Wovon wollen uns die Plattformen bloß überzeugen?
Einwurf zur Dogmatik der Meinungsfreiheit
Ein Nutzer des sozialen Netzwerks LinkedIn begehrte jüngst vor dem Kammergericht Berlin die Wiederherstellung mehrerer gelöschter Beiträge. LinkedIn hatte die Beiträge unter Hinweis auf eine AGB-Regelung, die Fehl- und Desinformationen zur Corona-Pandemie untersagte, entfernt. Der erkennende zehnte Senat hielt dem Begehren entgegen: „[A]uch die Beklagte wird durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit geschützt. Ihr ist das Recht zuzubilligen, auf den Kommunikationsprozess der Nutzer ihrer Plattform einzuwirken und Regeln aufzustellen.“ (10 U 95/24, S. 12)
Mit dieser Entscheidung nahm der Senat einen Faden wieder auf, den der BGH in seinen Facebook-Entscheidungen aus den Jahren 2021/2022 bereits gesponnen hatte – diesen Faden hätte er lieber liegen lassen sollen. Der BGH hatte – so die hier vertretene These – sowohl die Meinungsfreiheit als auch seine eigene frühere Rechtsprechung missverstanden. Zumindest insoweit (andere Kritikpunkte lasse ich beiseite) hat Dietrich Murswiek, der den Nutzer nun bei seiner Urteilsverfassungsbeschwerde vertritt, das Urteil des KG zu Recht beanstandet.
Zur Rekapitulation: Die Facebook-Urteile des BGH
Seinerzeit urteilte der III. Zivilsenat des BGH erstmals grundlegend über die rechtlichen Grenzen der privaten Inhaltsmoderation auf Facebook (III ZR 179/20; III ZR 192/29; III ZR 12/21). Im Zentrum stand die Frage, ob und in welchem Umfang die Betreiberin mittels AGB Kommunikationsregeln aufstellen und diese durchsetzen darf – obwohl sie sich vertraglich zur Veröffentlichung von Nutzerinhalten verpflichtet hatte.
Zugunsten der Betreiberin berief sich der BGH auf die Meinungsfreiheit:
„Zwar betreibt sie die Kommunikationsplattform in erster Linie nicht, um ihre eigene Meinung kundzutun, sondern um Dritten die Verbreitung von Meinungen und Informationen zu ermöglichen. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG schützt indessen auch den Kommunikationsprozess als solchen, weshalb die Mitteilung einer fremden Meinung oder Tatsachenbehauptung selbst dann in den Schutzbereich des Grundrechts fallen kann, wenn der Mitteilende sich diese weder zu eigen macht noch sie in eine eigene Stellungnahme einbindet. Ein soziales Netzwerk wie das der Beklagten macht den Meinungsaustausch unter nicht persönlich miteinander bekannten Personen erst möglich. Die Beklagte ist insoweit als Netzwerkbetreiberin eine “unverzichtbare Mittlerperson”. Bereits deshalb wird der Betrieb des sozialen Netzwerks vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst.“ (III ZR 179/20, Rn. 74)
Bis hierhin nichts Neues – das war bereits aus der Rechtsprechung zu Bewertungsportalen bekannt. Neu war jedoch der Zusatz:
„[D]urch das Aufstellen von Kommunikationsregeln in ihren Gemeinschaftsstandards [bringt die Betreiberin] zum Ausdruck, welche Formen der Meinungsäußerung sie in ihrem Netzwerk nicht duldet. Auf diese Weise macht sie von ihrem eigenen Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Ebenso weist die der Durchsetzung der Gemeinschaftsstandards dienende gezielte Entfernung einer fremden Meinungsäußerung den Charakter einer eigenen Meinungskundgabe auf.“ (III ZR 179/20, Rn. 74)
BGH missversteht seine eigene Rechtsprechung
Der BGH knüpfte in dieser Facebook-Entscheidung wiederum an eine ältere Rechtsprechungslinie des VI. Zivilsenats zu Bewertungsportalen an, die die Tätigkeit der Betreiber erstmals unter die Meinungsfreiheit subsumierte. Seit 2008 entschied der Senat wiederholt über Unterlassungs- und damit zusammenhängende Ansprüche betroffener Personen aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegen Betreiber solcher Portale. (vgl. VI ZR 196/08; VI ZR 358/13; VI ZR 123/16; VI ZR 30/17). Die Verfahren betrafen also gänzlich anders gelagerte Sachverhalte.
