Wovon wollen uns die Plattformen bloß überzeugen?
Einwurf zur Dogmatik der Meinungsfreiheit
Ein Nutzer des sozialen Netzwerks LinkedIn begehrte jüngst vor dem Kammergericht Berlin die Wiederherstellung mehrerer gelöschter Beiträge. LinkedIn hatte die Beiträge unter Hinweis auf eine AGB-Regelung, die Fehl- und Desinformationen zur Corona-Pandemie untersagte, entfernt. Der erkennende zehnte Senat hielt dem Begehren entgegen: „[A]uch die Beklagte wird durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt. Ihr ist das Recht zuzubilligen, auf den Kommunikationsprozess der Nutzer ihrer Plattform einzuwirken und Regeln aufzustellen.“ (10 U 95/24, S. 12)
Mit dieser Entscheidung nahm der Senat einen Faden wieder auf, den der BGH in seinen Facebook-Entscheidungen aus den Jahren 2021/2022 bereits gesponnen hatte – diesen Faden hätte er lieber liegen lassen sollen. Der BGH hatte – so die hier vertretene These – sowohl die Meinungsfreiheit als auch seine eigene frühere Rechtsprechung missverstanden. Zumindest insoweit (andere Kritikpunkte lasse ich beiseite) hat Dietrich Murswiek, der den Nutzer nun bei seiner Urteilsverfassungsbeschwerde vertritt, das Urteil des KG zu Recht beanstandet.
Zur Rekapitulation: Die Facebook-Urteile des BGH
Seinerzeit urteilte der III. Zivilsenat des BGH erstmals grundlegend über die rechtlichen Grenzen der privaten Inhaltsmoderation auf Facebook (III ZR 179/20; III ZR 192/29; III ZR 12/21). Im Zentrum stand die Frage, ob und in welchem Umfang die Betreiberin mittels AGB Kommunikationsregeln aufstellen und diese durchsetzen darf – obwohl sie sich vertraglich zur Veröffentlichung von Nutzerinhalten verpflichtet hatte.
Zugunsten der Betreiberin berief sich der BGH auf die Meinungsfreiheit:
„Zwar betreibt sie die Kommunikationsplattform in erster Linie nicht, um ihre eigene Meinung kundzutun, sondern um Dritten die Verbreitung von Meinungen und Informationen zu ermöglichen. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG schützt indessen auch den Kommunikationsprozess als solchen, weshalb die Mitteilung einer fremden Meinung oder Tatsachenbehauptung selbst dann in den Schutzbereich des Grundrechts fallen kann, wenn der Mitteilende sich diese weder zu eigen macht noch sie in eine eigene Stellungnahme einbindet. Ein soziales Netzwerk wie das der Beklagten macht den Meinungsaustausch unter nicht persönlich miteinander bekannten Personen erst möglich. Die Beklagte ist insoweit als Netzwerkbetreiberin eine “unverzichtbare Mittlerperson”. Bereits deshalb wird der Betrieb des sozialen Netzwerks vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst.“ (III ZR 179/20, Rn. 74)
Bis hierhin nichts Neues – das war bereits aus der Rechtsprechung zu Bewertungsportalen bekannt. Neu war jedoch der Zusatz:
„[D]urch das Aufstellen von Kommunikationsregeln in ihren Gemeinschaftsstandards [bringt die Betreiberin] zum Ausdruck, welche Formen der Meinungsäußerung sie in ihrem Netzwerk nicht duldet. Auf diese Weise macht sie von ihrem eigenen Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Ebenso weist die der Durchsetzung der Gemeinschaftsstandards dienende gezielte Entfernung einer fremden Meinungsäußerung den Charakter einer eigenen Meinungskundgabe auf.“ (III ZR 179/20, Rn. 74)
BGH missversteht seine eigene Rechtsprechung
Der BGH knüpfte in dieser Facebook-Entscheidung wiederum an eine ältere Rechtsprechungslinie des VI. Zivilsenats zu Bewertungsportalen an, die die Tätigkeit der Betreiber erstmals unter die Meinungsfreiheit subsumierte. Seit 2008 entschied der Senat wiederholt über Unterlassungs- und damit zusammenhängende Ansprüche betroffener Personen aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegen Betreiber solcher Portale. (vgl. VI ZR 196/08; VI ZR 358/13; VI ZR 123/16; VI ZR 30/17). Die Verfahren betrafen also gänzlich anders gelagerte Sachverhalte.
