27 February 2024

Abschreckung um jeden Preis?

Wie die britische Safety of Rwanda Bill mit rechtsstaatlichen Grundsätzen bricht

Zurzeit berät das Oberhaus des britischen Parlaments (House of Lords) die sog. Safety of Rwanda Bill. Zusammen mit dem Illegal Immigration Act soll dieses Gesetz die Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda ermöglichen, um dort deren Asylverfahren durchzuführen. Während entsprechende Pläne auch in Deutschland Anklang finden, zeigt das Gesetzesvorhaben in bedenkenswerter Deutlichkeit, welche rechtsstaatlichen Konsequenzen mit einem solchen Outsourcing von Asylverfahren verbunden sind. Denn um einen möglichst wirksamen Abschreckungseffekt auf andere Flüchtende zu erzielen, haben die britische Regierung und das Unterhaus des Parlaments (House of Commons) bereits dafür gestimmt, Tatsachen zu erfinden, Grundrechte außer Kraft zu setzen und internationales Recht zu brechen.

Abschreckung durch Outsourcing

Die Begrenzung irregulärer Migration ist in der allgemeinen politischen Grundstimmung zu einem Hauptziel britischer (und deutscher) Regierungspolitik geworden. Dabei ist der Vorschlag, Asylverfahren in Drittstaaten durchzuführen, aus der Einsicht geboren, dass in einem nach rechtsstaatlichen Prinzipien strukturierten Sozialstaat letztlich keine Bedingungen geschaffen werden können, die Menschen dazu bringt, trotz aller Gewalt, Armut und Verzweiflung in ihren Herkunftsländern zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren.

Denn bei Beachtung rechtsstaatlicher Verfahrens- und Grundrechte, eröffnet das Recht auf Asyl (bzw. subsidiären Schutzes) für einen begrenzten Personenkreis eine längerfristige Bleibeperspektive. Daneben besteht eine zumindest vorübergehende Aufenthaltsperspektive für alle nicht Schutzberechtigten während der Zeit ihres behördlichen und gerichtlichen Anerkennungsverfahrens. So betrug in Deutschland im Jahr 2023 die durchschnittliche Verfahrensdauer beim BAMF zwar „nur“ 6,8 Monate, doch brauchten die Verwaltungsgerichten durchschnittlich 17 Monate für eine Entscheidung. Zuletzt ist auch das Risiko einer Abschiebung aufgrund des bestehenden Vollzugsdefizits überschaubar.

Nicht nur in Großbritannien möchte man Asylverfahren daher in Drittstaaten auslagern, um –mit fragwürdiger Erfolgswahrscheinlichkeit – andere Flüchtlinge von einer Einreise abzuschrecken. Dafür muss einerseits das aufnehmende Drittland hinreichend unattraktiv sein. Schließlich dürfte eine Abschiebung in die Schweiz Flüchtlinge kaum von der Überquerung des Mittelmeers (oder des Ärmelkanals) abhalten. Aus rechtlicher Sicht schafft dies die Herausforderung, ein hinreichend instabiles Land zu finden, welches gleichzeitig die Einhaltung asylrechtlicher Minimalstandards garantiert.

Anderseits muss es möglich sein, einreisende Asylbewerber umgehend und ausnahmslos in den Drittstaat abzuschieben. So fordert bspw. Jens Spahn, entsprechende Abschiebungen binnen 48 Stunden vorzunehmen und „acht Wochen lang konsequent durch(zu)ziehen“. Eine Abschiebung innerhalb dieser Zeit kann jedoch – zumindest bei realistischem Ressourceneinsatz – nur erreicht werden, wenn Asylbewerbern jegliche Möglichkeit genommen wird, ihre Abschiebung in das Drittland durch gerichtlichen Rechtsschutz hinauszuzögern.

Mit der Safety of Rwanda Bill sollen diese beiden Herausforderungen bewältigt werden. Dafür wird einerseits – entgegen allen anderen Einschätzungen – Ruanda zu einem sicheren Partnerstaat erklärt, in welchem bedenkenlos Asylverfahren durchgeführt werden können. Andererseits werden Grundrechte außer Kraft gesetzt und internationales Recht gebrochen, um einen möglichst wirksamen Abschreckungseffekt auf Flüchtende zu erzielen.

Die Sicherheit Ruandas und die faktische Kraft des Normativen

Nachdem die britische Regierung zunächst im April 2022 mit Ruanda ein entsprechendes Asylabkommen geschlossen hatte, hat der britische Supreme Court im November 2023 mit der Entscheidung R (AAA) v Secretary of State for the Home Department dieses Vorhaben vorläufig gestoppt. Denn in Ruanda drohe Asylbewerbern unter Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (principle of non-refoulement) eine Abschiebung in ihr Herkunftsland.

