Parlamentarische Verfassungskontrolle: Von Schweden lernen
In der letzten Woche waren Mitglieder des schwedischen Verfassungskomitees zu einem kurzen Besuch in Berlin. Sie sprachen mit Abgeordneten des Bundestages, Parteien und Wissenschaftlern, vornehmlich über die parlamentarische und die verfassungsgerichtlichen Kontrollen des politischen Handelns in der Bundesrepublik. Ihr besonderes Interesse galt der Beteiligung der Verfassungsorgane des Bundes an der europäischen Integration.
Das Schwedische Verfassungskomitee ist ein Ausschuss des schwedischen Parlaments, des Reichstags. Als solcher hat er die Aufgabe, das Handeln der Regierung und des Gesetzgebers auf seine Vereinbarkeit mit der schwedischen Verfassung und anderen Regeln zu überprüfen. Traditionell ist dies in Schweden – wie auch in anderen nordischen Ländern, so in Norwegen oder Estland – eine Aufgabe des Parlaments. Die gerichtliche Kontrolle tritt dagegen zurück.
Zwar gestattet die schwedische Verfassung es jedem Gericht, Gesetze, die mit der Verfassung nicht zu vereinbaren sind, unangewendet zu lassen. Der Zusatz „offensichtlich“ wurde zudem aus dieser Vorschrift erst kürzlich gestrichen, um die Gerichte nicht zu sehr von dieser Aufgabe fernzuhalten. Zugleich mahnt die Verfassung die Gerichte aber ausdrücklich, zu bedenken, dass der Reichstag das höchste Organ in der schwedischen Verfassung darstellt.
Damit obliegt die Verfassungskontrolle – trotz einer in der Rechtsprechung spürbaren Bedeutungszunahme von Verfassungsproblemen, insbesondere aus der Sphäre der EMRK – nach wie vor vornehmlich dem Komitee. Dieses verfasst einen jährlichen Bericht zu verfassungsrechtlichen problematischen Vorgängen, die ihm durch die Abgeordneten vorgelegt wurden. Dieser Bericht wird an die Regierung weitergeleitet. Für Abhilfe wird in aller Regel gesorgt.
Nicht zuletzt auch, weil die schwedische Verfassungspraxis eine lange Tradition stabiler Minderheitenregierungen kennt, scheint dieses – viel gelungene Informalität und Vertrauen voraussetzende – Verfahren zu funktionieren. Die Tyrannei der Mehrheit ist in Schweden kein Problem. Klagen über Defizite in der Umsetzung gibt es nicht.
Zugleich erweckte das deutsche Vertrauen in legalistische Lösungen solcher Probleme bei den Mitgliedern des Komitees eine durchaus freundliche Verwunderung. Dies gilt auch für die starke, den Besuchern etwas rätselhaft anmutende Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der europäischen Integration.
Dabei scheint die schwedische Sicht auf die EU selbst nicht eben euphorisch zu sein. Die Schweden entschieden sich bekanntlich in einer Volksabstimmung gegen die Einführung des Euro – und dass sie diese Entscheidung bereuen, ist nicht zu erwarten. Besonders beschäftigt die Mitglieder des Komitees aber die Zukunft der Meinungsfreiheit und des Rechts auf Zugang zu öffentlichen Informationen. In diesen Feldern sind die Schweden Pioniere.
Einen Anspruch auf Zugang zu öffentlichen Dokumenten kennt die schwedische Verfassung bereits seit 1766. Heute werden diese Fragen in der Verfassung in einer für uns ungewöhnlich präzisen Art und Weise in der Verfassung geregelt. Versuche der Europäischen Kommission, in diesen Bereichen Beschränkungen einzuführen, konnten politisch abgewehrt werden. Aber wird dies immer gelingen? Und könnte ein Verfassungsgericht in diesem Kampf eine Hilfe sein? Vielleicht ist umgekehrt gerade die Konzentration auf den europäischen politischen Prozess die beste Rückversicherung für die eigene Verfassungsidentität.
Die schwedische Verfassungstradition verdient Bewunderung. Mit der englischen verbindet sie das Alter, die Kontinuität und die Gewissheit, der eigenen Tradition vertrauen zu können. Ein Verfassungsgericht – traditionell Ausdruck der Unsicherheit mit der eigenen Politik aus einer totalitären Erfahrung – passt schlecht in eine solche Umgebung.
Auf der anderen Seite hat Schweden aber seit alters eine geschriebene Verfassung, also auch besonders viel Erfahrung damit, einen mehr und mehr demokratisierten Konsens schriftlich niederzulegen, ihn zu formalisieren, ohne ihn auch deswegen legalisieren zu müssen.
Für uns ist das schwedische Modell im Ganzen sicherlich keine Empfehlung, zumal uns traditionell der Föderalismus eine stärkere Rolle der Gerichte beschert hat. Aber wichtige Erkenntnisse hält es trotzdem bereit: darüber, wie ein Parlament sich mit Verfassungsrecht auseinandersetzen kann, ebenso wie damit, wie es gelingen kann Grundrechtsgarantien zuverlässig und abwägungsfrei zu kodifizieren. Vielleicht wäre es für den Bundestag Zeit, den Besuch zu erwidern. Sicherlich ist Schweden ein unterschätzter Gegenstand rechtsvergleichender Forschung.
Warum ist es denn ein erstrebenswertes Ziel, Grundrechtsgarantien “abwägungsfrei” zu gestalten? Wie sieht denn zum Beispiel eine “abwägungsfreie” Meinungsfreiheit aus?
“Das Schwedische Verfassungskomitee ist ein Ausschuss des schwedischen Parlaments, des Reichstags. Als solcher hat er die Aufgabe, das Handeln der Regierung und des Gesetzgebers auf seine Vereinbarkeit mit der schwedischen Verfassung und anderen Regeln zu überprüfen.”
Dass ein Parlament die Regierung kontrolliert, ist klar; dafür braucht man kein Verfassungskomitee, es reichen Gesetze. Aber: Worin liegt der Vorteil, wenn ein Ausschuss des Parlamentes die Verfassungsmäßigkeit des Handelns desselben Parlamentes überprüft?
Ãœbersehe ich neben der Teilidentität von Kontrolleur und Kontrolliertem sowie dem Verzicht auf juristische Qualifikation irgendwelche weiteren “Vorteile”?