Diese Rechtsprechung adressierte eine spezifische Drei-Personen-Konstellation zwischen Kläger, Portalbetreiber als Beklagtem und bewertendem Nutzer: Weil die eigentlichen Verfasser von Bewertungen schwer greifbar waren, richteten sich die Klagen betroffener Personen regelmäßig gegen die Betreiber. Diese sollten als Störer haften.1) Vor Gericht standen sich dann Betreiber und bewertete Person gegenüber. Sie verhandelten de facto aber über die Zulässigkeit der Handlung (hier: Meinungsäußerung) des bewertenden Portalnutzers, der selbst nicht am Prozess beteiligt war. Es ging im Kern also nicht um den Ausgleich der Freiheitssphären von Kläger und Beklagtem, sondern um das Verhältnis zwischen bewertendem Nutzer und Bewertetem.
Dennoch gilt die Aufmerksamkeit des Zivilrechtsstreits – wie auch einer sich möglicherweise anschließenden Urteilsverfassungsbeschwerde – primär dem Konflikt der beteiligten Parteien. Die Meinungsfreiheit des bewertenden Nutzers hätte in dieser Konstellation eigentlich keine eigenständige Rolle gespielt. Im Rahmen der Drittwirkung wären zuvorderst die Wirtschaftsfreiheit des beklagten Portalbetreibers und das Persönlichkeitsrecht des Klägers, also des bewerteten Nutzers, in praktische Konkordanz zu bringen gewesen. Zur Beseitigung dieses blinden Flecks stellte der BGH zusätzlich zu den Wirtschaftsfreiheiten auch die betreibereigene(!) Kommunikationsfreiheit in die Abwägung ein. Er begründete dies mit einer Argumentationsfigur, die der Verwaltungsrechtler Meinhard Schröder zuvor im Verwaltungsarchiv entwickelt hatte:2) Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG schütze den Kommunikationsprozess als solchen und deshalb auch den Betreiber als „unverzichtbare Mittelsperson.“3)
Die Erweiterung des persönlichen Schutzbereiches war mithin – so meine Einschätzung – schlicht eine dogmatische Hilfskonstruktion, die der geschilderten Perspektivverengung im Parteienprozess geschuldet war. Ein Vergleich mit den Diskussionen um die Verfassungsmäßigkeit des NetzDG verdeutlicht dies. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz band die Betreiber sozialer Netzwerke intensiver in den Kampf gegen Hasskriminalität ein. In den Diskussionen ordnete man die betroffenen Grundrechtspositionen deutlich differenzierter den einzelnen Trägern zu. Für die Betreiber hielt man allein die Wirtschaftsfreiheiten für einschlägig. Die Meinungsfreiheit wurde klar dem sich äußernden Nutzer zugewiesen. Das alles, weil man die Perspektive eines abstrakten Normenkontrollverfahrens einnahm. Das Verfahren nimmt das abstrakte Gesetz ganzheitlich in den Blick und damit auch die betroffenen Akteure und ihre widerstreitenden Interessen. Der Parteienprozess verengt den Blick dagegen auf den konkreten Konflikt zwischen Kläger und Beklagtem.
Dogmatisch überzeugender, weil transparenter, wäre es m.E. gewesen, die Meinungsfreiheit des bewertenden Nutzers im Rahmen der Verhältnismäßigkeit i.e.S. zu berücksichtigen – und zwar unter dem Gesichtspunkt der Verstärkungswirkung. Die Figur der Verstärkungswirkung entwickelte das BVerfG in seiner Entscheidung Caroline v. Monaco II. Dort wurde das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer Mutter durch die Schutzdimension von Art. 6 GG verstärkt, die den Staat verpflichtet, die Lebensbedingung des Kindes zu sichern (Rn. 84 f.).4) Überträgt man diese Figur auf Bewertungsportale, ergibt sich eine Schutzpflicht des Zivilgerichts zugunsten der Meinungsfreiheit des bewertenden Portalnutzers. Diese verstärkt im Rahmen der Abwägung resp. des Freiheitsausgleichs die Wirtschaftsfreiheiten des Betreibers.
