Hubertus Buchstei hat mit seinem wie stets erhellenden Beitrag eine wichtige Alternative im ge-genwärtigen Streit über die Aktualisierung der Wehrpflicht in Deutschland zur Sprache gebracht. Mich würde interessieren, welche der vier aufgezählten Konstellationen er in der hier zu entschei-denden Auswahl unter den wehrpflichtigen Männern für den militärischen Dienst anwenden würde. Ich hätte Mühe, eines vorzuschlagen. Am ehesten käme wohl die erste Fallkonstellation (indeter¬mi¬nacy within limits) in Betracht, wenn man unterstellt, dass jeder Wehrpflichtige gleich¬er-maßen für die Auswahl als Rekrut geeignet ist. Das wird in Artikel 12a GG bei der verfassungsrechtlichen Ermöglichung der Wehr¬pflicht für alle Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr unterstellt. Hier gilt die Wehrpflicht allgemein für alle Männer dieser Altersgruppe, unabhängig von allen individuellen Verschiedenheiten. In dem Moment, in dem diese Pflicht nicht mehr allgemein ist – das Thema der Kriegsdienstverweigerung einmal beiseitegelassen – zerfällt das Ethos des allgemeinen staatsbürgerlichen Status des wehrpflichtigen Soldaten. Es gibt dann zwei Kategorien – diejenigen, die „dienen“, weil es das Los so bestimmte, die anderen, die aus der Pflicht zum Wehrdienst entlassen sind, auch sie dank des Losentscheids. Es wäre aber sinnvoll – und übrigens dem überkommenen Begriff des „Bürgers in Uniform“ angemessener – , wenn die Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen von Wehrpflichtigen auf einem normativen Grund beruhte. Soldat durch Zufall ist keine motivierende Grundlage für einen ethischen Dienst. Es wäre sinnvoller, zunächst nach Freiwilligen Ausschau zu halten, und wenn deren Zahl den Anforderungen der Verteidigungspolitik nicht genügt, auf die ja nur ausgesetzte verfassungsrechtliche Wehrpflicht zurückzugreifen. Für die dann möglicherweise entstehende Überzahl, die von der militärischen Infrastruktur nicht aufgefangen werden könnte, gäbe es die Möglichkeit der Umwidmung der vorhandenen Kapazitäten zu Tätigkeiten in vielfältigen zivilen Lebensbereichen.
    Dies ist keine Zurückweisung des Konzeptes der Losentscheidung – lediglich ein Hinwies darauf, dass dieses Mittel der Sozialtechnologie für normativ relevante Entscheidungen, zumal bei jungen Menschen, die sich auf dem Weg zur Selbständigkeit befinden, nicht geeignet ist. Ein Lebensweg als Würfelspiel degradiert ein wesentliches Element des Hereinwachsens der jungen Männer – und vielleicht ja bald einmal auch der jungen Frauen – in den Status von verantwortlichen Bürgern zu Geschöpfen des Zufalls. Das ruft den ersten Artikel des Grundgesetzes, dessen normativen Grund, in Erinnerung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.

