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26 February 2020

Migration und Demokratie

Migration war in den vergangenen Jahren eines der meistdiskutierten politischen Themen. Auf die Frage, ob Migration eine Herausforderung für die Demokratie darstelle, werden viele mit „ja“ antworten, jedoch mit ganz unterschiedlichen Erwägungen. Es geht mir hier nicht um Fragen der „Integration“, die auf Annahmen darüber beruhen, wer wohin migriert und mit welchem kulturellen Hintergrund. Vielmehr möchte ich die Frage formaler betrachten und mit zwei Aspekten beginnen, unter denen Migration als Herausforderung für die Demokratie erscheint. Der erste Aspekt lässt sich überschreiben mit „Territorium und Gleichheit“, der zweite mit „Entscheidung über Grenzen“.

Territorium und Gleichheit

Demokratie bedeutet die Organisation von Herrschaft basierend auf den Prinzipien menschlicher Gleichheit und Freiheit. Es ist der Grundsatz, dass Menschen sich als politische Gleiche anerkennen und sich Institutionen geben, durch welche Herrschaft verteilt ist und dem gemeinsamen Einfluss und gemeinsamer Kontrolle unterliegt. Die heutigen demokratischen Institutionen entwickelten sich im Rahmen des Territorialstaats, in der dadurch geprägten Form. Der Territorialstaat ist Rahmen der Ausübung von Herrschaft und dementsprechend auch Rahmen demokratischer Bürgerschaft. Obwohl die Regelungen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft und des Wahlrechts andere Faktoren einbeziehen, ist die Präsenz auf dem Territorium wichtiger Bezugspunkt politischer Gleichheit. So wäre es in einem demokratischen Staat unhaltbar, dauerhaft Anwesenden den Zugang zur Bürgerschaft unbegrenzt vorzuenthalten. Wer sich im Staatsgebiet befindet, der hat – zumindest nach einiger Zeit – auch einen Anspruch, gegebenenfalls unter zusätzlichen Bedingungen wie Sprachkenntnissen, zum vollen politischen Mitglied werden zu können.

Diese Rolle von Territorium als Rahmen politischer Gleichheit macht Migration für einen demokratischen Staat so bedeutsam. Weil mit Einwanderung nicht nur Anwesenheit, nicht nur Rechte, sondern potentiell politische Gleichstellung verbunden ist, richtet sich der Kontrollanspruch oftmals auf den ersten Zugang zum Territorium. Diese Beschreibung soll weder die Tatsache überdecken, dass viele Einwanderinnen nicht dauerhaft bleiben wollen, noch soll es die Komplexität von Aufenthalts- und Einbürgerungsrecht ignorieren. Dennoch ist dies der erste Aspekt, unter dem Migration eine Herausforderung für die Demokratie ist. Einen hervorragenden Text, der sehr viel mehr in die Tiefe geht als ich das hier kann, hat Ulrich K. Preuß 1998 dazu in der Zeitschrift Constellations veröffentlicht, mit dem Titel „Migration – a challenge to modern citizenship“.

Rechtfertigung von Grenzen

Dass Migration eine Herausforderung für die Demokratie ist, lässt sich auch aus einem anderen Blickwinkel fassen und zwar hinsichtlich der Rechtfertigung von Grenzen. Wenn Demokratie den Anspruch bedeutet, dass diejenigen, die Regeln und Herrschaft unterworfen sind, auch Einfluss auf ebendiese haben, können wir dann die Entscheidungen über Grenzen – des Zugangs zum Territorium ebenso wie zur Staatsbürgerschaft – als demokratische verstehen? Auf die Regeln, wer Staatsgrenzen unter welchen Bedingungen passieren kann, haben jeweils diejenigen keinen Einfluss, die sich noch außerhalb des Staates befinden. Die von Regeln der Einbürgerung am stärksten Betroffenen haben keine politische Mitsprache darüber. Dieses in der politischen Theorie ausgiebig als „boundary problem“ diskutierte Thema (z.B. von Gustaf Arrhenius  oder Frederick Whelan) ist eine andere Variation zu der grundlegenden Spannung von Demokratie: Demokratie beruht auf dem Grundsatz menschlicher Gleichheit und Freiheit einerseits und der Notwendigkeit konkreter Institutionen andererseits. Es sind die Institutionen, welche der gleichen Freiheit erst Wirksamkeit verleihen, zugleich bringen diese Institutionen Abgrenzungen mit sich, die mit gleicher Freiheit in Konflikt geraten können. Im Kontext von Migration werden diese Abgrenzungen besonders sichtbar.