Eine solche Konstruktion hätte vermieden, dass der BGH in seinen Facebook-Entscheidungen – und nun auch das KG – dem sich äußernden Nutzer letztlich seine eigene Meinungsfreiheit entgegenhält. Seine eigene? Ja, schließlich ging es in den Entscheidungen zu den Bewertungsportalen (wie gezeigt) eigentlich um die Meinungsfreiheit des (bewertenden) Nutzers. Weil dieser nicht am Zivilrechtsstreit beteiligt war, gestand man kurzerhand dem Betreiber die Meinungsfreiheit zu. Aber nur zum Schutz der effektiv betroffenen Kommunikationsfreiheit des bewertenden Nutzers. Die Figur der Verstärkungswirkung hätte dies transparent gemacht und den BGH womöglich vor seinem Missverständnis bewahrt.
Missverständnis der Meinungsfreiheit: Schutz vertraglicher Kommunikationsregeln?
Bevor man Plattformbetreibern vorschnell den Schutz der Meinungsfreiheit abspricht, lohnt es, einen anderen Erklärungsansatz in Betracht zu ziehen. Auch dieser lässt sich den Facebook-Entscheidungen entnehmen. Er ist passgenauer auf die hiesige Sachverhaltskonstellation zugeschnitten. Danach soll bereits das Aufstellen und Durchsetzen vertraglicher Kommunikationsregeln selbst in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen. Die Überzeugungskraft dieses Ansatzes hängt jedoch von dem Grundrechtsverständnis ab, das man zugrunde legt. In Betracht kommen zwei Modelle: ein prozesshaftes und ein personales Verständnis.
Prozesshaftes Verständnis der Meinungsfreiheit
Laut BGH schützt Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG den „Kommunikationsprozess als solchen”. Die Formulierung erinnert an das prozessuale Verständnis der Meinungsfreiheit des verstorbenen Verfassungsrechtlers Helmut Ridder. Sein Schüler Karl-Heinz Ladeur rekonstruiert diesen Ansatz wie folgt:5) Die Meinungsfreiheit ist weniger individuelles Abwehrrecht, vielmehr soll sie gesellschaftliche Kommunikation als Teil des politischen Prozesses ermöglichen. Gewährt man diesem Prozess hinreichend Spielraum, organisiert er sich selbst. In der Kollision mit anderen Rechtsgütern bringt er eigene Regeln hervor, etwa journalistische Sorgfaltspflichten bei der Verdachtsberichterstattung. Die Gerichte sollen diese Regeln beachten, um eine konturlose Abwägung zu vermeiden.
Überträgt man dieses Verständnis auf Plattformen, könnten deren AGB als Ausdruck solcher „prozessimmanenten Regeln“ gelten, mithin den Schutz der Meinungsfreiheit genießen.6) Dazu passt die prominente These der amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kate Klonick, wonach Plattform-AGB letztlich das Produkt vielfältiger, nämlich zivilgesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Kräfte seien.
Allerdings spricht wenig dafür, dass der BGH sich bewusst in diese prozessuale Tradition einordnen wollte. Plausibler ist, dass er an einem personalen Verständnis der Meinungsfreiheit als individuellem Abwehrrecht festhalten wollte – im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des BVerfG.
Personale Meinungsfreiheit i.S.d. BVerfG
Das BVerfG formulierte bereits in seinem Lüth-Urteil: „Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist […] unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft […]“ (Rn. 31). In diesen Randnummern des Lüth-Urteils klingt deutlich der Sound der Aufklärung: Geschützt wird die Meinungsfreiheit, damit der Einzelne durch ungestörte Teilnahme an der Praxis des Gründe-Nehmens und -Gebens eigene, handlungspraktische Überzeugungen – und letztlich Identität – ausbilden kann.
