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17 June 2025

Protection Nowhere

Zu „Sicheren Drittstaaten“ und dem Kommissionvorschlag vom 20. Mai 2025

Am 20. Mai 2025 hat die Europäische Kommission erneut einen Vorschlag zur Reform des Konzepts sicherer Drittstaaten vorgelegt. Ziel ist, die Ablehnung von Asylanträgen mit Verweis auf sichere Drittstaaten noch weitergehend als bisher zu ermöglichen.

Der Kommissionsvorschlag ist deshalb so umstritten, weil bei der Ablehnung eines Asylgesuchs aufgrund einer Drittstaatenregelung inhaltlich gar nicht geprüft wird. Stattdessen wird formal als unzulässig abgelehnt. Ob die betreffende Person schutzberechtigt ist oder nicht, ist erst einmal irrelevant. Abgelehnt und in der Konsequenz abgeschoben wird mit dem Argument, dass Schutz, wenn erforderlich, jedenfalls in dem Drittstaat gewährleistet werden könnte.

Mit Völkerrecht und Unionsrecht sind diese Pläne nur teilweise noch vereinbar. Ob die vorgesehene de factoAbschaffung des sog. Verbindungskriteriums völkerrechtlich zulässig ist, ist umstritten. Klar ist aber, dass diese Änderung diametral im Widerspruch zum Grundsatz der Verantwortungsteilung steht. Noch eindeutiger fällt die Bewertung der vorgesehenen Verkürzung des Rechtsschutzes aus. Hier werden die Standards des Art. 47 der Grundrechte-Charta (GRCh) und der verfahrensrechtlichen Dimension des Refoulement-Verbots unterschritten.

Das Konzept sicherer Drittstaaten im Europäischen Asylrecht

Das Konzept sicherer Drittstaaten ist ein Unterfall des Konzepts von Protection Elsewhere. Seit den 1980ern findenProtection Elsewhere Praktiken in der europäischen, nordamerikanischen und australischen Asylpolitik zunehmende und inzwischen umfassende Anwendung (ausführlich hier, Kapitel 28). Beim Konzept sicherer Drittstaaten (Safe Third Country, STC) ist das Argument, dass Schutz in einem Drittstaat nach einer Abschiebung gewährleistet werden könnte. Ergänzt wird dies meist durch das Konzept des Ersten Asylstaats (Country of First Asylum, CFA), das darauf verweist, dass bereits vor der Einreise Schutz in einem Drittstaat gewährleistet wurde.

Aktuell finden sich die zentralen Vorschriften zum Konzept sicherer Drittstaaten in der Asylverfahrensrichtlinie (RL (EU) 2013/32, AVR). Deren Art. 33 Abs. 2 lit. c regelt, dass ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt werden kann, wenn ein sicherer Drittstaat ermittelt werden kann. In Art. 38 AVR wird bestimmt, unter welchen Bedingungen ein Drittstaat als „sicher“ in diesem Sinne gilt.

Abs. 1 der zuletzt genannten Norm schreibt die Grundlagen fest: demnach kann ein Drittstaat nur dann „sicher“ sein, wenn erstens die Abschiebung in den Drittstaat das Refoulement-Verbot nicht verletzt, das heißt: wenn im Drittstaat weder Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention noch die Gefahr eines ernsthaften Schadens droht, wenn zweitens der Drittstaat selbst das Refoulement-Verbot achtet, das heißt: nicht in einen Viertstaat weiterschiebt, in dem Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht (sog. Kettenabschiebung), und wenn drittens die Möglichkeit besteht, im Drittstaat einen Asylantrag zu stellen und im Falle einer Anerkennung Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention zu erhalten.

Abs. 2 ff. des Art. 38 der Asylverfahrensrichtlinie regeln die Details, die im Einzelnen dem nationalen Recht unterliegen. Wichtig für die aktuelle Diskussion ist Abs. 2 lit. a, der das sog. Verbindungskriterium festlegt. Demnach ist eine Abschiebung in einen sicheren Drittstaat nur dann zulässig, wenn es eine „Verbindung zwischen dem Antragsteller und dem betreffenden Drittstaat“ gibt, aufgrund derer es „vernünftig erscheint, dass diese Person sich in diesen Staat begibt“. In der Praxis der Mitgliedstaaten werden hier vor allem Sprachkenntnisse, frühere Aufenthalte, Unterstützung durch Verwandtschaft oder andere sozioökonomische Verbindungen berücksichtigt.

