15 October 2025

Das Los der Soldaten

Losverfahren wurden in der politischen Ideengeschichte zuweilen als probates Mittel zur Erzeugung von militärischer Sicherheit und Stärke gepriesen. Folgt man dem Ratschlag von Machiavelli, dann kann das Los in Verbindung mit Bestrafungsaktionen Kräfte freisetzen, die zuvor brachlagen. In seinen „Discorsi“ (1513–18) lobt er die gelegentliche römische Praxis der Dezimierung der eigenen Heere, wenn sie eine Schlacht verloren hatten. „Dezimierung“ bedeutete, dass jeder zehnte per Los ermittelte Soldat als Feigling tituliert und hingerichtet wurde. Das sei laut Machiavelli deshalb ein so probates Mittel, weil es das eigene Heer nicht substantiell zerstörte, aber eine doch so abschreckende Wirkung auf die eigenen Soldaten hatte, dass sie bei der nächsten Schlacht aus Angst vor der Todeslotterie den Kampf mit dem Gegner erbitterter aufnahmen.

Für die heutige Zeit und speziell für die aktuellen Diskussionen über eine neue Ausgestaltung der Wehrpflicht unter Einbezug des Losverfahrens ist der Vorschlag Machiavellis in der Sache nicht wirklich hilfreich. Die Erinnerung an seinen Vorschlag ist aber insofern instruktiv, als sie die Aufmerksamkeit auf die funktionalen Potentiale von Losverfahren lenkt.

Erlösung vom Zufall

Nun haben Losverfahren und andere zufallsbasierte Entscheidungsverfahren heute unter Politiktheoretiker*innen und Philosoph*innen einen denkbar schlechten Leumund. Sie haben in aller Regel den schwer zu bändigenden Impuls, den Faktor Zufall unter Kontrolle zu bekommen. Etwas als zufällig zu bezeichnen, kommt ihnen einem intellektuellen Armutszeugnis und einem Verdammungsurteil gleich. Dies gilt bereits für Kant und Hegel. In Kants Philosophie steht das Wort zufällig für „bloß empirisch“ und damit für völlig beliebig und gedanklich nicht durchdrungen. Hegel zufolge verdanken die Systeme der philosophischen Wissenschaft, die großen Werke aus Bajonetten und Kanonen eines Napoleon und  die richtigen politischen Entscheidungen des sittlichen Staates nichts dem Zufall und alles dem großen „Compositeur Geist“; denn auch „eine Iliade“, so lautet ein Aphorismus in Hegels nachgelassenem Wastebook „wird nicht zusammengewürfelt“.

Es ist denn auch kein Zufall, dass der Vorschlag, bei der Ausgestaltung der neuen Wehrpflicht das Losverfahren einzusetzen, vor allem auf Seiten der politischen Linken auf Widerstand stößt, sei es die Ablehnung durch die SPD-Bundestagsfraktion oder die Kritik solcher Pläne als „Russisch Roulette“. Die Ablehnung des positiven Rekurses auf den Zufall gehört auf Seiten der politischen Linken zum festen Kern ihrer epistemologischen Grundüberzeugungen. Schon die radikale Linke in der französischen Revolution und nach ihr die utopischen Sozialisten, Karl Marx und Friedrich Engels und mit und nach ihnen sämtliche anderen Strömungen der Linken inklusive der Anarchisten hielten den „Zufall“ für einen irrationalen Faktor: erst der kommende Sozialismus respektive Kommunismus verspricht die Erlösung von der Willkür des Zufalls und das ungestörte Wirken von Vernunft und Plan. Konservative haben es in der Regel einfacher, sich mit Zufällen anzufreunden und einen positiven Ausgang in Demut zu registrieren. Es ist deshalb auch wenig überraschend, dass der aktuelle Vorschlag für die Einbeziehung des Losverfahrens bei den Christdemokraten mehr Unterstützung gefunden hat als bei den Sozialdemokraten.

Die funktionalen Vorzüge des Losens

Dabei gibt es neben solchen eher emotionalen Einstellungen zum Thema Zufall durchaus eine Reihe guter Gründe, in bestimmten Fällen ein Entscheidungsverfahren zu wählen, das ohne die Berücksichtigung vermeintlich guter bzw. „sachgerechter“ Gründe auskommt. Denn Losverfahren bzw. Lotterien können eine Reihe funktionaler Vorzüge bieten.