Folgt man diesem Grundrechtsverständnis, lassen sich weder vertragliche Kommunikationsregeln noch deren Durchsetzung als schutzfähige Meinungskundgabe deuten. Nach Lüth ist nur die geistige Wirkung einer Meinungsäußerung auf die Umwelt geschützt (Rn. 36 f.). Es geht darum, Gründe zu geben und zu nehmen – und das Gegenüber in diesem Prozess zu überzeugen.
Verträge zielen demgegenüber gerade nicht auf die Überzeugung des Vertragspartners, sondern auf dessen rechtliche Bindung. Sie setzen gerade nicht auf die geistige Wirkung, sondern auf Verbindlichkeit. Im Zweifel wird sich des staatlichen Zwangs bedient. Sie sind daher kein Akt freier, geistiger Kommunikation, sondern rechtlicher Steuerung.
Eine Subsumtion der Tätigkeit von Plattformbetreibern unter die Meinungsfreiheit lässt sich vor diesem Hintergrund nicht rechtfertigen.
Nicht intendierte (dogmatische) Folgeeffekte
Eine solche Subsumtion entspräche auch nicht dem Selbstverständnis der Betreiber. Sie begreifen sich gerade nicht als Produzenten der geteilten Inhalte, sie würden bloß die „platte Form“, also das Medium, zur Verfügung stellen. Dies soll dann die global geltenden Haftungsprivilegien rechtfertigen.7)
Das Haftungsrecht unterscheidet bei der Entscheidung über eine privilegierte Haftung danach, ob der Betreiber eine „aktive“ oder aber „passive“, rein vermittelnde Rolle spielt. Stuft man nun – wie BGH und KG – das Aufstellen und Durchsetzen von Kommunikationsregeln als Meinungskundgabe ein, könnte dies eine „aktive Rolle“ begründen.8)
Schließlich ließe sich an die Ausübung von (Meinungs-)Freiheit einfacher eine der „Natur“ der Freiheit entsprechende Verantwortlichkeit knüpfen – mit der Folge unprivilegierter Haftung.
Der Entfall des Haftungsprivilegs stünde aber im krassen Widerspruch zum Digital Services Act (DSA). Der DSA will seiner Gesamtkonzeption nach wohl kaum, dass (proaktive) Maßnahmen zur Einhaltung der AGB eine „aktive Rolle“ begründen.9) Dementsprechend hebt er in seinen Erwägungsgründen auch allein auf die unternehmerische Freiheit der Betreiber ab (vgl. ErwG 52).
Verfassungsbeschwerde i.E. also begründet?
Ob die eingangs genannte Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des zehnten Senats des KG Berlin allein aufgrund dieser Missverständnisse Erfolg haben wird, bleibt offen. Das Urteil müsste auf einer grundsätzlichen Fehleinschätzung in der Anwendung oder Abwägung der Grundrechte beruhen. Der Fehler muss also auch in seiner materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sein. Vieles spricht aber dafür, dass der Senat das Grundrecht nur beiläufig, schon fast gedankenlos erwähnte – ohne Konsequenz für das Ergebnis.