Detailliert zeigte das Gericht dabei die strukturellen Mängel des ruandischen Asylsystem auf. So hat Ruanda im Zeitraum von Januar 2019 bis Juni 2022 nur ca. 152 Asylfälle bearbeitet, die weit überwiegend benachbarte Länder betrafen. Erfahrung mit Fällen aus Ländern, die regelmäßig im Vereinigte Königreich zu bearbeiten sind (Albanien, Iran, Irak, Pakistan, Vietnam), konnten die ruandischen Behörden kaum oder gar nicht vorweisen. Ähnlich problematisch beurteilten die Richterinnen und Richter, dass die ruandische Schutzquote für Asylbewerber aus Afghanistan und Syrien im Zeitraum 2020-2022 bei 0 % lag, während sie für denselben Zeitraum im Vereinigten Königreich zwischen 74 % (Afghanistan) und 98 % (Syrien) betrug.

Konsequenterweise hätte die Regierung also entweder zugeben müssen, dass Ruanda selbst asylrechtlichen Minimalstandards nicht genügt oder die strukturellen faktischen Probleme in Ruanda beheben müssen. Dass dies noch bis zur nächsten Wahl gelingen dürfte, erschien jedoch wenig aussichtsreich. Um dennoch das Abschreckungsziel möglichst rasch zu erreichen und Ruanda als sicheren Drittstaat zu präsentieren, wurde die Safety of Rwanda (Asylum and Immigration) Bill im Schnellverfahren am 17. Januar 2024 vom House of Commons verabschiedet und dem House of Lords überwiesen. Auf diese Weise soll die Bewertung des Supreme Courts zur menschenrechtlichen Lage in Ruanda mit einer rechtlichen Fiktion umgangen werden.

Demnach bestimmt Clause 2, dass Ruanda unbesehen aller anderen Einschätzungen von jedem behördlichen oder gerichtlichen Entscheidungsträger als sicheres Drittland behandelt werden muss. Jegliche Einwände eines Asylbewerbers, dass er in Ruanda kein rechtsstaatliches Asylverfahren durchlaufen würde, dass ihm dort Zurückweisung trotz Verfolgung drohe oder dass Ruanda sich nicht an die mit Großbritannien vereinbarten Grundrechtsstandards halte, wären damit in gerichtlichen Verfahren unzulässig.

Ein hinreichendes instabiles Land, das gleichzeitig einen asylverfahrensrechtlichen Minimalstandard bereithält, kann also nur durch eine Fiktion erzeugt werden. Aus institutioneller Sicht ist dabei bezeichnend, dass das House of Commons auf die Einschätzung des Supreme Courts zur Ungeeignetheit Ruandas nicht mit einer Anpassung der Rechtslage reagiert, sondern es dessen faktische Bewertung schlichtweg für irrelevant erklären möchte. Diese Logik birgt die Gefahr, dass das Parlament die Tatsachen für die Gesetzesanwendung selbst bestimmt. Zudem greifen solche absoluten Fiktionen die Rechtsunterworfenen in ihrer Subjektstellung an, indem ihnen jegliche Möglichkeit genommen wird, aufzuzeigen, dass in ihrem Falle die normative Tatsachenhypothese nicht mit der realen Seins-Lage übereinstimmt und sie so zum bloßen Objekt staatlicher Rechtsanwendung werden.

Außerkraftsetzung von Grundrechten

Doch mit der Subjektstellung von Individuen nimmt es die Rwanda Bill nicht so genau. Denn selbst wenn ein geeigneter Drittstaat entgegen aller Bedenken für sicher erklärt worden ist, käme der Abschreckungseffekt zum Erliegen, wenn Asylbewerber ihre Abschiebung unter Berufung auf ihre Grundrechte hinauszögern könnten.

Daher sieht Clause 3 vor, dass das Gesetz unbesehen der Grundrechte des Human Rights Acts 1998 (HRA 1998) Anwendung finden soll. Dabei ist der Human Rights Act das zentrale Grundrechtsdokument im Vereinigten Königreich, welches die Rechte der EMRK in nationales Recht inkorporiert.

Grundsätzlich könnten Asylbewerber, denen bei Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde (Art. 3 EMRK), mit Hilfe von sec. 2 HRA 1998 i.V.m. Art. 13 EMRK innerstaatlichen Rechtschutz verlangen. Ausländern, denen bei der Abschiebung eine Verletzung von Art. 2, 3 EMRK oder Art. 4 Prot. No. 4 droht, muss zudem ein Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung zur Verfügung stehen (vgl. st. Rspr. EGMR Hirsi Jamaa and Others v. Italy). Im Rahmen eines solchen Rechtsschutzverfahrens müssten britische Gerichte die menschenrechtliche Situation in Ruanda bewerten (vgl. zu Brasilien: EGMR, De Souza Ribeiro v France). Wenn jedoch Asylbewerber unter Berufung auf ihre Konventionsrechte für die Dauer des Rechtsschutzverfahrens im Inland verbleiben könnten, würde dies die sofortige Abschiebung in ein Drittland erheblich verzögern und somit den Abschreckungseffekt konterkarieren.