Verschärfungen durch die Reform des Europäischen Asylsystems

Die Asylverfahrensverordnung (VO (EU) 2024/1348, AVO) von Mai 2024, die ab Juni 2026 Anwendung finden wird, sieht gegenüber der aktuellen Rechtslage bereits zahlreiche Verschärfungen vor. Zentrale Änderungen betreffen den Schutzstandard, der im Drittstaat erreicht werden muss, und den geographischen und persönlichen Schutzraum, der im Drittstaat verfügbar sein muss.

Erstens wird ausdrücklich erlaubt, auch solche Drittstaaten als „sicher“ anzusehen, die die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) nicht unterzeichnet haben. Stattdessen reicht nun „effektiver Schutz“ im Drittstaat aus. Was das bedeutet, orientiert sich an Richtlinien des UNHCR und ist in Art. 57 Abs. 2 AVO festgelegt. Konkret ist erforderlich, dass der Drittstaat den Aufenthalt der betreffenden Personen erlaubt, dass dort die Sicherung eines angemessenen Lebensstandards möglich ist, dass entsprechender Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung gewährt wird und dass dieser wirksame Schutz so lange verfügbar ist, bis eine dauerhafte Lösung gefunden werden kann.

Zweitens wird mit Art. 59 Abs. 2 AVO die Möglichkeit geschaffen, nur einen Teil des Territoriums eines Drittstaats als „sicher“ anzusehen oder einen bestimmten Drittstaat nur für eine bestimmte Personengruppe als „sicher“ anzusehen. In der Praxis kommt das oft vor. Angesichts dessen kann es nicht verwundern, dass die Kommission kürzlich vorgeschlagen hat, diese Neuregelung bereits jetzt anzuwenden.

Drittens legt Art. 59 Abs. 7 AVO fest, dass für diejenigen Drittstaaten, mit denen die EU ein Rückführungsabkommen im Sinne des Art. 218 AEUV geschlossen hat, eine Vermutung der Sicherheit gilt. Und schließlich, viertens, wird durch Art. 60, 63 und 64 AVO die Möglichkeit geschaffen, sowohl auf mitgliedstaatlicher als auch auf EU-Ebene Listen sicherer Drittstaaten festzulegen.

In der Kombination werden diese Änderungen voraussichtlich weitreichende Konsequenzen haben. Nach den neuen Regelungen können weitaus mehr Drittstaaten als „sicher“ eingestuft werden als bisher. Die Türkei etwa ist nur in Teilen ihres Territoriums für Kurd:innen sicher und hat die GFK nicht unterzeichnet. Dies wird künftig ausreichen. Entsprechend grundlegend fiel die Kritik von Akteur:innen wie dem European Council on Refugees and Exiles aus (siehe etwa hier, S. 97 ff.).

Weitere Verschärfung durch den neuen Kommissionsvorschlag

Doch nach den Vorstellungen des EU-Gesetzgebers reichen die bisher vorgesehenen Absenkungen der Standards noch nicht aus. Damit die Abschiebung Asylsuchender in Drittstaaten möglichst schnell, effizient und umfassend möglich wird, ist in Art. 77 AVO vorgesehen, dass die Kommission bis Juni 2025 weitere Vorschläge zur Reform des Drittstaatenkonzepts vorlegen soll.

Diesem politischen Auftrag ist die Kommission nun nachgekommen und ihre Antwort ist eindeutig: Da geht noch was. Hinsichtlich des Kriteriums der „Sicherheit“ des Drittstaats kommt sie zwar zum Ergebnis, dass insoweit schon mit der AVO die völkerrechtlichen Mindeststandards erreicht sind (hier, S. 2). Hinsichtlich des Kriteriums der „Verbindung“ zum Drittstaat und hinsichtlich der Rechtsschutzgarantien. Jedoch sieht sie noch Spielraum nach unten (hier, S. 3 ff.).

Konkret sieht der Vorschlag eine Änderung der AVO in zwei zentralen Punkten vor. Zum einen soll das sogenannte Verbindungskriterium de facto abgeschafft werden. Dieses ist bisher in Art. 59 Abs. 5 lit. b AVR festgeschrieben. Nach den Vorstellungen der Kommission soll nun alternativ zur Verbindung auch schon bloßer Transit oder das Bestehen eines Rückführungsabkommens – der englische Entwurfstext spricht bemerkenswerterweise von „agreement or arrangement“ – mit dem betreffenden Drittstaat genügen (hier, S. 16). Künftig soll eine Person auch dann ohne Prüfung ihres Asylgesuchs etwa nach Tunesien abgeschoben werden können, wenn sie dieses Land auf der Flucht durchreist hat – oder etwa nach Ruanda, wenn mit diesem Land ein Rückführungsabkommen besteht.