Die Dynamik von Institutionen und Inklusion – und die Rolle des Rechts dabei

Demokratie lässt sich nur aus der Spannung zwischen Institutionen und dem immer neu formulierten Anspruch der Inklusion heraus verstehen. Diese Spannung von Institutionen und Inklusion ist dabei kein schroffes Gegenüber, sondern eine vielschichtige Dynamik. Insofern bilden die theoretischen Auseinandersetzungen mit dem boundary problem zum Teil eine Schwarz-Weiß-Welt ab, die es in der rechtlichen und politischen Wirklichkeit so nicht gibt. Wer an politischen Prozessen teilnimmt, in diesem Sinne Teil des Demos ist, lässt sich nicht vorab klar markieren. Staatsbürgerschaft und Wahlrecht sind wichtige Instrumente demokratischer Teilhabe, aber nicht die einzigen. Bei Demonstrationen in den USA hört man regelmäßig den Ruf: „This is what democracy looks like.“ Demokratie ist gerade auch der Protest auf der Straße. Diese Dimension von Demokratie ist besonders wichtig für diejenigen, die keine institutionalisierten Möglichkeiten politischer Mitsprache haben. Weil demokratische Teilhabe in vielen Graustufen stattfindet, ist die Entscheidung über Grenzen und Zugang kein demokratisches Paradox, wohl aber unterliegt sie einer demokratischen Asymmetrie.

Bei alledem wäre es falsch, die Seite von Institutionen mit dem Recht zu identifizieren und den Protest auf der Straße als Politik in Kontrast zum Recht zu sehen. Das Recht spielt auch für die nicht institutionalisierten Formen von Politik eine erhebliche Rolle, sei es schützend oder begrenzend. Zentral sind dafür insbesondere die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit, die assoziativen Rechte, wie sie Ulrich K. Preuß im Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law zusammenfasst. Zu demonstrieren, sich privat zu versammeln, sich zu organisieren sind wesentliche Aspekte politischen Handelns. Das Recht ist nicht notwendig, um dieses Handeln zu ermöglichen, aber das Recht kann dieses Handeln abschirmen oder aber erschweren. Assoziative Rechte sind also ein Bereich, in dem die Dynamik von Institutionen und Inklusion rechtlich gestaltet wird, insofern sie die politische Mitsprache unterhalb formaler Partizipationsrechte strukturieren.

Daneben wird die Spannung von Institutionalisierung und Inklusion an den verschiedenen Toren des demokratischen Staates verhandelt. Bereits wenn es um Zugang zum Territorium geht, schwebt Demokratie gewissermaßen über den Bedingungen der Entscheidung – als praktisches Gewicht der Entscheidung einerseits, als Frage der Rechtfertigung andererseits. Nach diesem ersten Zugang zeigt sich die Spannung in rechtlichen Auslegungs- und Gestaltungsfragen an mehreren Stellen: Welche assoziativen Rechte haben MigrantInnen unabhängig vom Aufenthaltsstatus? Sollten langjährige Einwohner ohne deutschen Pass ein Wahlrecht wenigstens auf kommunaler Ebene erhalten? An welche Bedingungen kann der Staat die Einbürgerung knüpfen?

Um das Ausländerwahlrecht herauszugreifen: Hier wird um die Legitimität und Auslegung institutioneller Abgrenzungen in Konflikt mit dem Gedanken der Gleichheit gestritten. Es ist nicht nur akzeptabel, sondern notwendig, dass das Wahlrecht rechtlich beschränkt ist. Aber ist es noch mit dem Grundgedanken der Demokratie zu vereinbaren, wenn fast 10% der Bevölkerung an einem Ort keine demokratischen Mitspracherechte haben? Der Streit um ein kommunales Ausländerwahlrecht gelangt 1990 bis vor das Bundesverfassungsgericht und wurde vor einigen Jahren nochmals in Bremen geführt. Zu diesem Bremer Verfahren verfasste Ulrich K. Preuß ein Expertengutachten.