Diese Rechtsprechung adressierte eine spezifische Drei-Personen-Konstellation zwischen Kläger, Portalbetreiber als Beklagtem und bewertendem Nutzer: Weil die eigentlichen Verfasser von Bewertungen schwer greifbar waren, richteten sich die Klagen betroffener Personen regelmäßig gegen die Betreiber. Diese sollten als Störer haften.1) Vor Gericht standen sich dann Betreiber und bewertete Person gegenüber. Sie verhandelten de facto aber über die Zulässigkeit der Handlung (hier: Meinungsäußerung) des bewertenden Portalnutzers, der selbst nicht am Prozess beteiligt war. Es ging im Kern also nicht um den Ausgleich der Freiheitssphären von Kläger und Beklagtem, sondern um das Verhältnis zwischen bewertendem Nutzer und Bewertetem.
Dennoch gilt die Aufmerksamkeit des Zivilrechtsstreits – wie auch einer sich möglicherweise anschließenden Urteilsverfassungsbeschwerde – primär dem Konflikt der beteiligten Parteien. Die Meinungsfreiheit des bewertenden Nutzers hätte in dieser Konstellation eigentlich keine eigenständige Rolle gespielt. Im Rahmen der Drittwirkung wären zuvorderst die Wirtschaftsfreiheit des beklagten Portalbetreibers und das Persönlichkeitsrecht des Klägers, also des bewerteten Nutzers, in praktische Konkordanz zu bringen gewesen. Zur Beseitigung dieses blinden Flecks stellte der BGH zusätzlich zu den Wirtschaftsfreiheiten auch die betreibereigene(!) Kommunikationsfreiheit in die Abwägung ein. Er begründete dies mit einer Argumentationsfigur, die der Verwaltungsrechtler Meinhard Schröder zuvor im Verwaltungsarchiv entwickelt hatte:2) Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG schütze den Kommunikationsprozess als solchen und deshalb auch den Betreiber als „unverzichtbare Mittelsperson.“3)
Die Erweiterung des persönlichen Schutzbereiches war mithin – so meine Einschätzung – schlicht eine dogmatische Hilfskonstruktion, die der geschilderten Perspektivverengung im Parteienprozess geschuldet war. Ein Vergleich mit den Diskussionen um die Verfassungsmäßigkeit des NetzDG verdeutlicht dies. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz band die Betreiber sozialer Netzwerke intensiver in den Kampf gegen Hasskriminalität ein. In den Diskussionen ordnete man die betroffenen Grundrechtspositionen deutlich differenzierter den einzelnen Trägern zu. Für die Betreiber hielt man allein die Wirtschaftsfreiheiten für einschlägig. Die Meinungsfreiheit wurde klar dem sich äußernden Nutzer zugewiesen. Das alles, weil man die Perspektive eines abstrakten Normenkontrollverfahrens einnahm. Das Verfahren nimmt das abstrakte Gesetz ganzheitlich in den Blick und damit auch die betroffenen Akteure und ihre widerstreitenden Interessen. Der Parteienprozess verengt den Blick dagegen auf den konkreten Konflikt zwischen Kläger und Beklagtem.
Dogmatisch überzeugender, weil transparenter, wäre es m.E. gewesen, die Meinungsfreiheit des bewertenden Nutzers im Rahmen der Verhältnismäßigkeit i.e.S. zu berücksichtigen – und zwar unter dem Gesichtspunkt der Verstärkungswirkung. Die Figur der Verstärkungswirkung entwickelte das BVerfG in seiner Entscheidung Caroline v. Monaco II. Dort wurde das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer Mutter durch die Schutzdimension von Art. 6 GG verstärkt, die den Staat verpflichtet, die Lebensbedingung des Kindes zu sichern (Rn. 84 f.).4) Überträgt man diese Figur auf Bewertungsportale, ergibt sich eine Schutzpflicht des Zivilgerichts zugunsten der Meinungsfreiheit des bewertenden Portalnutzers. Diese verstärkt im Rahmen der Abwägung resp. des Freiheitsausgleichs die Wirtschaftsfreiheiten des Betreibers.