Zum anderen soll die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Fall der Ablehnung eines Asylgesuchs aufgrund einer Drittstaatsklausel abgeschafft werden (hier, S. 16). Bisher regelt Art. 68 Abs. 3 lit. b AVR eine recht enge Ausnahme von dem Grundsatz der aufschiebenden Wirkung. Diese Ausnahme soll nun nach dem Willen der Kommission dahingehend erweitert werden, dass auch Personen, deren Asylgesuch ohne inhaltliche Prüfung abgelehnt wurde, in einen Drittstaat abgeschoben werden können, schon bevor über ihren Rechtsbehelf entschieden ist.

Unbegleitete minderjährige Asylsuchende sind von den Neuerungen nur teilweise ausgenommen. So soll für sie das Bestehen eines Rückführungsabkommens nicht genügen. Transit allerdings soll ausreichen (hier, S. 16). Auch soll die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen bestehen bleiben – allerdings nur, wenn es sich um Grenzverfahren handelt.

Aus rechtlicher Sicht ist die zentrale Frage, ob der Vorschlag der Kommission tatsächlich am untersten Rand des völkerrechtlich und unionsprimärrechtlich Zulässigen entlangschrammt – oder ob er sich teilweise schon unterhalb dieses Rahmens bewegt. Wie immer bei juristischen Fragen ist hier mehr als eine Antwort möglich. Die Antwort der Kommission ist klar: alles im Rahmen des Zulässigen. Doch man kann es auch anders sehen. Tatsächlich sprechen überzeugende rechtliche Argumente dafür, dass der jüngste Vorschlag der Kommission an einigen Stellen über das Ziel hinausschießt.

Die de facto Abschaffung des Verbindungskriteriums

Hinsichtlich der de facto Abschaffung des Verbindungskriteriums sind zwei Ebenen zu unterscheiden. Die erste Ebene betrifft die grundsätzliche Frage, ob Drittstaatsklauseln völkerrechtlich überhaupt zulässig sind. Schon hier ist der Stand der Diskussion weniger eindeutig, als es der Kommissionsvorschlag darstellt. Die GFK, die New York Declaration for Refugees and Migrants und der Global Compact on Refugees schreiben internationale Kooperation, Solidarität und Verantwortungsteilung als Grundpfeiler fest. Manche sehen sogar ein völkerrechtliches Prinzip der Verantwortungsteilung im Entstehen. Praktiken von Protection Elsewhere, die ganz einseitig auf Verantwortungsauslagerung in ohnehin schon überlastete Staaten zielen, werden demnach von einigen grundsätzlich als völkerrechtswidrig angesehen.

Folgt man jedoch der derzeit überwiegenden Meinung, dass Drittstaatsklauseln grundsätzlich völkerrechtlich zulässig sind, ist die zweite Ebene, ob ein Verbindungskriterium zwingend erforderlich ist, und wenn ja, wie dieses ausgestaltet sein muss – insbesondere, ob bloßer Transit zur Begründung einer Verbindung oder als Alternative zu dieser ausreicht. Hier spielt derzeit der zentrale politische Streit. Die Kommission zieht sich zu diesem Punkt vollständig darauf zurück, dass ein Verbindungskriterium völkerrechtlich nicht erforderlich sei (hier, S. 2-4). Tatsächlich ist das eine weit verbreitete Lesart des Völkerrechts (ausführlich hier, S. 664-669). Doch es gibt auch eine andere Sichtweise – und diese hat überzeugende Argumente (siehe auch ECRE hier, S. 100).

Zum einen ist die Abschaffung des Verbindungskriteriums nicht mehr „good practice“ nach den Standards des UNHCR (ausführlich hier, S. 664-667 m.w.N.). Denn obwohl der UNHCR anerkennt, dass eine Verbindung völkerrechtlich nicht zwingend vorgeschrieben ist, bleibt er seit Jahrzehnten bei seiner Position, dass Abschiebungen in Drittstaaten nur unter der Voraussetzung einer Verbindung der betreffenden Person zu dem Drittstaat erfolgen sollen. Konkret fordert der UNHCR einen „meaningful link“ zwischen Antragsteller:in und Drittstaat, der etwa durch familiäre oder kulturelle Bindungen, Sprachkenntnisse, eine bereits vorliegende Aufenthaltserlaubnis oder vorigen Aufenthalt begründet werden kann (siehe nur hier 2016 und hier 2018). Grund hierfür ist, dass ein Transfer in einen völlig beliebigen Drittstaat in der Regel nicht nachhaltig im Sinne einer „sustainable solution to refugeehood“ ist und daher perspektivisch einen weiteren Transfer in einen „Viertstaat“ erfordert, was mit weiteren Umsetzungsschwierigkeiten einhergeht und oft schon praktisch gar nicht umsetzbar ist (hier, S. 9).