References
| ↑1 | Instruktiv dazu Wagner, GRUR 2023, 329, 335 ff. |
|---|---|
| ↑2 | VerwArch 2010, 205, 212 ff. |
| ↑3 | Eine Subsumtion unter die Medienfreiheiten aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG wurde vom BGH derweil nicht erwogen. Vgl. dazu aber Herdegen/Masing/ Poscher/Gärditz VerfassungsR-HdB/Schuler-Harms, 2021, § 25 Rn. 112, 117. |
| ↑4 | Freilich wird die Entscheidung durchweg als Fall der Schutzbereichsverstärkung bei Idealkonkurrenz von Grundrechten desselben Grundrechtsträgers diskutiert. |
| ↑5 | KJ 2020, 172-182. |
| ↑6 | Zieht man Ridder’s „Die soziale Ordnung des Grundgesetzes“ (1975) heran, ist ein solcher Schluss aber eher fernliegend. Schließlich dürfe „auch inter socios nichts […] kontrahiert […] werden, was [den] „Normbereich“ [des jeweiligen politischen Freiheitsrechts] verletzt.“ (S. 93) Ridder war Verfechter einer sehr restriktiven, aber gleichermaßen strengen Drittwirkungslehre. |
| ↑7 | Zu diesem Zusammenhang Daub, Was das Valley denken nennt, 4. Aufl. 2025, Kap. 2. |
| ↑8 | So der Autor an anderer Stelle gemeinsam mit Alexander Wehde (erscheint in NJW 2025). |
| ↑9 | So geht Hofmann davon aus, dass solche Maßnahmen ebenfalls die Rechtsfolge des Art. 7 DSA auslösen würden, vgl. Hofmann/Raue DSA, 2023, Art. 7 Rn. 21. |




Auch mir erscheint – in den Bewertungsportal-Fällen – die Anwendung der Meinungsfreiheit einer Plattform auf solche Äußerungen, die sich die Plattform gerade nicht zu eigen machen will und für die sie auch nicht durch gezielte Auswahl (wie es bei Leserbriefen in einer Publikation der Fall wäre) eine Verantwortung übernimmt, nicht ganz passend.
Gänzlich vermisse ich im Artikel aber das Konzept der negativen Meinungsfreiheit, also der Freiheit privater Akteure, Meinungen nicht zu äußern oder (gerade im Falle von Medien) zu veröffentlichen, wenn sie das nicht wollen. Im Hinblick auf die Inhaltsmoderation ist das meines Erachtens ein entscheidender Aspekt der Meinungsfreiheit der Plattformen.
Gleichwohl mag es bei – insbesondere marktbeherrschenden – Plattformen natürlich auch Gründe für Einschränkungen dieser Freiheit der Moderation geben.
(Dass sich eine Plattform durch die Moderation im Einzelfall aus ihrer Rolle als Mittler zurückzieht, begründet keine allgemeine Haftung für aktives Handeln hinsichtlich der weiterhin vermittelten Inhalte. Anders sähe es wohl aus, wenn sich etwa die Plattform de facto eine bestimmte Position zu eigen machen würde, indem sie nur dazu passende Meinungsäußerungen zulässt und abweichende Äußerungen unterbindet.)
Fair point bzgl. negative Meinungsfreiheit. Aber leiten Sie im Klammerzusatz nicht schon selbst die Antwort ein? Negative Meinungsfreiheit nur dann betroffen, wenn ich nicht erkennbar Mittler einer fremden Botschaft bin. Und Mittler wollen die Plattformen alle sein.
Dazu BVerfGE Band 95, 173, 182:
“Insoweit ist nicht die Meinungsbildung und Meinungsäußerung der Unternehmen, sondern ausschließlich deren Berufsausübung berührt.
Etwas anderes würde gelten, wenn die Warnhinweise [lies: Nutzerinhalte] nicht deutlich erkennbar Äußerung einer fremden Meinung wären, sondern dem Produzenten der Tabakerzeugnisse [lies: Plattformbetreiber] zugerechnet werden könnten. Würde einem Grundrechtsberechtigten die Verbreitung einer fremden Meinung als eigene zugemutet, so wäre die Freiheit der Meinungsäußerung (Art.5 Abs.1 Satz 1 GG) berührt.”
Das finde ich aber doch etwas zu kurz gegriffen: Ein Eingriff in die (negative) Meinungsfreiheit ist nicht allein deswegen zu verneinen, weil ich dazusagen darf, dass es sich um die Meinung eines anderen und nicht um meine eigene handelt.
Bedeutsam erscheint mir hier zudem die Unterscheidung zwischen dem (Meinungs-)Inhalt eines Produktes oder einer Dienstleistung und der Werbung für, Beschreibung durch den Anbieter oder auch Verpackung zumindest von Produkten und Leistungen, die gar keinen solchen Inhalt haben.