Der erste Vorzug einer Lotterie ist, dass sie ein absolut treffsicheres Verfahren darstellt. Das Ergebnis einer Lotterie ist eindeutig und be­darf keiner weiteren Interpretationsleistung. Lotterien kennen kein „Patt“ und somit auch keine kosten- und zeitintensiven Wiederholungen von Verfahrensprozeduren.

Ein zweiter Vorzug ist, dass Losverfahren vergleichsweise kostengünstig sind. In Bezug auf die Wehrpflicht wäre die Alternative ein ausgeklügeltes Punktesystem, um die bestmögliche Eignung von Rekruten zu ermitteln. Ein solches System müsste erst erarbeitet und permanent evaluiert werden. Die Eignungsbewertungen müssten aufwändig betrieben und rechtssicher durchgeführt werden. Demgegenüber ist ein Losverfahren weitaus preiswerter. Technisch gesehen, lassen sich bei einem Losverfahren eine Reihe an zusätzlichen Vereinfachun­gen vornehmen: So wurden die Soldaten für den Einsatz für die Kriegsfüh­rung in Vietnam in den USA ab 1970 nicht einzeln ausgelost, sondern gruppenweise auf Grundlage ihres Geburtsdatums.

Ein dritter Vorzug des Losens ist, dass es ein absolut neutrales Verfah­ren und somit in egalitärer Hinsicht gerechtes Verfahren ist. Eine Lotterie ist dann fair, wenn zum Zeitpunkt T die Gewinnchance für alle Teilnehmenden genau gleich hoch ist. Lotterien, die in technischer Hinsicht die formalen Neutralitätskriterien erfüllen, weisen den Vorteil vollstän­diger prozeduraler Blindheit auf. Eine solche Lotterie berücksich­tigt keine Gründe und keine Gegengründe. Sie kennt keine Besonderhei­ten, keine Wünsche, Stärken, Schwächen oder Sympathien. Solche Lotte­rien sind unfähig zur Stigmatisierung. Im Vergleich mit allen anderen Verfahrensrivalen verfügt das Los über den Vor­zug des höchsten Grades an „Verfahrensautonomie“, wie der frühe Niklas Luhmann die Abschottung von Verfahren gegenüber den Struktu­ren der sie umgebenden Umwelt bezeichnet hat. Die Losverfahren müssen dann allerdings auch technisch korrekt durchgeführt werden. Wie schnell ansonsten Verdächtigungen die Runde machen können, illustrieren die Auslosungen für die Rekruten im Zweiten Weltkrieg und im bereits erwähnten Vietnamkrieg. Nach 2.400 Ziehungen war während des Zweiten Weltkrieges unter den insgesamt 9.000 Los-Seriennummern kein einziges Mal eine Person aus der Zahlenkohorte zwischen 300 und 600 ausgelost worden. Ein solches Resultat entspricht einer mathematischen Wahrscheinlichkeit von nur 1 zu 15 x 10(40).

Nahezu dreißig Jahre später wiederholten sich im Jahre 1970 bei der Auslosung von Rekruten für den Krieg in Viet­nam ähnlich unwahrscheinliche Resultate. In der Öffentlichkeit entstand der Eindruck, dass Personen aus bestimmten Zahlenkohorten systema­tisch der Kriegsdienst erspart bleiben sollte. Das merkwürdige Lotterieergebnis beschäftigte sogar die Gerichte, die aber keine manipulativen Ein­griffe nachweisen konnten. Erst als bei der Rekrutenauslosung im Jahr 1971 der Bann über zuvor ausgelassene Zahlenkohorten gebro­chen war, ebbte die öffentliche Diskussion über die Merkwürdigkeiten bei den Auslosungsergebnissen wieder ab.

Die Rationalität des A-Rationalen

Seit den 1970er Jahren ist es nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Ländern zu einer Art Revival von Losverfahren gekommen, sei es bei der Verteilung von Studienplätzen, der Vergabe von überlebenswichtigen Organen, der Auswahl von Stichproben bei Steuerüberprüfungen oder bei der Rekrutierung von Bürgerinnen und Bürgern für Bürgerräte. Fredrik En­gelstad und Jon Elster gehörten in den 1980er Jahren zu den ersten Sozialwissenschaftlern, die das punktuelle Wieder­aufkommen des Losgebrauchs beobachteten und nach Erklärungen für dieses Phänomen suchten. Sie fragten in ihren Forschungen zunächst empirisch nach den typischen Ent­scheidungssituationen, in denen in modernen Gesellschaften und Menschen (außerhalb des Glücksspiels) von Lotterien Gebrauch machen oder ihren Gebrauch empfehlen, und sortierten diese Fälle. Ihre Auflistungen lassen sich in vier Fallgrup­pen rubrizieren.