Eine solche Konstruktion hätte vermieden, dass der BGH in seinen Facebook-Entscheidungen – und nun auch das KG – dem sich äußernden Nutzer letztlich seine eigene Meinungsfreiheit entgegenhält. Seine eigene? Ja, schließlich ging es in den Entscheidungen zu den Bewertungsportalen (wie gezeigt) eigentlich um die Meinungsfreiheit des (bewertenden) Nutzers. Weil dieser nicht am Zivilrechtsstreit beteiligt war, gestand man kurzerhand dem Betreiber die Meinungsfreiheit zu. Aber nur zum Schutz der effektiv betroffenen Kommunikationsfreiheit des bewertenden Nutzers. Die Figur der Verstärkungswirkung hätte dies transparent gemacht und den BGH womöglich vor seinem Missverständnis bewahrt.
Missverständnis der Meinungsfreiheit: Schutz vertraglicher Kommunikationsregeln?
Bevor man Plattformbetreibern vorschnell den Schutz der Meinungsfreiheit abspricht, lohnt es, einen anderen Erklärungsansatz in Betracht zu ziehen. Auch dieser lässt sich den Facebook-Entscheidungen entnehmen. Er ist passgenauer auf die hiesige Sachverhaltskonstellation zugeschnitten. Danach soll bereits das Aufstellen und Durchsetzen vertraglicher Kommunikationsregeln selbst in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen. Die Überzeugungskraft dieses Ansatzes hängt jedoch von dem Grundrechtsverständnis ab, das man zugrunde legt. In Betracht kommen zwei Modelle: ein prozesshaftes und ein personales Verständnis.
Prozesshaftes Verständnis der Meinungsfreiheit
Laut BGH schützt Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG den „Kommunikationsprozess als solchen”. Die Formulierung erinnert an das prozessuale Verständnis der Meinungsfreiheit des verstorbenen Verfassungsrechtlers Helmut Ridder. Sein Schüler Karl-Heinz Ladeur rekonstruiert diesen Ansatz wie folgt:5) Die Meinungsfreiheit ist weniger individuelles Abwehrrecht, vielmehr soll sie gesellschaftliche Kommunikation als Teil des politischen Prozesses ermöglichen. Gewährt man diesem Prozess hinreichend Spielraum, organisiert er sich selbst. In der Kollision mit anderen Rechtsgütern bringt er eigene Regeln hervor, etwa journalistische Sorgfaltspflichten bei der Verdachtsberichterstattung. Die Gerichte sollen diese Regeln beachten, um eine konturlose Abwägung zu vermeiden.
Überträgt man dieses Verständnis auf Plattformen, könnten deren AGB als Ausdruck solcher „prozessimmanenten Regeln“ gelten, mithin den Schutz der Meinungsfreiheit genießen.6) Dazu passt die prominente These der amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kate Klonick, wonach Plattform-AGB letztlich das Produkt vielfältiger, nämlich zivilgesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Kräfte seien.
Allerdings spricht wenig dafür, dass der BGH sich bewusst in diese prozessuale Tradition einordnen wollte. Plausibler ist, dass er an einem personalen Verständnis der Meinungsfreiheit als individuellem Abwehrrecht festhalten wollte – im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG.
Personale Meinungsfreiheit i.S.d. BVerfG
Das BVerfG formulierte bereits in seinem Lüth-Urteil: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist […] unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft […]“ (Rn. 31). In diesen Randnummern des Lüth-Urteils klingt deutlich der Sound der Aufklärung: Geschützt wird die Meinungsfreiheit, damit der Einzelne durch ungestörte Teilnahme an der Praxis des Gründe-Nehmens und -Gebens eigene, handlungspraktische Überzeugungen – und letztlich Identität – ausbilden kann.
Folgt man diesem Grundrechtsverständnis, lassen sich weder vertragliche Kommunikationsregeln noch deren Durchsetzung als schutzfähige Meinungskundgabe deuten. Nach Lüth ist nur die geistige Wirkung einer Meinungsäußerung auf die Umwelt geschützt (Rn. 36 f.). Es geht darum, Gründe zu geben und zu nehmen – und das Gegenüber in diesem Prozess zu überzeugen.
