Parteitage und Parteikultur
Die Steuerung- und Kontrollfunktion von Parteitagen im Kontext unterschiedlicher Parteiorganisationsverständnisse
Parteitage sind als Versammlungen von Delegierten und Mitgliedern die höchsten Gremien in den deutschen Parteien – so sieht es jedenfalls das Parteiengesetz. Entsprechend werden auf ihnen zentrale Führungsämter der Partei besetzt, Wahllisten aufgestellt oder inhaltliche Fragen zur Parteiprogrammatik entschieden. Insgesamt wird ihnen damit formal eine Steuerungs- und Kontrollfunktion für die Gesamtpartei zugeschrieben, sie legen die großen Linien fest (Alemann et al. 2018: 179ff.).
Betrachtet man aber über die formale Festlegung hinaus den tatsächlichen Stellenwert dieser Gremien, so kam Robert Michels als einer der ersten Parteienforscher bei der Analyse der SPD im deutschen Kaiserreich zu einem pessimistischen Ergebnis. Obwohl die sozialdemokratische Parteiorganisation einen demokratischen Aufbau aufwies, hatte vor allem die Parteiführung das Sagen und dominierte die Parteiversammlungen, was Michels als „ehernes Gesetz der Oligarchie“ (Michels 1911) fasste. Das verweist darauf, dass Rolle und Bedeutung der Parteitage entlang tatsächlicher Prozesse der Willensbildung betrachtet werden müssen. Die Stellung hängt somit am Typ der Parteiorganisation als Ganzes, wofür am Beispiel des deutschen Parteiensystem im Folgenden vier Beispiele von Organisationsverständnissen skizziert werden sollen.
Vier Organisationsverständnisse
In der Bundesrepublik Deutschland dominierten von Beginn an Union und SPD als Volksparteien die Politik, was Wahlergebnisse sowie Mitgliederzahlen anging. Als „catch-all-parties“ (Kirchheimer 1966) lösten sie sich von der Repräsentation einer Klasse oder gesellschaftlichen Gruppe und fokussierten stärker auf die Wählerschaft als Ganzes. Die Mitglieder waren dabei aber zum größten Teil passiv (Spier 2011). Parteitage waren als Heerschauen oder mediale Ereignisse konzipiert, auf denen Tatkraft und Geschlossenheit demonstriert werden konnte (Müller 2002). Veränderungen oder Korrekturen der Parteistrategie werden somit weniger auf Parteitagen verhandelt und beschlossen, sondern vor allem durch enttäuschende Wahlergebnisse ausgelöst (Janda et al. 1995).
In den 1980er Jahren betraten die Grünen als neue Partei die Bühne. Sie verschrieben sich einem neuen Organisationsmodell, als Vertreter der neuen sozialen Bewegungen postulierten sie Basisdemokratie und bezeichneten sich als ‚Anti-Parteien-Partei‘ (Mende 2011). Da sie die etablierten Parteien ablehnten und die Interessen ihrer Basis in die Parlamente bringen wollten, spielte bei ihnen die Institution des Parteitags praktisch keine Rolle. Stattdessen kreierten sie neue organisatorische Regeln (z.B. Rotation von Mandaten, Trennung Amt und Mandat, kollektive Führung; Poguntke 1993), um die Steuerungs- und Korrekturfunktion der Basis sicherzustellen. Dieses Verständnis blieb selbst nach dem Abbau vieler dieser Regeln organisationskulturell verankert und sorgt dafür, dass die Grünen eine der wenigen Parteien sind, bei denen die Parteiführung durchaus Niederlagen für ihre Vorhaben auf Parteitagen kassieren kann (Switek 2012) – allerdings ohne dass dies ihre Stellung nachhaltig beschädigen würde.
Ein sehr ähnliches Modell legte die Mitte der 2000er Jahre auftauchende Piratenpartei zugrunde (Bieber und Leggewie 2012), der es ebenfalls um das möglichst getreue Abbilden der Präferenzen der Mitgliedschaft ging, allerdings nun unter den Vorzeichen neuer digitaler Technologien. Die Schwierigkeit bestand allerdings darin, dass ihr dabei eine klare thematische Ausrichtung fehlte, wie sie die Grünen angetrieben hatte (z.B. Umweltschutz, Gleichberechtigung, Rechte von Minderheiten). Wie vom Parteiengesetz gefordert wurden zwar Parteitage geschaffen, aber sie waren eigentlich irrelevant, da Willensbildung letztlich über die neu zu implementierenden Verfahren und Plattformen (z.B. Liquid Democracy) laufen sollen.