Zum anderen steht die Abschaffung des Verbindungskriteriums im Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu Art. 38 Abs. 2 AVR – und es ist noch unklar, welche Bedeutung diese Rechtsprechung nach neuer Rechtslage haben wird. Derzeit legt der EuGH das Verbindungskriterium des Art. 38 Abs. 2 AVR so aus, dass bloßer Transit gerade nicht ausreicht. In den Rechtssachen LH (Rn. 44-49) und FMS (Rn. 156-159) formuliert er eindeutig: „Der Umstand, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz das Gebiet eines Drittstaats durchreist hat, kann für sich genommen nicht die Annahme begründen, dass er vernünftigerweise in dieses Land zurückkehren könnte.“ Schaut man im Lichte dieser Rechtsprechung auf den Kommissionsvorschlag, wird das gesetzgeberische Geschick der Kommission deutlich. Denn wenn der Vorschlag vorsähe, dass eine „Verbindung“ auch im Fall bloßen Transits oder im Fall eines bestehenden Rückführungsabkommens vorliegt, wäre dies wohl unzulässig: Es ist nicht ersichtlich, weshalb es zulässig sein könnte, das Verbindungskriterium auf EU-Ebene in einer Weise zu definieren, die auf mitgliedstaatlicher Ebene unzulässig ist. Die Kommission macht es aber anders. Ihr Vorschlag sieht vor, dass alternativ zu einer „Verbindung“ auch bloßer Transit oder ein Rückführungsabkommen ausreicht. So wird die bisherige Rechtsprechung des EuGH vordergründig umgangen. Ob der EuGH dies mit sich machen lässt oder ob er den Neuerungen dadurch einen Riegel vorschiebt – etwa dadurch, dass er sich der völkerrechtlichen Mindermeinung anschließt –, bleibt abzuwarten.

Abschaffung der automatischen aufschiebenden Wirkung

Was die Abschaffung der automatischen aufschiebenden Wirkung von Rechtsbehelfen angeht, kann die Ansicht der Kommissionsjurist:innen selbst auf der Grundlage der herrschenden Meinungen im Völkerrecht und Unionsrecht nicht überzeugen.

Man stelle sich folgende Situation vor: Eine Person reist an der Außengrenze der EU ein und stellt einen Asylantrag. Dieser wird als unzulässig abgelehnt, weil die Person durch einen Drittstaat gereist ist, mit dem die EU ein Rückführungsabkommen geschlossen hat. Gegen den Ablehnungsbescheid legt die Person einen Rechtsbehelf ein. Dieser hat jedoch keine aufschiebende Wirkung, sodass sofort ein Abschiebungsbescheid ergeht. Daraufhin wird die Person in den Drittstaat abgeschoben, ohne dass die Ablehnungsentscheidung je gerichtlich geprüft wurde.

Im Raum stehen eine Verletzung des Refoulement-Verbots – das in Art. 4, 18 und 19 GRCh, Art. 2 EUV, Art. 78 AEUV, Art. 33 Abs. 1 GFK, Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und weiteren völkerrechtlichen Instrumenten verankert ist – sowie des Rechts auf effektiven Rechtsschutz – das sich aus Art. 47 GRCh, der verfahrensrechtlichen Dimension des Refoulement-Verbots aus Art. 3 EMRK und letztlich auch Art. 2 EUV ergibt.

Die Kommission begründet ihre Ansicht im Wesentlichen mit zwei Argumenten. Zum einen sei eine automatische aufschiebende Wirkung gar nicht notwendig, weil die aufschiebende Wirkung ja jederzeit beantragt werden könne. Zum anderen werde die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen den Abschiebungsbescheid nicht berührt. Daher gebe es gar kein Problem (hier, S. 10-11).