(Im Bereich der allgemeineren amerikanischen Redefreiheit, wo ich auf den negativen Aspekt – Stichwort “compelled speech” – erstmals aufmerksam geworden bin, ist meines Wissens ebenfalls bei Äußerungen mit rein werblichem oder gewerblichen Charakter mehr an staatlicher Regulierung zulässig als etwa bei der politischen Rede als einem Kernbereich dieses Freiheitsrechts.)
Das bringt auch das Bundesverfassungsgericht in der von Ihnen genannten Entscheidung zum Ausdruck: “Die Verpflichtung zu Warnhinweisen betrifft Produzenten und Händler von Tabakerzeugnissen beim Vertrieb ihrer Waren, nicht bei der Teilnahme am Prozeß der Meinungsäußerung und Meinungsverbreitung.”
Sowie: “Das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) kann für eine Wirtschaftswerbung allenfalls in Anspruch genommen werden, wenn die Werbung einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat oder Angaben enthält, die der Meinungsbildung dienen”
(Gleichwohl könnte man die Ansicht des Gerichtes, dass die Meinungsfreiheit gar nicht betroffen sei, bestreiten und stattdessen von einer zulässigen Beschränkung der negativen Meinungsfreiheit ausgehen – wie offenbar das Bundesgesundheitsministerium entsprechend seiner im Urteil wiedergegebenen Stellungnahme!)
In jedem Falle geht es, wenn im Zivilprozess auf Klägerseite die Meinungsfreiheit angeführt werden kann, stattdessen gerade um eine Mitwirkung der Plattform am Prozess der Meinungsäußerung und Meinungsverbreitung. Deswegen bleibe ich bei meinem Schluss, dass die Plattform diesem Argument grundsätzlich ihre eigene negative Meinungsfreiheit entgegensetzen kann.
(Ein “Medium” ist übrigens schon vom Wort her nichts anderes als ein Mittler, oder vielleicht Mittel. Verschiedene Arten der Informationsvermittlung – darunter Verlagspublikationen, Online-Plattformen, Hosting-Provider und Kommunikationsnetze – unterscheiden sich aber in der Art und Öffentlichkeit oder Privatheit der vermittelten Inhalte und in ihrer Auswahl, was sich auch auf potentielle Eingriffsbefugnisse der Anbieter und ihre Haftung auswirkt. Zusätzlich können dabei natürlich der Datenschutz und speziell das Post- und Fernmeldegeheimnis sowie andererseits ggf. die Pressefreiheit oder auch die Kunstfreiheit oder die Wissenschaftsfreiheit relevant sein …)
Verfassungsrechtsdogmatische KlippKlapp-Subsumtion – wie in meiner Antwort volllzogen – ist im Ergebnis immer zu kurz gegriffen, weil man noch nichts begriffen hat. Über eine solche Subsumtion werde ich aber auch jetzt nicht hinausgehen. Ich kann die hinter der Differenzierung, die die Dogmatik des BVerfG vornimmt, liegende Idee ad hoc nicht treffend genug explizieren. Ich unterstelle aber einfach, dass ich diese Differenzierung verstanden habe und sie etwas richtiges trifft.
Subsumtion:
Ich bin völlig bei Ihnen, dass der schlichte Verweis auf eine etwaige Distanzierungsmöglichkeit nicht ausreichen kann. Es kann nur darauf ankommen, ob potentielle Empfänger, also Teilnehmer des (politischen) Meinungskampfs, die Inhalte dem Plattformbetreiber zurechnen. Und meine Einschätzung dazu: NEIN, tun sie nicht. Und auch das Recht geht davon gerade nicht aus. Man begreift die Plattform nicht als Teilnehmer am politischen Meinungskampf. Inhalte auf der Plattform werden der Plattform gerade nicht als eigene zugerechnet, weshalb ihre rechtliche Verantwortlichkeit stark zurückgenommen ist. Die Tätigkeit der Plattform fällt demnach nicht in den Schutzbereich der (negativen) Meinungsfreiheit.