Der letzte bedeutende Neuzugang zum deutschen Parteiensystem war 2013 die Alternative für Deutschland, die wiederum einem neuen Organisationstyp entspricht (Lewandowsky 2015). Als populistische Partei ist die Kritik am ‚Kartell‘ der etablierten Parteien essentiell und deren Dominanz durch direktdemokratische Instrumente zu brechen, welche die Interessen des ‚wahren Volks‘ durchsetzen (Müller 2016). Trotz einiger Ähnlichkeiten in der Kritik an den anderen Parteien besteht ein großer Unterschied zu den Grünen darin, dass diese darauf zielten, ignorierte und unterschätzte Themen der Bewegungen auf die Agenda zu setzen, während die AfD den Einsatz der direkten Demokratie fordert, um den Einfluss der bestehenden Machtstrukturen zu beschneiden. Entsprechend nutzte die AfD die Möglichkeiten des Parteiengesetzes und führte die ersten Parteitage als Mitgliederversammlungen durch. Die Parteitage sind somit im Gesamtbild der Partei eine zentrale Instanz. Tatsächlich wurden hier wichtige Richtungsentscheidungen getroffen, wie etwa die Abwahl des Parteigründers und Vorsitzenden Bernd Lucke auf einem Parteitag in Essen 2015, der zu seinem Austritt aus der Partei führte und die Partei radikalisierte. Wie bei den Grünen zeigten sich aber in der Folge Schwierigkeiten, die Besonderheiten aufgrund der Rahmenbedingungen des Parteienwettbewerbs beizubehalten – inzwischen setzt die AfD auch auf Delegierten-Parteitage.
Statik und Wandel
Diese Organisationsverständnisse sind nicht statisch und verändern sich über Zeit, gerade auch wegen der Ausübung von Kontroll- und Korrektivfunktionen. Parteien können von einem Typ zu einem anderen wechseln. Bei den Grünen etwa schwächte sich der Aktivismus der sozialen Bewegungen mit der Zeit ab und es entstand eine Lücke, die andere innerparteiliche Akteure besetzten. Es waren vor allem die Parteiflügel und Strömungen (anfangs ein buntes Spektrum, welches dann in den Dualismus von Realos und Fundis mündete), die hier eine strukturierende Funktion für die Willensbildung übernahmen (Switek 2015), zugleich engagierte sich die Fraktion als ein Motor der Mäßigung (Hölscher 2015). Letzteres ist ein Phänomen, das in vielen westeuropäischen Demokratien zu sehen ist. Aufgrund ihrer Staatsnähe und finanziellen Ressourcen gewinnt das Gesicht der Partei in den öffentlichen Ämtern (‘party in public office’) gegenüber der Parteizentrale (‘party central office’) zunehmend an Einfluss (Katz und Mair 1993). Bei der Piratenpartei sieht man trefflich, wie die Leerstelle einer Korrektivfunktion dazu führte, dass den Fehlentwicklungen nicht gegengesteuert wurde und die Partei letztlich in die Bedeutungslosigkeit schrumpfte. Die von der Partei fokussierten Fragen der technischen-prozessualen Verarbeitung von politischen Themen ersetzte nicht einen gesellschaftlichen Konflikt, den eine Partei zu ihrer Festsetzung im Parteiensystem benötigt.
Interessant ist dieser Wandel vor allem Im Hinblick auf die beiden Großparteien Union und SPD. Als catch-all-parties und mit ihrer Fokussierung auf die Wählerschaft sind es vor allem schlechte Wahlergebnisse, die Kurskorrekturen auslösen. In der längerfristigen Entwicklung ergibt sich dadurch eine Verschiebung des Organisationsmodells und damit auch der Stellung der Parteitage und der Mitgliedschaft. Seit den goldenen 1970ern haben die beiden Parteien kontinuierlich Mitglieder verloren und auch bei den Wahlergebnissen zeigt der allgemeine Trend nach unten. Die Ergebnisse von um die 25 Prozent bei der Bundestagswahl 2021 verdeutlichen erkennbar die schwindende Dominanz. Als Konsequenz wenden sich die Parteien etwas kontraintuitiv gerade verstärkt ihrer Parteiorganisation und Mitgliedschaft zu, um die richtigen Strategien als Antworten auf diese Entwicklungen zu finden und orientieren sich dabei durchaus in Teilen an den Organisationsverständnissen der kleineren Parteien. Bei der SPD organisierte Generalsekretär Lars Klingebeil einen umfassenden Organisationsreformprozess, bei dem es vor allem um den Einsatz digitaler Instrumente zur Steigerung der Partizipation ging (Michels 2021). Auch bei wichtigen Kursentscheidung wie einem Eintritt in die Große Koalition, die in der Partei äußerst unpopulär war, wurde die Partei befragt, als Kombination aus Parteitag und Mitgliederentscheid. 2017 zeigte sich dabei deutlich ein Muster, warum es für Parteiführungen selbst strategisch sinnvoll sein kann, direkt die Basis anzusprechen und nicht die Funktionärsebene, die auf Parteitagen in der Regel überrepräsentiert ist (Höhne 2010). Ein SPD-Bundesparteitag gab im Januar 2018 nur mit einer knappen Mehrheit von 55 % grünes Licht für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union. Der Mitgliederentscheid zur Koalitionsvereinbarung zeigte mit 66 % hingegen eine deutlich positivere Stimmung gegenüber einer großen Koalition in der Gesamtpartei. Ein ähnlicher Wandel bei Prozessen der Willensbildung und Entscheidungsfindung zeigte sich bei der Besetzung der Parteispitze, bei der die stolze Traditionspartei nach Ende der Amtszeit von Sigmar Gabriel eine frustrierend hohe Zahl von Wechseln im Parteivorsitz hinnehmen musste. Auch hier war die Antwort ein Mitgliederentscheid und zugleich die Einführung einer Doppelspitze, wie sie bei Grünen, Linken und AfD existiert. Tatsächlich nutzten die Mitglieder diese Option für eine Richtungsentscheidung und verweigerten öffentlichkeitswirksam dem Bundesfinanzminister Olaf Scholz das Amt. Stattdessen übernahmen die Kritiker der Großen Koalition Saskia Esken und Norbert-Walter Borjans das Amt.