Um einen solchen grundrechtlich gestützten Rechtsschutz auszuschließen, gilt nach Clause 3, subs. 5 die Außerkraftsetzung des HRA 1998 für alle behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen, welche die Sicherheit von Ruanda betreffen. Grundrechte müssen bei der Anordnung der Abschiebung nach Ruanda somit nicht beachtet werden. Gegen den Willen weiter Teile der Conservative Party und auf Drängen Ruandas ermöglicht zwar Clause 4 der Safety of Rwanda Bill unter hohen beweisrechtlichen Hürden, vorzubringen, dass Ruanda in begründeten Einzelfällen nicht sicher sei. Eine Berufung auf strukturelle Verfolgung oder grundsätzliche Defizite im Asylsystem sind jedoch explizit ausgeschlossen. Doch gerade diese hatte der Supreme Court ja angemahnt.

Was für deutsche Verfassungsrechtler wie ein Albtraum klingt, ist im Vereinigten Königreich möglich, da es unter dem Grundsatz der Parlamentssouveränität keine Normenhierarchie gibt. Gemäß dem Grundsatz lex posterior derogat legi priori ist es dem Parlament möglich, lästige Grundrechte schlicht für unanwendbar zu erklären. Eine solche substanzielle Aufweichung des Grundrechtsschutzes ist dabei bereits vom Migrationsrecht in andere Rechtsbereiche übergeschwappt. So sollen nach einem ebenfalls im Parlament befindlichen Gesetzesvorschlag britische Gefangene künftig Entscheidungen ausgesetzt sein, die ohne Rücksicht auf ihre Grundrechte ergehen dürfen.

Bruch mit der EMRK

Zuletzt wird auch der EGMR als letzte Bastion des Grundrechtsschutzes von der Safety of Ruanda Bill ausgeschaltet. Denn dieser könnte über Art. 39 EGMR-VerfO einstweiligen Rechtsschutz gegen die Abschiebung gewähren und für diese Zeit den Aufenthalt von Asylbewerbern im Vereinigten Königreich anordnen.

Daher sieht Clause 5 vor, dass Maßnahmen des EGMR im einstweiligen Rechtsschutz, welche die Abschiebung von Asylbewerbern nach Ruanda betreffen, nur dann Anwendung finden, wenn ein Regierungsmitglied (Minister of the Crown) dies anordnet. Nationale Gerichte, die über Beschwerden von Asylbewerbern entscheiden, dürfen ohne eine solche Anordnung dem Rechtsschutzbefehl des EGMR nicht Folge leisten.

Hintergrund dieser Regelung dürfte die Entscheidung des EGMR vom 14. Juni 2022 in der Sache K. N. v. United Kingdom sein. Hierzu hatte der EGMR entschieden, dass ein irakischer Asylbewerber bis zur abschließenden Entscheidung englischer Gerichte nicht nach Ruanda ausgeflogen werden dürfe, da nicht sichergestellt sei, dass er in Ruanda ein rechtsstaatliches Asylverfahren durchlaufen würde.

Die nun beabsichtigte Regelung ist nicht nur aus Gründen der Gewaltenteilung fragwürdig, sondern widerspricht auch den internationalen Verpflichtungen, die das Vereinigte Königreich unter der EMRK hat. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 34 EMRK haben alle Vertragsstaaten Maßnahmen im einstweiligen Rechtsschutz nachzukommen (vgl. EGMR, Mamatkulov and Askarov v. Turkey). Der EGMR dürfte daher in einer Anordnung unter Clause 5, dass dessen Maßnahme im einstweiligen Rechtsschutz zu ignorieren sei, eine Verletzung von Art. 34 EMRK sehen. Das dürfte jedoch von der britischen Regierung eingepreist sein. Denn einerseits dürfte mit einer finalen Entscheidung durch den EGMR aufgrund der langen Verfahrensdauer nicht mehr vor der Wahl in diesem Jahr zu rechnen sein. Erklärt der EGMR die Safety of Rwanda Bill zudem für konventionswidrig könnte dies nur als weiteres Argument verwendet werden, aus der EMRK auszutreten oder den Einfluss des EGMR insgesamt zu beschneiden. Dies wurde bereits mit der (gescheiterten) Bill of Rights Bill (2022) beabsichtigt.

Der Preis der Abschreckung

Die Safety of Rwanda Bill macht also deutlich, welcher menschenrechtliche Preis für eine Abschreckungslösung mittels Drittstaatsabkommen zu zahlen ist. Schließlich funktioniert Abschreckung nur, wenn Bedingungen geschaffen werden, die signifikant unter europäischen rechtstaatlichen Standards liegen. Wirksam kann Abschreckung zudem nur sein, wenn Asylbewerbern praktisch keine Möglichkeit verbleibt, Individualrechtschutz gegen ihre Abschiebung zu erreichen. Zum Schutz rechtsstaatlicher Grundwerte im Vereinigten Königreich bleibt daher zu hoffen, dass das House of Lords dem Gesetzesvorhaben nicht zustimmt. Ebenfalls zu hoffen ist, dass der britische Ansatz, ein geeignetes Drittland zu erfinden und Menschen unter Verzicht auf jeglichen substantiellen Rechtsschutz dorthin abzuschieben, abschreckend auf gleichgesinnte deutsche Pläne wirkt.