Social media wie Linkedin sind oft in der Rechtsform einer (ausländischen) Gesellschaft organisiert. Registrierte Nutzer können Mitglieder sein. Für das Innenverhältnis von manchen Gesellschaftsformen, wie etwa von Vereinen, zu ihren Mitgliedern sollen besondere Regeln gelten können. Eine gerichtliche Kontrolle soll hier teils nur eingeschränkt möglich sein. Grund soll der grundsätzliche Schutz der Freiheit der Vereinigung sein, oder ähnliches. So sollen mitunter grundsätzlich nur grundlegende Rechtsregeln wie etwa eine Gleichheitswahrung oder die Wahrung von Verhältnismäßigkeit überprüfbar sein, oder ähnliches.
Danke für den interessanten Beitrag! Eine Anmerkung: Das KG bezieht sich im Verfahren ja ausschließlich auf die Grundrechte der Charta, da das Unionsrecht ja diesen Bereich (Moderation wegen AGB-Verstoß) wohl auch vollständig determiniert. Angesichts dessen würde ich schon kritisieren, dass das Gericht in der Folge bedenkenlos auf die BGH-Rechtsprechung rekurriert.
Rechtsprechung des EuGH zu der Frage gibt es ja bisher, so weit ich das sehe, nicht. Relevant dürfte hingegen die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK sein (insbesondere Rs. 3111/10, Rn. 49f. – Yıldırım v. Türkiye; Rs. 201/17, Rn. 87f. – Magyar… v. Ungarn; grundlegend auch Rs. 22479/93, Rn. 49 – Öztürk v. Türkiye). Wie genau sich der Schutz der Intermediäre herleitet, bleibt in den Entscheidungen zwar etwas unklar – in der Entscheidung 201/17 klingt es fast nach Verstärkungswirkung. Dennoch scheint der EGMR im Ergebnis einen Schutz der Intermediäre selbst nach Art. 10 EMRK anzunehmen.
Bedeutet das für das hier diskutierte Verfahren nicht aber, dass sich insbesondere mit der Reichweite von Art. 10 EMRK, Art. 11 GRC und der Rechtsprechung des EGMR auseinanderzusetzen wäre – und die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 5 GG weniger von Gewicht ist?
Falls ja, passt deine dogmatische Kritik zu einem gewissen Grad natürlich auch auf diese Rechtsprechung. Andererseits entfiele damit das Argument, dass die Rechtsansicht des KG nicht mit höchstrichterlicher Rechtsprechung vereinbar sei. Mich würden deine Gedanken dazu interessieren!
Danke! Das hab ich tatsächlich übersehen. Nachfolgend aber der Versuch einer Antwort:
I. Den – ich nenne ihn mal – juristisch formalen resp. textlichen Maßstab habe ich damit verfehlt (zumindest soweit es die KG Entscheidung betrifft, welche den DSA zu berücksichtigen hatte):
Mir scheint naheliegend, dass der DSA in seinem Anwendungsbereich – und in diesen fällt der Fall vorm KG (hier insb. Art. 14 DSA) – eine „vollständige Vereinheitlichung intendiert“. Konsequenz dann: Maßstab GRCh (BVerfGE Band 152, 216, 246 ff. – Recht auf Vergessen II). Über Art. 52 Abs. 3 GRCh würde dann auch die Rspr. (ua d. EGMR) zur EMRK relevant. Das gilt insb. für Art. 11 GRCh, welcher die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie Art. 10 EMRK habe (vgl. nur EuGH Urt. v. 4.5.2016 – C-547/14, BeckRS 2016, 80849 Rn. 147).