Ein ähnliches Muster zeigt sich bei der CDU, bei der nach dem Rücktritt Angela Merkels vom Parteivorsitz im Jahr 2018 (nach enttäuschenden Ergebnissen bei Landtagswahlen) ebenfalls Unklarheit über den weiteren strategischen Kurs herrschte. Das erkennbar nahende Ende der Amtszeit Merkels als Kanzlerin öffnete das Fenster für Diskussionen über den zukünftigen Kurs der Partei und wer diesen verkörpern sollte. Die Parteieliten konnten diese Frage unter sich nicht lösen und gaben die Entscheidung an die Partei weiter. Zunächst war es ein Parteitag, der sich knapp gegen Friedrich Merz und für Annegret Kramp-Karrenbauer als Favoritin von Merkel und damit für Kontinuität entschied. Nach ihrem Rücktritt im Jahr 2021 war es wieder ein knappes Ergebnis auf einem Parteitag, diesmal zwischen Merz und Armin Laschet, was wiederum mit der Wahl Laschets auf Kontinuität verwies. Nach der Wahlniederlage 2021 trat Laschet zurück, nun wählte man einen Mitgliederentscheid, um die Legitimität der Entscheidung und damit die Autorität des neuen Parteivorsitzenden zu erhöhen. Erst im dritten Anlauf setzte sich Merz endgültig mit einem deutlichen Ergebnis durch.
Gerade das Beispiel von Union und SPD verdeutlicht, wie der schleichende Wandel des grundsätzlichen Organisationsverständnisses die Stellung der Parteitage und die Prozesse der Willensbildung wie der Entscheidungsfindung verändert. Dabei sehen wir auch ein organisatorisches Lernen von den anderen Parteien, wie etwa das Beispiel der Grünen zeigt, die im Prozess ihrer Mäßigung mit den etablierten Parteiorganisationsmodellen konvergierten. Die Ausführungen haben außerdem verdeutlicht, wie das interne Konfliktniveau und die Fähigkeiten der Parteieliten, Kompromisse in zentralen Fragen zu schmieden, sich wiederum darauf auswirken, inwieweit konflikthafte Entscheidungen an die Delegierten eines Parteitages oder in einer Urwahl an alle Mitglieder weitergegeben werden.
Überraschenderweise waren es 2021 vor allem die Grünen, die hier aus der Reihe fielen und dabei aber dennoch den geschilderten Mechanismus eindrucksvoll bestätigten. Aufgrund der beliebten und geschätzten Parteiführung aus Annalena Baerbock und Robert Habeck (Campus et al. 2021), die ungewöhnlicherweise beide aus dem gleichen Parteiflügel stammen, verzichtete die Parteiorganisation ohne Murren auf die Mitsprache bei der Entscheidung über die Kanzler- bzw. Spitzenkandidaturen – noch in den beiden Wahlen zuvor war diese Frage durch aufwändige Mitgliederentscheide bestimmt worden. Die hohe Zufriedenheit und das niedrige Konfliktniveau schufen Vertrauen in die Parteiführung und erlaubten den beiden, die Frage unter sich bzw. im Vorstand auszuhandeln.
Fazit
Parteitage können durchaus zentrale Richtungsgeber für Parteien sein, aber sie sind es nicht so automatisch oder selbstverständlich, wie es die Lektüre des Parteiengesetzes insinuieren mag. Es gilt dabei weitere Kontextfaktoren heranzuziehen und diese Gremien im Gefüge der verschiedenen formalen und informalen Einflusszentren in einer Partei zu situieren. Zugleich verändern sich diese über Zeit, radikale Außenseiter nähern sich etablierten Mustern an, bestehende Parteien wiederum lassen sich in ihren Organisationsreformen von den Innovationen neuer Herausforderer inspirieren.
Literatur
Ulrich von Alemann / Philipp Erbentraut / Jens Walther: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland: eine Einführung, Wiesbaden 2018.
Christoph Bieber, Claus Leggewie (Hrsg.): Unter Piraten: Erkundungen in einer neuen politischen Arena, Bielefeld 2012.
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