    • Hubertus Buchstein Sun 19 Oct 2025 at 18:25 - Reply

      Die freundliche Nachfrage von Ulrich K. Preuß erlaubt mir, etwas klarzustellen und zudem ein Bedenken zu formulieren, das gegen meinen Vorschlag sprechen mag. Die erste Klarstellung betrifft die Bezugnahme auf das dänische Modell. Dort greift zu allererst die Freiwilligkeit und nur dann, wenn nicht genug Freiwillige gefunden wurden, gelangt das Los zum Einsatz. Das war in den vergangenen Jahren in der Regel nicht notwendig; wird nun allerdings aufgrund der Erhöhung der für notwendig erachteten Rekrutenzahl dann doch praktiziert. Die Vorrangregel des dänischen Modells lautet also „Freiwilligkeit“ und dieser Regel hatte ich mich am Ende meines Beitrages – vielleicht nicht deutlich genug formuliert – angeschlossen.
      Gern beantworte ich auch die Rückfrage von Ulrich K. Preuss, welche der vier am Ende des Beitrages aufgelisteten Konstellationen meines Erachtens am ehesten greift, um für das Prinzip Zufall zu votieren. Ja, es ist die Konstellation von „indeterminancy within limits“, also Fällen, in denen beispielsweise mehrere Bewerber*innen für beispielsweise einen Studienplatz in allen relevanten Hinsichten sehr gut geeignet sind und es erhebliche Kosten verursachen würde, weitere Qualitätsunterschiede zwi¬schen ihnen herauszufinden. Wenn aber die Kosten der Qualitätsermittlung derart in die Höhe schnellen, dann – so mein Argument – ist es schlicht vernünftiger, den Zufall entscheiden zu lassen.
      Denn was wäre die Alternative im Fall von nicht genügend Freiwilligen (selbst bei hohen finanziellen Anreizen)? Es könnte nur ein Auswahlsystem unter allen im wehrfähigen Alter befindlichen Personen sein, welches in substantieller Hinsicht allgemein als „gerecht“ anerkannt werden kann. Das machte ein System komplexer Kriterien für alle, welche aufgrund ihrer körperlichen oder sonstigen Eigenschaften nicht zuvor für den Dienst an der Waffe ausgemustert worden sind, notwendig. Ein kompliziertes und rechtssicheres Punktesystem müsste erarbeitet werden. Aber was soll wie verpunktet werden? Wie welche Aspekte der körperlichen Fitness? Wie welche Komponenten mentaler Kompetenzen, die in einer Zukunft von Cyberkriegen und Drohneneinsätzen immer wichtiger werden? Sollen es auch soziale Komponenten sein, und wenn ja: welche? Es müsste ein riesiger Aufwand betrieben werden, wenn man auf diese Weise die tatsächlich am allerbesten Geeigneten würde herausfiltern wollen, der zudem mit Rechtshändeln derjenigen einhergehen wird, die sich dem Dienst entziehen wollen. Und wie geht man mit Personen um, die bei einem solchen Verpunktungstest „schummeln“, indem sie ihre Fähigkeiten unter den Scheffel stellen? Kurzum: Es müsste ein riesiger Aufwand betrieben werden, wenn man auf diese Weise die tatsächlich am allerbesten Geeigneten würde herausfiltern wollen. Ein Aufwand, der zudem anschließend mit Rechtshändeln derjenigen einhergehen wird, die sich dem Dienst entziehen wollen. Der Losentscheid unter aller die Musterung erfolgreich Überstandenen bietet hier den vernünftigen Ausweg.
      Mir leuchtet zudem auf der grundsätzlichen Ebene nicht ein, warum ein Losentscheid bei normativ relevanten Fragen – auch und gerade bei jungen Menschen – grundsätzlich ungeeignet sein soll. Warum soll es ein Verstoß gegen die Menschenwürde sein, wenn der Zufall – wie in manchen Ländern – bei der Verteilung von Studienplätzen oder von lebenswichtigen Organen eine Rolle spielt? Wenn Ulrich K. Preuß in der ihm eigenen pointierenden Diktion davon spricht, dass „ein Lebensweg als Würfelspiel [junge Menschen] in den Status von verantwortlichen Bürgern zu Geschöpfen des Zufalls degradieret“, dann kann ich diesen Einwand nicht teilen. Denn er basiert auf der Hypothese, dass junge Menschen alle wichtigen Entscheidungen über ihren zukünftigen Lebensweg nach einer sorgfältigen Abwägung aller pros und cons treffen. Diese Unterstellung halte ich für lebensfremd, wissen wir doch aus unserer eigenen Erfahrung, wie häufig uns erst zufällige Ereignisse den Lebens- (und Liebes-)Weg in diese oder jene Richtung geführt haben. Zudem: Vielleicht entdeckt der eine oder andere für den Militärdienst Ausgeloste zu seiner eigenen Überraschung, dass dies etwas ist, was ihm wirklich gefällt und er gern professionell fortsetzen möchte. Ihne das Los wäre er nie in diese Versuchung gekommen. Und warum soll es ein Verstoß gegen die Menschenwürde sein, wenn der Zufall – wie in manchen Ländern – bei der Verteilung von Studienplätzen oder von lebenswichtigen Organen schon seit Jahren eine Rolle spielt?
      Das Losverfahren wird – wie im Zuge der Berichterstattung über die aktuelle Debatte nun auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist – schon seit Jahrhunderten bei der Aushebung von Soldaten eingesetzt. Einige Beispiele aus den USA während des Zweiten Weltkrieges und dem Krieg in Vietnam hatte ich bereits in meinem Beitrag erwähnt. In der Bundesrepublik wurde es zuletzt vor 65 Jahren praktiziert. Damals wurde eine solche Entscheidung als „Schicksal“ angenommen und ihr wurde Folge geleistet. Die Kollegin Kerstin Pohl aus Mainz hat in einer kritischen E-Mail an mich den Gedanken formuliert, dass in der heutigen Zeit, in der nahezu alles unternommen wird, um das Ungeplante und den Zufall aus dem Leben zu verbannen, die damalige eher schicksalsergebene Mentalität obsolet geworden ist. Wenn dem so ist – und ich habe den Eindruck, sie trifft damit einen wichtigen Punkt – dann verändert sich damit die „Auszahlungsmatrix“ von „indeterminancy within limits“. Je nachdem, für wie unerträglich junge Menschen es erachten, dass das Los ihren Lebensweg mitbestimmen soll, steigen die in Rechnung zu stellenden „Kosten“ des Losentscheids. Vielleicht ist eine solche Mentalität aber auch nur eine Variante rationalistischer Hybris, der im Namen der Gerechtigkeit des Losens begegnet werden darf.