II. Nun stellt sich die Frage, ob sich daraus auch ein „inhaltlich“ anderer Maßstab ergibt. Das ist schon institutionell nicht unwahrscheinlich: Institutionen mit unterschiedlichen Rechtstraditionen sind zur Auslegung autorisiert. Ich muss aber einräumen, dass ich mich in der Grundrechtsjudikatur im Mehrebenensystem nicht auskenne. Deshalb jetzt nur einige (nicht immer zusammenhängende) Überlegungen auf der Grundlage einer (zu) schnellen Lektüre von Grote/Wenzel in: Dörr ua (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 3. Aufl., Bd. 1, Kap. 18 (insb. Rn. 12, 33, 38, 40, 44):
1. In seiner Handyside-Entscheidung offenbart der EGMR ein dem BVerfG sehr ähnliches „Vorverständnis“ der Meinungsfreiheit:
„Das Recht der freien Meinungsäußerung stellt einen der Grundpfeiler einer solchen Gesellschaft dar, eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Entfaltung eines jeden Einzelnen. Vorbehaltlich der Bestimmung des Art. 10 Abs. 2 gilt dieses Recht nicht nur für die günstig aufgenommenen oder als unschädlich oder unwichtig angesehenen „Informationen“ oder „Ideen“, sondern auch für die, welche den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen. So wollen es Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit, ohne die es eine „demokratische Gesellschaft“ nicht gibt.“ (EGMR-E 1, 217, Rn. 49)
Zentral ist also auch für den EGMR die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen und die (damit zusammenhängende) konstitutive Bedeutung für die Demokratie. Das wurzelt gleichermaßen in der Aufklärung.
2. Der DSA selbst erklärt auf Seiten der Betreiber allein die unternehmerische, einschließlich der Vertragsfreiheit für einschlägig (vgl. bspw. ErwG 52). Meinungsfreiheit sowie Freiheit der Medien ordnet er indes den Nutzern zu (vgl. bspw. Art. 14 Abs. 4, ErwG 52 etc.).
3. Im Übrigen erachte ich für hilfreich, die vom BGH vorgeschlagenen Anknüpfungspunkte für die Meinungsfreiheit: Mittlerfunktion (a.) und Meinungsfreiheit qua Vertrag(sdurchsetzung) (b.) weiterhin auseinanderzuhalten.
a. Mittlerfunktion
Die Mittlertätigkeit gehört mE – wenn überhaupt – in den Schutzbereich der Medien-, nicht aber der Meinungsfreiheit. Erstere ist in der EMRK textlich aber nicht angelegt, weshalb eine Ausdifferenzierung auf Ebene der Rspr. erfolgen musste. Grote/Wenzel sprechen sich dafür aus (oder besser: antizipieren eine entsprechende Rspr. d. EGMR), auch technische Hilfstätigkeiten bei der Verbreitung von Inhalten mit in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK aufzunehmen. Aber deshalb, weil die EMRK weder Berufs- noch allg. Handlungsfreiheit kenne. Die GRCh ist differenzierter, sie kennt einerseits eine Medienfreiheit (Art. 11 Abs. 2), andererseits eine unternehmerische Freiheit (Art. 16).
Ihren Hinweisen zur Verstärkungswirkung konnte ich bis dato nicht weiter nachgehen. Danke aber dafür.
b. Meinungsfreiheit qua Vertrag(sdurchsetzung)
Deutlicher als in Lüth artikuliert das BVerfG in Blinkfuer, dass die von Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG geschützte Form d. Meinungsäußerung nur diejenige ist, die unmittelbar bloß geistige Wirkung zeitigt (BVerfGE Band 25, 256, 264 ff.).
Unter Art. 10 EMRK ist man da scheinbar großzügiger. Laut Grote/Wenzel hinge das aber (wiederum) damit zusammen, dass die EMRK weder eine Berufsfreiheit noch ein allgemeines Auffanggrundrecht kenne. Ergo: Eine Notlösung? Die GRCh ist textlich ausdifferenziert genug, um entsprechende Tätigkeiten anderen Freiheitsrechten zuzuordnen. Mit Blick auf das geteilte „Vorverständnis“ der Meinungsfreiheit (II. 1.) erachte ich diesen Weg für vorzugswürdig.
III. Von hier aus ließe sich womöglich weiterdenken?! Aber selbstverständlich käme man nicht drum herum, die Rspr. von EuGH und EGMR aufzuarbeiten.