Demo*kratie

Ja, Migration ist eine Herausforderung für demokratische Staaten, aber nicht, weil sie im Konflikt mit Demokratie stünde, sondern weil sie eine grundlegende Spannung von Demokratie sichtbar macht. Demokratie ist auf die Grundwerte menschlicher Freiheit und Gleichheit bezogen, die erst einmal unbegrenzt sind, und erfordert zugleich konkrete Institutionen, die notwendigerweise Begrenzungen mit sich bringen. Demokratie, die sich nur aus einmal errichteten Institutionen heraus verstünde, aber jeden Anspruch von Gleichheit, Freiheit und damit verbunden von Einbeziehung aufgäbe, wäre eine leere Hülle, eine Aushöhlung des Begriffs.

Wenn Staaten sich als demokratisch bezeichneten, dann fehlten oftmals Teile der Bevölkerung im Verständnis, wer zur Bürgerschaft und zum aktiven Demos gehöre: Es fehlten Frauen, bis sie das Wahlrecht erhielten. Es fehlten schwarze Menschen. Demokratie befand sich in der Moderne in einem Prozess der Auseinandersetzung mit ihrem Subjekt und diese Auseinandersetzung wurde unter Berufung auf die zugrundeliegenden Werte geführt. Sie wurde von denen geführt, die schon als Bürger anerkannt waren, und von denen, die es noch nicht waren.

Das Thema der Migration ist insofern anders, als es nicht allein um Anerkennung von Teilen der Bevölkerung als Gleiche geht, sondern zunächst um Bedingungen des Zugangs. Dennoch gilt auch hier: Das Moment der Offenheit ist nicht Problem, sondern Wesenszug der Demokratie. Wir sollten Demokratie gelegentlich mit einem Sternchen nach dem O schreiben, Demo*kratie, um uns zu erinnern, dass das Subjekt offen und nie abschließend bestimmt ist.


SUGGESTED CITATION  Schmalz, Dana: Migration und Demokratie, VerfBlog, 2020/2/26, https://verfassungsblog.de/migration-und-demokratie/, DOI: 10.17176/20200226-105150-0.

3 Comments

  1. Habnix Sat 29 Feb 2020 at 16:06 - Reply

    Demokratie und Freiheit kann es logischer weise nur geben, wenn alle mit einer Sprache sprechen und sie verstehen. Man muss wissen das Demokratie und Freiheit untrennbar verbunden sind. Wie sonst könnte ein Volk seinen Willen nach Freiheit und Demokratie bekunden, wenn es nicht eine Sprache spricht.

    Der bisher einzige Moment in der Geschichte von Deutschland, wo Demokratie herrschte, war 1989, wo mit den Füßen abgestimmt wurde.

    Im Fall von 1989 bekundet das Volk seinen Willen nach Freiheit und Demokratie mit den Füßen.

    Das ist jetzt allerdings nicht so deutlich möglich und was die ganze Sache noch erheblich schwieriger macht mit einer Sprache die Freiheit und Demokratie zu fordern, ist die Zuwanderung von vielen Menschen in einem kurzen Zeitraum von wenigen Jahren mit Menschen die ihre Wurzeln im Ausland haben.

    Ach was, was schreibe ich da. Es gibt nicht den geringste Grund sich um die Freiheit und Demokratie Sorgen zu machen.

  2. Habnix Sat 29 Feb 2020 at 16:12 - Reply

    Die Voraussetzung für ein Mitspracherecht, kann man nur bekommen wenn auch deutlich verstanden und mitgesprochen werden kann.

    Wie viel können denn verstehen und auch mitsprechen?

  3. Dr. Monika Ende Goethe Universität Ffm Thu 5 Mar 2020 at 09:38 - Reply

    Danke Dana Schmalz für diesen ausgezeichneten Beitrag.
    Migration ist ein wesentliches Thema der Demo*kratie 2020.
    Hannah Arendts Resümee der Totaliarismus Forschung: Das Recht, Rechte zu haben,
    so wie ihr Essay zum Verständnis des Nationalismus
    Die Freiheit, frei zu sein
    sind aktueller denn je.

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