  3. Klaus Fri 17 Oct 2025 at 15:56 - Reply

    Die Effizienz eines Losverfahrens ist nicht sonderlich strittig, nur haben die Beispiele, wie Bewerbungsgespräche recht wenig mit der Frage des politischen Systems zu tun. Die empfundene Willkür und Ungerechtigkeit durch Wehrpflichtige lassen sich nicht mit einem einfachen Verweis auf die Rationalität des Losverfahrens lösen. Der Versuch, die Gerechtigkeitsdebatte mit rationalem Pragmatismus zu überdecken, scheint in der aktuellen politischen Kultur, in der sich gerade jene Bevölkerungsgruppe, welche von der Wehrpflicht betroffen wäre, aufgrund empfunden Benachteiligungen immer weiter nach rechts orientiert, doch etwas aus der Zeit gefallen. Berechtigt oder nicht, auf eine derartige Entwicklung mit einer Neutralisierung der Grechtigkeitsfrage über partielle Rationalität zu antworten, wirkt den Wehrpflichtigen gegenüber doch etwas tone deaf.
    Zumal man in anderen Politikfeldern mit Bezug auf Gerechtigkeit nicht auf die Idee kommen würde, trotz aller Rationalität den Einschnitt in Grundrechte per Los zu entscheiden.
    Ob hier genug Unmut entsteht, um das politische System weiter zu destabilisieren, ist schwer abzusehen, allerdings sollte man zumindest darüber reden. Nicht zuletzt da die Ironie des Dänemarkvergleiches ist, dass diese genug Freiwillige haben und eben nicht auf einen Zwang per Los angewiesen sind. Man bleibt mit der Frage zurück, warum man diesen Aspekt des dänischen Systems ausklammert. Ist es wirklich die bestechende Effizienz des Losverfahrens, die hier argumentiert wird, oder wird viel mehr versucht, die allzu deutsche Tendenz tiefer liegender Probleme per bürokratischem Zwang zu verdecken, im Nachhinein rationalisiert?

    • Hubertus Buchstein Mon 20 Oct 2025 at 17:05 - Reply

      Ich stimme der Beobachtung des Autors Klaus zu, dass das dänische Modell erst in zweiter Linie auf das Los und in erster Linie auf die Freiwilligkeit setzt. Die Lotterie gelangt erst dann zum Zuge, wenn die Zahl der Freiwilligen nicht ausreicht. Das war in der jüngeren Vergangenheit nicht der Fall; es wird aber interessant zu beobachten sein, ob die kürzlich beschlossene nahezu Verdoppelung der Zahl der einzuziehenden Rekrut*innen das Losverfahren auch zukünftig überflüssig machen wird. Nun ist es mit der „Freiwilligkeit“ so seine Sache; ich spreche das Problem, wer aus welchen sozialen Schichten am ehesten „freiwillig“ zum Militär geht, in meiner Antwort auf die Kritik von Ulrich Schoppe an. Unabhängig davon leuchtet mit bei Autor Klaus überhaupt nicht ein, warum man auf ein als vernünftiges i. S. von gerechtes Verfahren verzichten soll, nur weil irgendwer auf „tone deaf“ schaltet. Wenn man so argumentiert, dann braucht man sich überhaupt keine Gedanken mehr darüber machen, welche Verfahren bei dringen anstehenden Entscheidungen zur Geltung gelangen sollen. Sollen wir uns auch von „tone deaf“ übertrumpfen lassen, wenn es die Erhebung von Steuern oder die Einhaltung von Regeln im Straßenverkehr geht?

  4. Axel Reif Mon 20 Oct 2025 at 21:10 - Reply

    Ein Kommentar zu dieser spannenden Diskussion:
    Das vorgeschlagene Primat der Freiwilligkeit, das offensichtlich in der aktuellen öffentlichen Diskussion als hoch attraktiv bewertet wird, vermeidet zwar Ärger und Unzufriedenheit, widerspricht aber der angestrebten Verfahrensgerechtigkeit. “Freiwilligkeit” kann auf vielen Voraussetzungen beruhen: ein gutes Beispiel ist die Finanzierung des Führerscheins, die nicht für alle sozio-ökonomischen Gruppen gleich attraktiv sein mag.
    Insofern darf die Frage gestellt werden, ob nicht ein reines Losverfahren
    das einzig gerechte und weitgehend manipulations-sichere Verfahren ist, wenn nicht alle tauglichen Kandidaten tatsächlich zum Dienst herangezogen werden. Wie dann mit Kandidaten, die tatsächlich ihre berufliche Perspektive
    in der Bundeswehr sehen (die gibt es auch !), umzugehen wäre, bleibt dabei erst einmal offen.