Verträge zielen demgegenüber gerade nicht auf die Überzeugung des Vertragspartners, sondern auf dessen rechtliche Bindung. Sie setzen gerade nicht auf die geistige Wirkung, sondern auf Verbindlichkeit. Im Zweifel wird sich des staatlichen Zwangs bedient. Sie sind daher kein Akt freier, geistiger Kommunikation, sondern rechtlicher Steuerung.
Eine Subsumtion der Tätigkeit von Plattformbetreibern unter die Meinungsfreiheit lässt sich vor diesem Hintergrund nicht rechtfertigen.
Nicht intendierte (dogmatische) Folgeeffekte
Eine solche Subsumtion entspräche auch nicht dem Selbstverständnis der Betreiber. Sie begreifen sich gerade nicht als Produzenten der geteilten Inhalte, sie würden bloß die „platte Form“, also das Medium, zur Verfügung stellen. Dies soll dann die global geltenden Haftungsprivilegien rechtfertigen.7)
Das Haftungsrecht unterscheidet bei der Entscheidung über eine privilegierte Haftung danach, ob der Betreiber eine „aktive“ oder aber „passive“, rein vermittelnde Rolle spielt. Stuft man nun – wie BGH und KG – das Aufstellen und Durchsetzen von Kommunikationsregeln als Meinungskundgabe ein, könnte dies eine „aktive Rolle“ begründen.8)
Schließlich ließe sich an die Ausübung von (Meinungs-)Freiheit einfacher eine der „Natur“ der Freiheit entsprechende Verantwortlichkeit knüpfen – mit der Folge unprivilegierter Haftung.
Der Entfall des Haftungsprivilegs stünde aber im krassen Widerspruch zum Digital Services Act (DSA). Der DSA will seiner Gesamtkonzeption nach wohl kaum, dass (proaktive) Maßnahmen zur Einhaltung der AGB eine „aktive Rolle“ begründen.9) Dementsprechend hebt er in seinen Erwägungsgründen auch allein auf die unternehmerische Freiheit der Betreiber ab (vgl. ErwG 52).
Verfassungsbeschwerde i.E. also begründet?
Ob die eingangs genannte Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des zehnten Senats des KG Berlin allein aufgrund dieser Missverständnisse Erfolg haben wird, bleibt offen. Das Urteil müsste auf einer grundsätzlichen Fehleinschätzung in der Anwendung oder Abwägung der Grundrechte beruhen. Der Fehler muss also auch in seiner materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sein. Vieles spricht aber dafür, dass der Senat das Grundrecht nur beiläufig, schon fast gedankenlos erwähnte – ohne Konsequenz für das Ergebnis.
References
| ↑1 | Instruktiv dazu Wagner, GRUR 2023, 329, 335 ff. |
|---|---|
| ↑2 | VerwArch 2010, 205, 212 ff. |
| ↑3 | Eine Subsumtion unter die Medienfreiheiten aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG wurde vom BGH derweil nicht erwogen. Vgl. dazu aber Herdegen/Masing/ Poscher/Gärditz VerfassungsR-HdB/Schuler-Harms, 2021, § 25 Rn. 112, 117. |
| ↑4 | Freilich wird die Entscheidung durchweg als Fall der Schutzbereichsverstärkung bei Idealkonkurrenz von Grundrechten desselben Grundrechtsträgers diskutiert. |
| ↑5 | KJ 2020, 172-182. |
| ↑6 | Zieht man Ridder’s „Die soziale Ordnung des Grundgesetzes“ (1975) heran, ist ein solcher Schluss aber eher fernliegend. Schließlich dürfe „auch inter socios nichts […] kontrahiert […] werden, was [den] „Normbereich“ [des jeweiligen politischen Freiheitsrechts] verletzt.“ (S. 93) Ridder war Verfechter einer sehr restriktiven, aber gleichermaßen strengen Drittwirkungslehre. |
| ↑7 | Zu diesem Zusammenhang Daub, Was das Valley denken nennt, 4. Aufl. 2025, Kap. 2. |
| ↑8 | So der Autor an anderer Stelle gemeinsam mit Alexander Wehde (erscheint in NJW 2025). |
| ↑9 | So geht Hofmann davon aus, dass solche Maßnahmen ebenfalls die Rechtsfolge des Art. 7 DSA auslösen würden, vgl. Hofmann/Raue DSA, 2023, Art. 7 Rn. 21. |