Erstens handelt es sich um Situationen von „indeterminancy within limits“. Das sind Situationen, in denen beispielsweise mehrere Bewerber*innen für eine Tätigkeit in allen relevanten Hinsichten sehr gut geeignet sind und es erhebliche Kosten verursachen würde, weitere Qualitätsunterschiede zwi­schen ihnen herauszufinden. Wenn die Kosten der Qualitätsermittlung höher sind als der erzielte Gewinn, den man hat, den oder die Allerbeste eingestellt zu ha­ben, ist es vernünftiger, den Zufall entscheiden zu lassen. Dieses Argument ist auch für die aktuelle Debatte um eine Reform der Wehrpflicht von großer Bedeutung.

Zweitens Fälle von absoluter „uncertaincy“. Situationen absoluter Unsicher­heit liegen vor, wenn man nach Lage der konkreten Dinge beim besten Willen nicht herauszufinden vermag, was das Richtige ist. Möglicherweise kann man es im Nachhinein herausbekommen, in der Situation selbst hat man jedoch keinen einzigen verlässlichen Anhalts­punkt.

Drittens Situationen von „indifference“. Indifferenz liegt vor, wenn man sich trotz vollständigen Wissens zwischen verschiedenen Angeboten nicht entscheiden kann, weil die zur Auswahl stehenden Unterschei­dun­gen tatsächlich gar keinen Unterschied aufweisen (zum Beispiel zwei völlig identische Bluetooth-Boxen im Kaufhausregal). Auch in diesen Fäl­len ist eine zu­fallsgeleitete Entscheidung das Beste, weil es der ein­zige effiziente Weg ist, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Als letztes listet Elster Fälle von „incommensurability“ auf. Inkommensurable Güter oder Präferenzordnungen lassen sich auf­grund ihrer Verschiedenheit nicht auf einen gemeinsamen Nenner brin­gen. Soll bei medizinethischen Entscheidungen die Rettung des Lebens ei­ner jüngeren Person Vorrang vor der Rettung einer älteren Per­son haben? Welche Bedeutung dürfen die gesellschaftlichen Verdienste von Pati­enten haben und wie lassen sich die Verdienste zweier Menschen fair messen? In Situationen, in denen interpersonale Vergleiche unmög­lich oder inopportun sind, bieten Lotterien einen Ausweg, um zu Ent­schei­dungen zu gelangen.

Mut zum Los

In allen vier genannten Fällen ist es demnach ein Gebot der Vernunft, das Los entscheiden zu lassen. In solchen Situationen weiterhin auf rational begründbaren Entscheidungen zu beharren, ist dagegen eine irratio­nale Erscheinung von „Hyperrationalität“, weil man sich weigert, die Gren­zen von Rationalität rational anzuerkennen. Man erwiese der Rationalität einen schlechten Dienst, wenn man sich der Einsicht verschließt, dass in manchen Situationen im Leben entweder überhaupt keine sachlichen Anhaltspunkte für eine „vernünftige“ Entscheidung vorliegen oder es unzumutbare Mühe und Kosten bereitet, um sachliche Gründe für sie zu finden. In solchen Fällen ist die Lotterie der Königs­weg, um ohne Selbstbetrug jenseits der Grenzen der Rationali­tät weiterhin rational agieren zu können.

Die geplante Rückkehr zur ausgesetzten Wehrpflicht erfordert die Mobilisierung erheblicher finanzieller und personeller Ressourcen. Anstatt die kommenden Monate mit einer komplizierten Debatte über die Details von Eignungen und Befreiungen für den soldatischen Dienst zu belasten, die dann nur wieder in neue Gerechtigkeitsdebatten mündet, sollte Deutschland den Mut haben, vom kleinen Nachbarland Dänemark lernen zu wollen. Das Losverfahren hat sich dort bekanntlich bewährt. Der vorgeschlagene Einsatz des verfahrensautonomen Auslosens als Teil der Reform des Wehrdienstes ist sowohl aus Kostengründen wie aus egalitären Gerechtigkeitsgründen eine pragmatische und sinnvolle Idee.


SUGGESTED CITATION  Buchstein, Hubertus: Das Los der Soldaten, VerfBlog, 2025/10/15, https://verfassungsblog.de/los-verfahren-wehrpflicht/.

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