  5. Julian Müller Tue 21 Oct 2025 at 00:21 - Reply

    Legitimation durch Losverfahren?

    Zunächst möchte ich Hubertus Buchstein bei seiner Einschätzung zustimmen, dass für die Wiedereinführung der Wehrpflicht ein politischer und auch gesellschaftlicher Kraftakt notwendig sein wird. Ich selbst gehörte im Jahr 2010 zu den Ersten, welche von der Abschaffung der Wehrpflicht profitiert haben. Seitdem sind 15 lange Jahre vergangen, welche das Thema Wehrpflicht aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt haben. Nach der gravierenden Änderung der politischen Großwetterlage durch den russischen Überfall auf die Ukraine stellt sich nun neben technisch-administrativen Fragen auch die Frage der entsprechenden gesellschaftlichen Mentalität, welche für die Steigerung der Verteidigungsfähigkeit notwendig ist. Hier stellen sich mehr oder weniger zwangsläufig auch bedeutende Legitimationsfragen, wobei es im Folgenden um die Frage nach der Legitimation des Auswahlprozesses im Rahmen einer neuen Wehrpflicht gehen soll.

    Der Text von Hubertus Buchstein zeigt eindrücklich, dass es so etwas wie zwingende, invariante Gründe bzw. Kriterien für die Auswahl von Bewerbern bei der Wehrpflicht schwerlich geben kann, und dass hier die Gefahr besteht, einer Illusion der Objektivierbarkeit von (politischen) Entscheidungen zu erliegen. Auch hier kann Niklas Luhmann sekundieren: “[…] dass faktischer, aktuell bewusster Konsens über relevante Entscheidungsinhalte empirisch nicht feststellbar, ja in hochkomplexen Gesellschaften mit rasch fluktuierenden Reglements völlig undenkbar ist. Man muss dann schon auf Mystifikationen wie ”kollektives Hintergrundbewusstsein” zurückgreifen oder sich ein Konsensbildungspotential vorstellen, das nie aktualisiert werden kann. Für diese Probleme muss man einen Ausweg finden – wenn nicht im Rahmen des konventionellen Legitimationsverständnisses, dann eben mit Hilfe eines anderen”. Kann dieses “andere Legitimationsverständnis” aus einer “Legitimation durch Losverfahren” bestehen? Wenn es bei der funktionalen Analyse um die Entdeckung bereits gelöster Probleme geht, dann wird man in ferner Zukunft vielleicht einmal sagen, dass im Jahr 2025 im Zusammenhang mit der Wehrpflicht die Legitimation nicht durch invariante Auswahlgründe, sondern durch die Teilnahme am Losverfahren hergestellt wurde.

    Jedoch ist zu beachten, dass es sich bei einer solchen “Legitimation durch Losverfahren” in einem weiteren Sinne um einen Kompromiss- und Ausgleichsmechanismus handelt, welcher bei entsprechendem Funktionieren gesellschaftliche Konflikte herunterkühlt. Hier kommt der eingangs angesprochene Aspekt der Mentalität wieder ins Spiel: Fähigkeit und Bereitschaft zu Kompromiss und Ausgleich sind Voraussetzungen einer demokratischen und pluralen Gesellschaft. Zugleich entsprechen diese Voraussetzungen keiner historischen Notwendigkeit, sondern sind lediglich eine gesellschaftliche Option. Und die Strahlkraft dieser Option scheint aktuell weltweit abzunehmen – das Streben nach Kompromiss und Ausgleich scheint vielerorts einer neuen Kompromisslosigkeit zu weichen, welche von den politischen Rändern aus die Mitte zunehmend unter Druck setzt. Insbesondere in den USA scheint die Legitimation durch Verfahren (ob nun in Bezug auf Wahlergebnisse oder in Bezug auf rechtsstaatliche Entscheidungen) teilweise dem rücksichtslosen Willen zur Macht zu weichen, welcher Niederlagen nicht akzeptiert und stets den ganzen Kuchen besitzen will, anstatt sich lediglich mit einem Stück davon zufrieden zu geben. Übertragen auf die Diskussion um die Wehrpflicht stellt sich folglich die Frage, ob bei einer zunehmenden Ablehnung von Kompromiss und Ausgleich zum Wohle der Allgemeinheit ein weitreichender Eingriff in die Persönlichkeitsrechte durch Losentscheid akzeptiert werden würde, oder ob nicht auch hier die zunehmenden rücksichtslosen Egoismen die Oberhand gewinnen würden, welche gesellschaftliche Verständigung mit Hilfe (aleatorischer) Verfahren zunehmend erschweren.

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