Keines dieser beiden Argumente überzeugt. Dass es jeder Person freistehe, die aufschiebende Wirkung zu beantragen, stimmt ausschließlich in der Theorie. Denn wer auch nur einmal mit einer:m Anwält:in gesprochen hat, die an der spanischen, italienischen, ungarischen, polnischen oder griechischen Außengrenze tätig ist, weiß: In der Praxis gibt es nicht ausreichend Anwält:innen, die diese Arbeit machen, nicht ausreichend Geld, diese zu bezahlen, und nicht ausreichend Zeit, all die erforderlichen Anträge innerhalb der jeweils sehr kurzen Fristen zu stellen. Dass die Kommission von ihrem eigenen Argument nicht überzeugt ist, zeigt sich schon daran, dass sie selbst davon ausgeht, dass die Abschaffung der automatischen aufschiebenden Wirkung zur Verfahrensbeschleunigung führt. Wenn jede Person einfach die aufschiebende Wirkung beantragen würde, wäre von dieser Verfahrensbeschleunigung nicht mehr viel übrig. Hinzu kommt die Komplexität der behördlichen Vorgänge. In der Praxis wird die antragstellende Person in der Regel einen Brief erhalten, in dem ein oder zwei Zettel (vgl. Art. 37 AVO) liegen und aus dem insgesamt hervorgeht, dass der Asylantrag abgelehnt und die Rückführung angeordnet wird. Außerdem wird mitgeteilt werden, dass Rechtsbehelfe zulässig sind, dass aber nur derjenige gegen die Rückführungsentscheidung automatische aufschiebende Wirkung hat. Hiermit so umzugehen, dass die Rechte der betreffenden Person gewahrt werden, erfordert eine juristische Ausbildung. All diejenigen, die nicht anwaltlich vertreten sind, werden kaum eine Chance haben, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, bevor sie abgeschoben werden.

Die Abschaffung des automatischen Suspensiveffekts wird also in der Praxis regelmäßig dazu führen, dass Personen abgeschoben werden, bevor ein Gericht die Ablehnungsentscheidung überprüft hat. Das stellt eine klare Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 47 GRCh dar und begründet das Risiko einer Verletzung des Refoulement-Verbots. Denn immer dann, wenn abgeschoben wird, obwohl die Ablehnungsentscheidung rechtswidrig war, wird die betreffende Person in eine Situation verbracht, in der ihr Verfolgung oder ernsthafter Schaden drohen kann.

Auf diese Probleme haben sowohl UNHCR als auch Zivilgesellschaft und einige Mitgliedstaaten während des Konsultationsprozesses mit der Kommission hingewiesen (hier, S. 9). Es ist bezeichnend, dass die Kommission diese Bedenken mit dem Hinweis beiseiteschiebt, es müssten potentiell missbräuchliche Rechtsbehelfe verhindert und Verfahren beschleunigt werden (hier, S. 5). Verfahrensbeschleunigung rechtfertigt keine Grundrechtsverletzungen. Und „missbräuchliche“ Rechtsbehelfe als solche gibt es nicht – denn das Recht, einen Rechtsbehelf einzulegen, besteht auch dann, wenn der Rechtsbehelf letztlich nicht erfolgreich ist. Gerade das garantiert Art. 47 GRCh. Das Refoulement-Verbot ist verletzt, sobald eine Person in einen für sie unsicheren Drittstaat abgeschoben ist – genau das droht aber, wenn vor einer Gerichtsentscheidung abgeschoben wird.

Schutz „Anderswo“ ist politisch keine nachhaltige Strategie

Ob der Kommissionsvorschlag sich gerade noch im Rahmen des rechtlich Zulässigen bewegt, ist die eine Frage. Die andere ist, ob es politisch klug und gesellschaftlich nachhaltig ist, auf immer effektiveren Grenzschutz und immer weitere Externalisierung asylrechtlicher Verantwortung zu setzen.

Das Scheitern des australischen Modells und des UK-Ruanda-Deals sprechen dagegen. Solch eine Politik geht letztlich auf Kosten von Menschenleben. Migration – und ja, auch Fluchtmigration – ausschließlich als Bedrohung statt als Chance für die Aufnahmegesellschaften zu sehen, ist kurzsichtig. Es gibt kreativere, nachhaltigere und mutigere Lösungen, als Grenzen zu schließen und auf effektive Rückführungen zu setzen. Angesichts der Wanderungsbewegungen des 21. Jahrhunderts kann keine Gesellschaft langfristig die Politik verfolgen, sich abzuschotten, ohne ihre eigene Menschlichkeit zu verraten.

Das gilt erst recht für ein Europa, das sich den hehren Werten des Art. 2 EUV verschrieben hat. Und so wird die politische Frage letztlich auch eine verfassungsrechtliche. Welche Asylpolitik ist mit den unionsverfassungsrechtlichen Grundlagen noch vereinbar? Gibt es auf EU-Ebene einen Kern der Verfassungsidentität, der gewahrt werden muss? Und was sind die rechtlichen Folgen, wenn das nicht mehr der Fall ist?


SUGGESTED CITATION  Ziebritzki, Catharina: Protection Nowhere: Zu „Sicheren Drittstaaten“ und dem Kommissionvorschlag vom 20. Mai 2025, VerfBlog, 2025/6/17, https://verfassungsblog.de/protection-nowhere/, DOI: 10.59704/fdac6e7dfb88e777.

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